Efeu - Die Kulturrundschau

Habitat der türkischen Wasserbüffel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2019. In der taz kommt Milo Rau der Attraktivität faschistischer Rhetorik in Italien auf die Spur. Exzellentes Komödienhandwerk bescheinigt die FAZ Taika Wahitis in Toronto gezeigter Nazi-Burleske "Jojo Rabbit". Die SZ bewundert im Lenbachhaus Senga Nengudis empörend abstrakte Kunst. Die NZZ gibt sich in Zürich eine volle Dröhnung Theater. Und im Tagesspiegel spricht Chimamanda Adichie über Wut. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.09.2019 finden Sie hier

Film

Hier fliegt gleich der Führer aus dem Fenster: Taika Wahitis "Jojo Rabbit"

In der FAZ berichtet Bert Rebhandl vom Filmfestival in Toronto, wo Taika Wahitis Nazi-Burleske "Jojo Rabbit" mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Der zumindest dem Trailer nach zu urteilen grell überdrehte Film markiert auch, dass sich in Sachen Darstellung der Nazizeit das Rad im Kino noch mal deutlich weiter gedreht hat: 2007 wurde Dani Levy für seine Komödie "Mein Führer" noch skeptisch beäugt, Wahiti hingegen "hat einen enormen Vorteil: Die englische Sprache und eine in diesem Fall brillante Schauspielerin wie Scarlett Johansson sorgen für einen Verfremdungseffekt, der durch exzellentes Komödienhandwerk zugleich verstärkt und entschärft wird. Perfekt besetzte Nebenrollen (...) und eine klug zugespitzte Dramaturgie zeugen davon, dass die Nazivergangenheit zumindest in der größten Unterhaltungsindustrie der Welt nicht mehr bewältigt werden muss, sondern zum Orientierungspunkt in einem sehr grundsätzlichen humanistischen Schema geworden ist: Schlecht ist, was einem kleinen Jungen die Sicht verstellt. Deswegen fliegt der Führer schließlich aus dem Fenster."

Weiteres: Tobias Kniebe meldet in der SZ, dass Artechock nach dem Bekanntwerden eines Kaffeeplauschs zwischen Hans Joachim Mendig mit dem AfD-Politiker Jörg Meuthen (hier und dort unsere Resümees) nunmehr eine Unterschriftenliste mit mehr als 150 Filmschaffenden zusammengetragen hat, die den Rücktritt des Chefs der hessischen Filmförderung forden. Mit einer Datenanalyse versuchen Carolin Ströbele und Elena Erdmann auf ZeitOnline herauszukriegen, ob das Angebot von Netflix im Zuge einer inflationären Produktion tatsächlich so schlecht geworden ist, wie viele den Eindruck haben.

Besprochen werden Albert Serras "Liberté" (Sissy Mag, mehr dazu bereits hier) und die Miniserie "The Loudest Voice" mit Russell Crowe und Naomi Watts (ZeitOnline),
Archiv: Film

Bühne

In der taz berichtet Regisseur Milo Rau wieder von den Arbeiten an seinem Jesus-Film, mit dem er zugleich eine "Rivolta della Dignità" lancieren möchte. Denn das Kapitel Matteo Salvini ist für ihn noch lange nicht ausgestanden: "Vergangene Woche erschien unser schwarzer Jesus auf der Titelseite der größten rechten Zeitung Italiens, die perverserweise La Verità heißt. Ein Bild zeigte ihn mit Dornenkrone, der erste Satz des Artikels lautete: 'Könnten Migranten tatsächlich über Wasser gehen, dann hätten wir ein echtes Problem.' Faschistische Rhetorik ist mit bürgerlichen Maßstäben nicht messbar. Sie ist immun gegen Argumente politischer oder ethischer Art, da 'in der analen Phase stecken geblieben', wie ein Analyst einmal sagte. Was gemäß Freud ein lustvoller Zustand ist. Oder mit Pasolini gesprochen: Es macht eben verdammt viel Spaß, Faschist zu sein."

Die "volle Dröhnung Theater" gab sich NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico im Zürcher Schauspielhaus zum Einstand des Intendantenduos Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg: "Nach fünf Tagen und acht Premieren hatte auch der Letzte kapiert; die Ästhetiken von Barbara Frey - und ihren Vorgängern - sind verstaut im Schubfach der Geschichte. Eine positive, sehr positive Bilanz ist das. Und doch stellt sich unterm Strich eine erhebliche Frage: Was bleibt den anderen Zürcher Bühnen zu tun?" Ein starkes Statement und berückende Bilder nimmt auch Nachtkritiker Andreas Klaeui mit.

Besprochen werden Oliver Frljics Inszenierung der "Anna Karenina" am Maxim-Gorki-Theater, die Tolstois Roman mit Dostojewskis "Armen Leute" verschneidet (FR, Nachtkritik), Stephan Kimmigs Inszenierung der Tschechowschen "Platonowa" (Nachtkritik), Karin Beiers Inszenierung von Schostakowitschs Oper "Die Nase" in Hamburg (SZ), Thorleifur Örn Arnarssons "Odyssee" an der Berliner Volksbühne (taz) und Liesbeth Coltofs Bühnenfassung von Lukas Rietzschels Erfolgsroman "Mit der Faust in die Welt schlagen" in Dresden (taz).
Archiv: Bühne

Kunst

Senga Nengudi: Performance Piece, 1977, Performerin: Maren Hassinger, Originalfotografie: Harmon Outlaw, Lenbachhaus

In der SZ feiert Catrin Lorch auch die Ausstellung der 1943 in Chicago geborenen Künstlerin Senga Nengudi im Münchner Lenbachhaus, deren avantgardistischen Skulpturen in früheren Jahrzehnten gar nicht gut ankamen, wie Lorch weiß: "Der Künstlerkollege David Hammons, mit dem sich Senga Nengudi viele Jahre ein Studio teilte, erinnerte sich daran, wie man die Werke als 'empörend abstrakt' empfunden habe. 'Niemand wollte mit ihr sprechen, weil wir alle politische Kunst machten. Sie ging nach New York, aber es wollte immer noch niemand etwas mit ihr zu tun haben, weil sie keine 'Schwarze Kunst' machte."

taz-Kritiker Ingo Arend kehrt etwas enttäuscht von der Istanbul Biennale zurück, die der Pariser Kurator und Palais-de-Tokyo-Mitbegründer Nicolas Bourriaud nach dem großen Plastikstrudel im Pazifik "The Seventh Continent" betitelt hat. Arend hat zwar viele gute, poetische oder bewegende Arbeiten gesehen, aber insgesamt zu wenig Dringlichkeit erlebt. Gerade von Bourriaud hätte er sich mehr Arbeiten gewünscht, die sich mit der Bauwut in Istanbul beschäftigen: "In seiner berühmten Schrift aus dem Jahr 1998 plädierte er für eine Kunst, der Aktionen solidarischen Miteinanders wichtiger sind als die Produktion immer neuer, ästhetischer Hardware. Trotz dieses Reinfalls gewinnt die Kunst am Bosporus. So offensiv und geballt war sie seit dem missglückten Putsch 2016 und Erdoğans nachfolgendem Feldzug gegen KünstlerInnen und Intellektuelle nicht mehr aufgetreten. "

In der SZ zeigt sich Till Briegleb gnädiger, aber auch er fände es an der Zeit, über den internationalen Kulturtourismus grundsätzlich nachzudenken: "Der türkische Künstler Ozan Atalan beschreibt in einem tieftraurigen Video-Diptychon, wie für den Bau des neuen Riesenflughafens von Istanbul, über den auch die Künstler wie die ausländischen Gäste dieser Biennale klimagiftig einfliegen (auch der Autor dieses Artikels), ein Habitat der türkischen Wasserbüffel vernichtet wurde."

Weiteres: Für die FAZ besucht Patrick Bahners die Martin-Parr-Schau im NRW-Forum Düsseldorf, die er eigentlich als "eine von Parrs Büro aus den bekanntesten Werkserien zusammengestellte Wanderausstellung" betrachtet.
Archiv: Kunst

Literatur

Im Tagesspiegel-Interview spricht die nigerianisch-amerikanische Autorin Chimamanda Adichie, die zum Literaturfestival in Berlin ist, über Sexismus, Rassismus und Literatur. Wut hält sie für eine tolle Sache - auch wenn sie nicht unbedingt die Argumentation schärft: "Es gibt ein Zitat von Nelson Mandela, das ich sehr mag: 'Wenn ich gedacht hätte, dass Wut etwas verändern könnte, dann wäre ich sehr wütend gewesen.' Mandela war natürlich extrem wütend. Für mich ist Wut motivierend. Wir sollten alle wütend sein. Ich sage jungen Menschen aber oft, dass sie ihre Wut richtig ausdrücken sollen. Sonst wird man nicht gehört."   

Weiteres: Die Literarische Welt hat Jan Küvelers spaßiges Porträt des Berliner Schriftstellers Norman Ohler online nachgereicht. Miriam Zeh berichtet auf ZeitOnline vom ULF-Literaturfestival in Nürnberg.

Besprochen werden unter anderem Edward Snowdens Autobiografie "Permanent Record" (Dlf Kultur), Ljudmila Petruschewskajas "Das Mädchen aus dem Hotel Metropol. Roman einer Kindheit" (NZZ), Daniel Kehlmanns "Der unsichtbare Drache. Ein Gespräch mit Heinrich Detering" (Literaturkritik.de), Nadine Schneiders "Drei Kilometer" (Freitag), Miku Sophie Kühmels "Kintsugi" (Freitag), Siri Hustvedts "Damals" (Titel Magazin), Ursula März' Romandebüt "Tante Martl" (Literaturkritik.de), Karin Nohrs "Kieloben" (Literaturkritik.de), R. O. Kwons "Die Brandstifter" (NZZ), Jackie Thomaes "Brüder" (SZ) und Ernst-Wilhelm Händlers "Das Geld spricht" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Design

View this post on Instagram

A post shared by Flavio Manzoni (@flaviomanzoni) on


Mit Luigi Colani ist ein Freund der Rundungen gestorben: Ecken und Kanten trieb der populäre Produktdesigner seinen Entwürfen gründlich aus - ganz egal, ob es sich dabei um Luxusautos, Kugelschreiber, Computermäuse oder Klos handelte. Nicht zuletzt ging hier auch ein grantiger Zeitgenosse von uns, schreibt Gerhard Matzig in der SZ, der bereitwillig einräumt, von Colani auch schon mal als "Depp" bezeichnet worden zu sein. "Sein Rat an die Welt, die bleibt: Hütet euch davor, die Welt in 'Margarine-Würfelform zu prügeln', das Universum ist rund. 'Es fliegt nicht ein einziger Koffer da oben herum, der eckig ist.'" Als Exzentriker würdigt Sabine von Fischer den Verstorbenen in der NZZ: Er mied Wiederholungen "und lag damit in Europa stets neben dem Zeitgeist." Haptik ging Colani über in Stein gemeißelte Designregeln, schreibt Niklas Maak in der FAZ: "Was den Designer prägte war sicherlich auch die Entwicklung des Werkstoffs Plastik: Der Kunststoff erlaubte es, die geschwungenen Formen der Natur nachzuahmen." Etwas emphatischer drückt es Frederic Schwilden in der Welt aus: "Bei Luigi Colani ist alles rund. Wie bei Tai-Chi, gutem Sex oder den richtigen Drogen gibt es bei Colani keinen Anfang und kein Ende, nur ein absolut amoralisches Ineinanderübergehen von Bewegungen und Bewusstsein. Colanis Designs sind Mindfucks. Die mürrischen Besser-Wisser-Designer und Architekten, die eine Welt in grau und weiß und in aufeinandertreffende gerade Linien unterteilen, sind der Feind von Colanis Ideen."
Archiv: Design

Musik

In der NZZ bereitet Adrian Schräder das Zürcher Publikum auf den heutigen Auftritt von Jeff Tweedy und Wilco vor. Nachrufe auf den Popmusiker Ric Ocasek schreiben Richard Kämmerlings (Welt) und Jan Wiele (FAZ).

Besprochen werden Haiytis Berliner Clubtour (taz), ein Konzert der Sleaford Mods (Presse), ein Auftritt von Amanda Palmer (FAZ), neue Klassikveröffentlichungen, darunter Daniil Trifonovs "Destination Rachmaninov" (SZ) und (Sandy) Alex Gs "House of Sugar" (Pitchfork). Daraus ein Video:

Archiv: Musik