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Energy Healing in Bosnien: Igor Drljacas Doku "Kameni govornici - The Stone Speakers" (Forum)

Von Anja Seeliger
12.02.2019.


Bosnien-Herzegowina ist ein Land, das von Kriegen und anderen Katastrophen gezeichnet ist, den beiden Weltkriegen, dem Kommunismus, dem jugoslawischen Bürgerkrieg und jetzt einer freien Marktwirtschaft, die sich im internationalen Konkurrenzkampf nicht behaupten kann. Überall wurden Fabriken geschlossen und die Leute zogen weg. Einige Städte haben daraufhin Alleinstellungsmerkmale entwickelt, die irgendwie mit einer mächtigen Strömung in der Bevölkerung korrespondieren. Der bosnische Regisseur Igor Drljača stellt vier solche Städte in seinem Dokumentarfilm "The Stone Speakers" vor - alle im Südosten gelegen.

In Medjugorje war ein Priester, Pater Jozo, nach der Wende eifrig damit beschäftigt, bis dahin missbilligte Gebetsgruppen zu gründen. Es wirkte Wunder für den Zulauf, dass einige Kinder oben auf dem Berg über der Stadt eine Marienerscheinung hatten. Heute ist der Erscheinungsberg ein Wallfahrtsort, zu dem jedes Jahr Tausende Gläubige aus der ganzen Welt pilgern. Wir sehen sie in einer langen Schlange nachts den Berg hochziehen, dessen Spitze von einer riesigen weißen Marienstatue gekrönt ist. Drljača sagt in seiner Doku kein Wort, er stellt immer wieder einzelne Stadtbewohner vor die Kamera und lässt sie erzählen.

Einer hatte zu Beginn der Marienerscheinung einen alten Kassettenrekorder mit auf den Berg genommen, um Maria aufzunehmen. Nach drei Tagen waren Zehntausende da oben, erklärt er. "Die jungen Visionäre" konnten Maria sprechen hören, sie bewegten die Lippen, als sie antworteten, sagt er, "aber ich konnte nichts hören. Dabei war ich doch auch ein Kind und genauso gläubig." Die Enttäuschung ist ihm heute noch anzuhören.

"Dieser Teil der Herzegowina war sehr unterdrückt im Kommunismus", erzählt ein anderer. "Leute wurden eingesperrt und gefoltert. Der Kommunismus war das Böse. Die Leute hier sind überzeugt, dass die Jungfrau Maria den Fall des Kommunismus angestoßen hat. Aber es war eine friedliche Revolution, mit Gebeten." Es gab viel Ustascha hier in der Gegend, deshalb hielten die Kommunisten die Leute hier für ihren Feind, erklärt ein anderer. Elektrizität gebe es in Medjugorje erst seit 1953, fließend Wasser seit 1983. "Die Leute kochten vorher viel mit Wein. Es gab mehr Wein als Wasser hier oben."

Seit die Pilger in die Stadt strömen, gibt es neue Hotels, eine neue Kirche und einen Festivalplatz für das Jugendfestival. Große Gruppen strömen auf den Platz, ihre Landesfahnen schwingend. Selbst China und Kanada sind dabei. Bei den Einheimischen hat die Begeisterung für die Marienerscheinung etwas nachgelassen. Viele gehen gar nicht mehr in die Kirche. Wer profitiert auch schon von dem Boom? Vielleicht fühlen sie auch, dass ihr Glaube kommerzialisiert wurde.

Der magische Kreis in Visco


In Visco halten sie es nicht mit Gott, sondern mit der Energie. Hier wurden "Pyramiden" unter einem Berg entdeckt, mit energiespendenden Steinen. Auch hier strömen Touristen aus der ganzen Welt hin um zu meditieren und Hare Krishna zu singen. Unten im Berg wird auf Plakaten Energy Healing versprochen. Kostet natürlich alles. Doch schon das Atmen in den Stollen soll gesund sein, versichert ein Führer, der sich beschwert, dass die großen Religionen ihren Kult ignorieren.

Auch in Visegrad gibt es keine Industrie mehr. Dafür hat man die Brücke über die Drina, die durch den gleichnamigen Roman des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric berühmt wurde. Hier hat der Filmregisseur Emir Kusturica ein ganz neues Viertel bauen lassen - Andricgrad oder auch Kamengrad genannt. Kultur ist das Pfund mit dem man hier wuchert, und die Drina, die hier zu einem See gestaut wurde, auf dem laut trötende Schiffe zu Blaskapellmusik mit singenden Wochenendausflüglern tuckern. Im neuen Viertel gibt es eine Reminiszenz an jede große historische Epoche in Bosnien. Der Hauptplatz soll an die Renaissance erinnern, die Bosnien allerdings nie hatte. Der Platz ist Nicola Tesla gewidmet.

Blick über die Drina auf Andricgrad


Schließlich Tuzla, das nach dem Willen des Bürgermeisters die modernste Touristenstadt Europas werden soll. Der Anfang ist gemacht mit Salzseen, die in den Senken der stillgelegten alten Salzminen angelegt wurden. Hier tummeln sich bereits vergnügt die Badeurlauber. Aber das Herz der Stadt wird nicht vom Tourismus in Gang gehalten, sondern vom Antifaschismus, dessen man mit einer würdevollen Feier gedenkt. Tuzla ist die Stadt des Antifaschismus, sagt ein Redner. 1941 habe sich ganz Bosnien gegen Hitler erhoben, aber nur Tuzla habe diesem Ereignis ein Denkmal gewidmet.

Beim Antifaschismus ging es um das Gemeinsame, erklärt ein Mann. "Rasse, Religion, Herkunft waren unwichtig." Eine Frau beklagt den Niedergang der Dita-Fabrik, die sie und ihre Kinder jahrelang ernährt habe. Der Krieg sei schuld an ihrer Zerstörung: "Es war kein ethnischer Krieg, sondern ein Krieg gesteuert von Gier. Der Westen wollte den Sozialismus zerstören."

Zum Abschied blickt man noch einmal auf die badenden Menschen im Salzsee. Der Tourismus wird diese Region nicht retten, und die alten Jobs kommen auch nie wieder. Und so lassen sich die alten Geister der Religion und des Nationalismus nieder. Wie überall in Europa. In diesem Film kann man sehen, warum und wie das geschieht.

Anja Seeliger

Kameni govornici - The Stone Speakers. Regie:  Igor Drljača. Dokumentarfilm, Kanada / Bosnien und Herzegowina 2018, 92 Minuten (alle Vorführtermine).