Vom Nachttisch geräumt

Holzwege und negative Metaphysik

Von Arno Widmann
18.12.2017. Schicken den Betrachter von Paulus zu Merleau-Ponty: Die Holzschnitte von Christoph M. Loos.
Laien sind ahnungslos. Wir sehen uns die Produkte an und halten den Daumen hoch oder runter. "Gefällt mir", "gefällt mir nicht" - darauf laufen auch noch die umständlichsten oder auch schönsten Reden hinaus. Laien sind übrigens auch die meisten Kritiker. Wer weiß schon, wie eine Szene aufgebaut war, die er begeistert beschreibt? Wer stand alles drum herum? Wo stand die Kamera? Wo das Licht? Wurde dieses Bild gemalt oder lief ein Farbe abtropfender Behälter, von einem kleinen Motor betrieben, die Leinwand hinauf und hinunter? Dreimal, fünfmal oder zehnmal? Entstand diese Zeichnung in drei Minuten oder in sieben mal drei Minuten in einem Abstand über 30 Jahre hinweg? Wir kritisierenden Laien wissen das nicht nur nicht. Wir haben aus diesem Nichtwissen eine Tugend gemacht. Es gehe, sagen wir, nicht um die Produktion, sondern um das Produkt. Wir neigen zu der egozentrischen Ansicht, der Künstler habe die Aufgabe, Dinge hervorzubringen, die uns gefallen. Wir übersehen dabei die ja nicht minder große Egozentrik des Künstlers, die ihr höchstes Ziel womöglich nicht darin sieht, uns ein Plaisir zu sein. Obwohl unser Applaus, gar unser Geld sicher auch ein nicht zu unterschätzender Treibstoff für die Entfaltung des künstlerischen Ichs sein dürften, gehe ich doch davon aus, dass, um die Anstrengungen der Produktion zu bewältigen, diese selbst ein mindestens ebenso großer Antrieb sein müssen.

Wenn wir Laien einen Holzschnitt betrachten, dann betrachten wir, zumal wenn wir es nur in einem Katalog tun, nur ihn und wenden nur selten einen Gedanken an die Schabe- und Schnitzarbeit, mit der ein Stück Holz bearbeitet werden musste, damit sich Papierabzüge von seiner Oberfläche machen ließen. Dabei ist doch das die eigentliche Arbeit. Der 1959 in Bad Reichenhall geborene Künstler Christoph M. Loos weist auf diese Seltsamkeit hin. Bei seinen Holzschnitten ist der "Abzug" ebenfalls aus Holz und zwar aus demselben Stamm aus dem der "Druckstock" ist. Oft bilden die beiden zusammen das "Werk". An der Wand hängt der Abzug, und vor ihm liegt, oft noch einmal bearbeitet, der Druckstock. Der Besucher der Ausstellung "Parusia - Die Idee in den Dingen" in der Städtischen Galerie Iserlohn kann das noch bis zum 18. Januar 2018 tun.

Ich habe die Arbeiten Loos' noch nicht live gesehen. Vor mir liegen zwei schwere, prächtige Bände, die seine Werke zeigen und erklären. Warum ich sie mir anschaue, warum ich mich ein wenig in sie vertiefe, hat leider nichts damit zu tun, dass ich mich aus meinem Laienstatus, also dem des Konsumenten, befreit hätte, sondern damit, dass mich "Drucke" und "Skulpturen" gleichermaßen ansprechen. Ich mag sie, sie gefallen - wieder dieses dumme, hässliche Wort - mir. Sie sind immens dekorativ. Ich bin versucht, das als ihre wahre Qualität zu sehen. Dabei bemühen sich der Künstler und seine Interpreten mit aller Kraft, mir das auszureden.


Christoph M. Loos: Chiasma #7, Chiasma #8, Chiasma #7/#8, alle von 2004

Christoph M. Loos hat einen gewaltigen Band vorgelegt, seine Dissertation: "Eine (Wieder-)Erfindung des Holzschnitts in Resonanz mit Merleau-Pontys Chiasma". Loos beschreibt seine Installation Chiasma #7 #8 aus dem Jahre 2004, die sich als Triptychon versteht, folgendermaßen: "Auf den beiden großen Drucken sind in divergierender Figuration chiasmatische Strukturen erkennbar. Innerhalb einer räumlichen Installation hängen die beiden Drucke übereck nebeneinander. Den Drucken gegenüber steht der gedoppelte Druckstock, welcher mit den beiden Drucken ganz augenscheinlich über die schwarzen Druckstege der Gitterfigur korrespondiert. Die beiden schalenartig ausgehöhlen Druckstockhälften stehen mit einander zugewandten Außenseiten im Raum. Auf Grund der Höhe des Druckstocks von etwa 1,80m bleibt der Betrachtung die Analogie zum griechischen Buchstaben Chi verwehrt, es sei denn, eine räumliche Konstellation würde eine Draufsicht auf die Anordnung ermöglichen (z.B. durch eine Treppe oder Empore)." Mir gefällt an dieser Beschreibung, dass sie deutlich macht, dass zur Kunst das Zeigen so sehr gehört wie das Verstecken. Das Chi ist da, aber nicht zu sehen. Es soll seine Wirkung entfalten, ohne dass wir es bemerken. Aber schlagen wir Unwissende erst einmal nach bei Wikipedia:

"Der Chiasmus (latinisiert von gr. χιασμός chiasmós  'Überkreuzt'; von χίασμα chíasma 'Kreuzung' nach dem griechischen Buchstaben Χ, Chi; in der neugriechischen Terminologie το χιαστό) ist eine rhetorische Figur, bei der Satzglieder und Teilsätze (Subjekt, Prädikat, Objekt) meist nach dem Schema SPO-OPS kreuzweise entgegengesetzt in ansonsten parallelen (Teil-)Sätzen angeordnet werden." Wikipedia führt als Beispiele für diese Figuren an: "Die Welt ist groß, klein ist der Verstand" und Goethes "Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben." Vor allem aber diesen Passus des Briefes des Apostels Paulus an die Galater: "Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht."

Wenn wir uns dann noch vor Augen halten, dass X der Anfangsbuchstabe von Χριστός ist, dann bekomme ich eine Ahnung von der gewaltigen metaphysischen Aufladung dieser von mir so geschätzten Holzarbeiten. Mein Daumen-hoch-Urteil geschah in völliger Ahnungslosigkeit. Ich hatte, als sie mir einfach so gefielen, keine Ahnung von ihrer Machart, keinen Schimmer von der handwerklichen Arbeit, die sie hervorgebracht hatte. Ich wusste aber auch nichts von den sie bewegenden Ideen, von der Philosophie, von der Religion, der Gedankenwelt, die ihnen versteckt war. Nein, versteckt war sie nicht, jetzt, da ich sie kenne, erscheint sie manchmal als gar zu aufdringlich. Die Idee zum Beispiel, eine Treppe neben die Installation zu stellen, von deren Höhe aus man dann das X sehen könnte, erscheint mir als völlig abwegig, weil das Ganze zu einem gar zu dicken Wink mit dem Zaunpfahl verkäme. Es sei denn, fällt mir, während ich das hinschreibe, ein, man verstünde die (Holz)leiter als Bestandteil der Installation. Das beschleunigte die Metaphysik. Sie schlüge eine ironische Volte. Denn jetzt wäre klar, auch dieser Perspektivwechsel wäre nicht der letztmögliche.

Christoph M. Loos: Parusia - Die Idee in den Dingen, Werkbuch 2006-2016, Distanz Verlag, Englisch und Deutsch, Berlin 2017, 304 Seiten, 139 sw und farbige Abbildungen, 58 Euro

Christoph M. Loos: Eine (Wieder-)Erfindung des Holzschnitts in Resonanz mit Merleau-Pontys Chiasma, Englisch und Deutsch, Athena Verlag, Oberhausen 2017, 304 Seiten, 59 sw und farbige Abbildungen, 58 Euro