Magazinrundschau

Er hat das Aussehen eines Kommunisten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
25.10.2022. Foreign Affairs hofft auf die Feministinnen in Mexiko, um mit der verheerenden Politik des Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador aufzuräumen. In HVG hofft der Ökonom Miklós Marschall auf die EU im Kampf gegen die Korruption in Ungarn. Die London Review sieht weit und breit niemanden, der sich nach Einverleibung der "Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter" gegen Xi Jinping stellen könnte. The Nation lernt, wie gut FBI und MI5 schon in den Fünfzigern miteinander konnten, wenn es gegen Linke ging. Quietus würdigt das amerikanische Nischenkino der 70er.

Foreign Affairs (USA), 01.11.2022

Nüchtern und streng, aber äußerst lesenswert erzählt die mexikanische Autorin und Politologin Denise Dresser, wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, die Demokratie seines Landes langsam, aber sicher an den Rand des Abgrunds führt. Sie zählt ihn neben Trump oder Orban zu den großen bösen Populisten dieser Welt, der zu Unrecht zu wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Liegt es daran, dass er sein Amt mit linken Parolen errang und verteidigt? In Wirklichkeit aber, so Dresser, führt er eine staatskapitalistisch oligarchische Politik, die die Institutionen untergräbt und die Korruption nährt. Überdies macht er das Militär, das er im Wahlkampf noch kritisierte, zu seinem starken Arm und überschüttet es mit Staatsaufträgen, die die Offiziere satt und loyal machen sollen. Sein Versagen zeigt sich in der Gewaltwelle, die das Land nieder drückt - ein Drittel sei von den Drogenkartellen beherrscht -, aber auch in seiner katastrophalen Corona-Politik: "Infolge seiner Maßnahmen, die er als 'republikanische Austerität' ausgab, hatte Mexiko während der Pandemie eine der höchsten Übersterblichkeitsraten der Welt zu verzeichnen - über 600.000 Mexikaner starben an Covid 19... Die Zahl der Armen ist seit 2019 um fast vier Millionen Menschen gestiegen. Im ersten Jahr der Pandemie gab es kaum Impfstoffe, die Krankenhäuser waren überlastet, mehr als eine Million Unternehmen mussten aufgeben, und die Auswanderung in die Vereinigten Staaten nahm stark zu. Heute haben weniger Mexikaner Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung als je zuvor in den letzten zwanzig Jahren, und das Bildungssystem liegt aufgrund von Sparpolitik und Missmanagement der Regierung in Trümmern. Eine von der School of Governance am Monterrey Institute of Technology durchgeführte Studie berichtet, dass seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 mehr als eine Million Kinder die Schule abgebrochen haben und ein historischer Rückgang der Einschulungszahlen zu verzeichnen ist." Die einzige Hoffnung sieht Dresser in den Feministinnen, die immer lauter gegen die Missstände - etwa die ungeheure Zahl an Femiziden im Land - protestieren.
Archiv: Foreign Affairs

HVG (Ungarn), 25.10.2022

Mit der Empfehlung von Transparency International bewarb sich der Ökonom und Korruptionsforscher Miklós Marschall für die Mitgliedschaft im Komitee, das die Besetzung der "Integrationsbehörde" zur Bekämpfung von Korruption begleiten und überwachen sollte. Die Aufstellung der neuen Behörde wird zusammen mit anderen Maßnahmen als Garant für die Auszahlung der zurückgehaltenen Mittel aus dem Wiederaufbaufond der EU gesehen. Marschall - dessen Bewerbung zurückgewiesen wurde - gibt sich im Gespräch mit Kristóf Ábel Tarnay dennoch verhalten optimistisch: "Während meiner Karriere arbeitete ich mit zahlreichen Antikorruptionsinstitutionen zusammen. Vorbedingung für ein erfolgreiches Wirken war stets, dass dahinter ein politischer Willen stand - und den gibt es hier, auch wenn er von außen erzwungen wurde. Weiterhin muss Korruption richtig definiert werden, wenn man dagegen auftreten will. Und hier können sich ernsthafte Probleme ergeben. Denn in Ungarn ist Korruption keine Devianz, sondern das System selbst. Hier macht nicht die Gelegenheit Diebe, sondern die Diebe erschaffen die Gelegenheiten. Es ist ein von oben erschaffenes System, das den Staat in Geiselhaft nahm, wo die politische Macht jene Rechtsverordnungen und Bedingungen kreiert, auf deren Grundlage "gesetzmäßig" öffentliche Mitteln in bedeutendem Ausmaß entwendet werden. Ich befürchte, dass die Behörde dafür ausgebildet wird, dass sie Abweichungen von der Regel untersucht. Fachlich ausgedrückt wird sie anstatt der 'grand corruption' der 'petty corruption' den Kampf ansagen. Wir sollen aber gutgläubig sein, jede Änderung beginnt mit kleinen Schritten."
Archiv: HVG

London Review of Books (UK), 20.10.2022

Alle chinesischen Parteimitglieder müssen bis Ende November in einem 50-stündigen Online-Lehrgang Xi Jinpings "Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter" gelernt haben, erzählt Long Ling. Leider kennt die Software bereits alle Tricks, mit denen man die acht Klarstellungen und vierzehn Imperative, darunter das vierfache Selbstvertrauen, abkürzen könnte, und meldet sie der Parteiführung. Aber nicht alle werden so kurz an der Leine geführt: "Von den Parteimitgliedern wird verlangt, dass sie die Reden von Xi lernen. Wir werden aufgefordert, sie 'in das Gehirn' (Rationalität und Logik) und 'in das Herz' (Emotion und Loyalität) aufzunehmen und dann 'das Begreifen mit dem Tun zu verbinden'. Die Parteiorganisation lässt sich immer neue Wege einfallen, um die Parteimitglieder zu ermutigen und zu zwingen, zu studieren, zu studieren und zu studieren und sie dabei zu überwachen. Eine kleine Anzahl von ausgewählten Parteimitgliedern allerdings studiert eine Zeit lang Vollzeit in speziellen Schulen. In diesem Jahr nahm die Zentrale Parteischule mehr als sechshundert von der Zentral- und der Provinzregierung ausgesuchte hochrangige Kader auf, um fünf Monate lang auf ihrem Campus in der nordwestlichen Ecke von Peking zu studieren. Einer meiner Bekannten nahm daran teil. Ich war überrascht, wie sehr er sich in fünf Monaten veränderte. Er isst jetzt dreimal am Tag gesunde Mahlzeiten, trinkt keinen Alkohol, geht früh zu Bett und treibt ständig Sport. In der Schule gab es sonst nicht viel zu tun. Er ging jeden Tag eine Stunde lang um einen künstlichen See mit glänzenden Koi-Karpfen und einer Insel mit schwarzen Schwänen. Er nahm fünf Kilogramm ab. Seine Erfahrungen sollen gängig sein. Bevor sie ihren Abschluss machen und den Campus verlassen dürfen, befragt die Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh die Kader, um herauszufinden, ob sie ihre Studienziele erreicht und Xi Jinping und der Partei gegenüber volle Loyalität bekundet haben. Ihre geistige Ernte ist noch nicht greifbar, aber sie wird es später werden, wenn sie auf der Parteileiter aufsteigen."

The Nation (USA), 07.11.2022

Amerikaner, die in der McCarthy-Ära als Linke ausspioniert wurden und nach Britannien flohen, kamen oft vom Regen in die Traufe. Denn das FBI reichte seine Dossiers direkt an MI5 weiter, der die darin enthaltenen Mutmaßungen übernahm und seine Opfer weiter überwachte - mit bemerkenswert wenig Erfolg, lernt der Historiker Richard J. Evans aus David Cautes Buch "Red List: MI5 and British Intellectuals in the Twentieth Century". "Der Sicherheitsdienst interessierte sich besonders für linke Historiker wie Christopher Hill ('Er hat das Aussehen eines Kommunisten', berichtete ein enttäuschter Agent in Harwich, nachdem Hill von einer Fähre ausgestiegen war, 'aber sein Gepäck, das vom HM Customs durchsucht wurde, enthielt keine subversive Literatur.') Hills Briefe wurden so ungeschickt abgefangen, dass er bei einer Gelegenheit bemerkte, dass eine in einem Brief erwähnte Anlage in einem Umschlag mit einem anderen Brief steckte. Später wurde er Master des Balliol College in Oxford, nachdem er zusammen mit mehreren anderen marxistischen Historikern aus der Kommunistischen Partei ausgetreten war - mit der bemerkenswerten Ausnahme von Eric Hobsbawm, dessen siebte und letzte Akte in der MI5-Sammlung noch immer nicht freigegeben wurde. Hobsbawm, dessen sechs weitere Akten ich bei der Recherche für meine Biografie 'Eric Hobsbawm: A Life in History' gelesen habe, stand ebenfalls unter Verdacht. Der MI5 verstärkte seine Überwachung und öffnete eine Zeit lang sogar seine Post, fand aber nichts Kompromittierenderes als Liebesbriefe von seiner verheirateten französischen Freundin in Paris. Der Sicherheitsdienst war besonders misstrauisch gegenüber Hobsbawm, weil er eher fremdländisch wirkte (seine Mutter war Österreicherin, und er unterhielt Kontakte zu Historikern auf dem Kontinent, auch in Ostdeutschland). Ein Agent, der eine seiner Vorlesungen mithörte, konnte nichts Belastendes finden, außer der Tatsache, dass sie 'wirklich interessant' war." Das war ungefähr zu der Zeit, als die Cambridge Five - alles Briten - ungestört ihr Land für die Sowjets ausspionierten.
Archiv: The Nation

Deník Referendum (Tschechien), 25.10.2022

In allen tschechischen Medien sind Nachrufe auf den dieser Tage verstorbenen Schauspieler Josef Somr zu lesen. Auch Alena Zemančíková würdigt den großen Künstler: "Sein Kernthema war der Mensch, der nach außen hin in allen Lebenslagen ruhig bleibt, innerlich aber drängende Zweifel und mal mehr, mal weniger Selbsthass empfindet." Populär wurde Somr in der Zeit der tschechoslowakischen Neuen Welle, etwa in der Rolle des Fahrdienstleisters Hubička in Jiří Menzels filmischer Hrabal-Adaption "Scharf beobachtete Züge" von 1966, wo Somr "einen vitalen metaphorischen Gegensatz zum tödlichen Naziterror bildete. Hubičkas Vorliebe für hübsche Schaffnerinnen und geheimnisvolle Passagierinnen ist der zivile Gegenpol zum Heldentum des Widerstands, den er ganz selbstverständlich ausübt." Auch die Kundera-Verfilmung "Žert" (Der Scherz, 1968) zeigte seine "Fähigkeit, auf zwei Bedeutungsebenen zugleich zu spielen" an der Figur des Ludvík, der sich an einem kommunistischen Funktionär für seine zerstörte Jugend rächen will, dann aber an seiner eigenen - misslungenen - Rache bitter wird (Filmausschnitt): "Milan Kundera beschreibt seine Figuren nicht äußerlich. Im literarischen Text machen wir uns durch ihr Verhalten und ihre Denkweise ein Bild im Kopf. Josef Somr hat dem Ludvík eine Gestalt gegeben, die sich auch bei wiederholtem Lesen des Romans über fünfzig Jahre hinweg nicht vergessen lässt", so Zemančíková. Als Theaterschauspieler erlebte Somr den freiheitlichen Aufschwung der Sechzigerjahre im legendären Prager Schauspielclub Činoherní klub, dann aber auch die langen Jahre der kommunistischen "Normalisierung", die eine ganze Auswahl "peinlicher Fernseh- und Kinofilme" vorsahen. "Josef Somr blieb davon nicht verschont, lieferte aber dank seiner Fähigkeit, die Doppeldeutigkeit menschlichen Tuns auszudrücken, einen Kommentar zu dieser Zeit, den wir am besten an seinen Augen ablesen können."

Und hier Jiří Menzels prachtvoller Fil "Scharf beobachtete Züge" von 1966 im Original mit englischen Untertiteln:

Quietus (UK), 23.10.2022

Das US-Kino der Siebziger: Scorsese, Spielberg, Coppola, Malick, Bogdanovich, Allen. New Hollywood: eine Erneuerung des Studiosystems aus dem Geist des Autorenfilms. Alles schön und gut, doch diese Monumentalisierung einzelner Filmemacher verzerrt den Blick auf die Weite und Fülle dieses auch in seinen Nischen aufregenden Kinojahrzehnts, finden Kelly Roberts, Michael Grasso and Richard McKenna, die deshalb mit We Are The Mutants nicht nur ein Online-Filmmagazin gegründet, sondern unter dem selben Titel auch eine Essaysammlung herausgegeben haben, in deren Beiträgen Filme, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, konstruktiv miteinander in Verbindung gebracht werden. Im Gespräch erklärt Kelly Roberts, warum er es ihn gereizt hat, Tobe Hoopers Splatterklassiker "Texas Chain Saw Massacre" mit Barbara Kopples Dokumentarfilm "Harlan County, USA" aus dem Jahr 1976 engzuführen: "Ich bin weißgott nicht der Erste, der 'Texas Chain Saw Massacre' als Allegorie auf die Gewalt des Kapitalismus deutet, aber ich denke, ihn neben 'Harlan County, USA', einen brillanten Dokumentarfilm über einen Kohlestreik und die tatsächliche Gewalt des Kapitalismus zu stellen, das ist ein ziemlich wuchtiges Statement. Beide Filme entstanden während der Energiekrise 1973 und beide handeln von Energie: Wie wir sie uns beschaffen, wie wir sie verschwenden und wen wir opfern, um ihren Fluß am Laufen zu halten. Die jungen Leute in 'Texas Chain Saw Massacre' sind Hippietypen, sie werden der kannibalischen Sawyer-Familie gegenüber gestellt, frühere Schlachthausarbeiter, die von 'effizienterer' moderner Technologie gedemütigt und ersetzt wurden. In 'Harlan County, USA', gedreht von der damals 27 Jahre alten Barbara Kopple, sind es die Minenarbeiter, die gedemütigt und entmenschlicht werden. Sie sind dazu gezwungen, unter miserablen Bedingungen zu leben und werden von der Firma ausgepresst. Tobe Hoopers Horror-Meilenstein zeigt das wild gewordene Proletariat dabei, wie es sich erhebt und die privilegierte Bourgeoisie - denn letzten Endes war die Gegenkultur genau das - buchstäblich schlachtet und verzehrt. In dem Moment jedoch, in dem in 'Harlan County, USA' ein gewalttätiger Aufstand unmittelbar bevor zu stehen scheint, entscheiden sich die Minenarbeiter für Solidarität, Familie und einen neuen Gewerkschaftsvertrag. In beiden Filmen ist es dieser Kampf zwischen den Generationen, der sich endlos wiederholt."

Und hier Barbara Kopples "Harlan County":

Archiv: Quietus