Vom Nachttisch geräumt

Matera war Kulturhauptstadt Europas 2019

Von Arno Widmann
22.01.2020. Ingrid Hölbl über die 40 bekanntesten archäologischen und historischen Stätten der Basilikata.
Fast fünfzig Jahre war ich nicht mehr dort. Aber eine Weile lebte ich in der Basilikata. Mein Sohn wurde in einem Krankenhaus in Matera geboren. Dort meldete ich ihn beim Standesamt an. Ich lebte damals mit meiner Frau, die ich ein Jahr zuvor in Metaponto kennen gelernt hatte, bei ihren Eltern in Bernalda. Dieser Ort kommt in dem großartigen Bildband und Reiseführer von Ingrid Hölbl nicht vor. Zu Recht. Denn in ihm geht es um "die 40 bekanntesten archäologischen und historischen Stätten der Basilikata". Bernalda hat heute 12 400 Einwohner und eine Reihe von Hotels. Eines ist ein Luxusetablissement, in dem eine Übernachtung 570 Euro kostet. Das "Castello", das heute im Internet als Sehenswürdigkeit des Ortes gerühmt wird, wurde damals von meinen Schwiegereltern bewohnt. Oben auf dem Dach wurde es im Dezember 1968 so warm, dass wir uns in den Mittagsstunden in die Sonne legten.

Matera im Januar 2017, San Pietro Caveoso im Zentrum mit Vorplatz, rechts oben Madonna de Idris, im Hinter-grund Murgia


Matera liegt auf einem Felsen und die Wohnungen wurden in die Felsen gebaut. Das gab es vielerorts in der Basilikata. Als ich dort war, sprach man davon, dass das Land dabei sei, aus seiner Armut herauszukommen. Der Tourismus! Metaponto war nicht nur der sogenannte Tempel des Pythagoras, sondern auch ein Lido, an dem ich vier, fünf Sommer verbrachte. Ein endloser Sandstrand, so kam es mir vor. Die Orte gab es oft gleich dreimal. Metaponto zum Beispiel gab es als Strand, als Ort und als Bahnhof. Ich weiß nicht, wie es heute dort aussieht. Damals war im Sommer der Strand die bevölkertste Ansiedlung. Vom Strand waren es auf dem Fahrrad nur ein paar Minuten zum "Tempel des Pythagoras", einem griechischen Tempel aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v.u.Z.. Ich war oft dort und träumte vom regen Handelsverkehr, aber mehr noch von den philosophischen Gesprächen, die hier geführt worden waren. Ich habe Nachmittage dort ganz allein verbracht. So wahnsinnig viele Touristen waren damals nicht dort. Es gab auch wenig Autos, und manchmal kam ein Bauer vorbei auf einem Maultier, und man konnte fantasieren, dass die letzten 2500 Jahre sich nichts geändert hatte. Ich mochte das.

Ich missbrauche das schöne Buch von Frau Hölbl für nostalgische Rückblicke in ein Leben, von dem ich kaum noch weiß, dass es einmal meines war. In Aliano aber war ich nie. Dabei hatte ich Carlo Levis "Christus kam nur bis Eboli" gelesen. Er schildert darin die harten Lebensbedingungen der Menschen in Aliano ("Gagliano"). Levi war dort ein halbes Jahr in der Verbannung gewesen. Ich las sein Buch damals nicht als die Schilderung eines bestimmten Ortes. Ich fand darin die Armut beschrieben, die ich überall in der kargen Landschaft des Südens sah. In den Dörfern zum Beispiel, die vom Himmel hinuntergefallen schienen und ihre Hügel weiter hinab zu rutschen drohten. Craco ist einer dieser Orte, der sich nicht festkrallen konnte in der Erde, der herabrutschte und heute, so lese ich bei  Ingrid Hölbl, nur noch als Filmkulisse taugt. Ich sollte endlich mal wieder hinfahren in die Basilikata.

Ingrid Hölbl: Die 40 bekanntesten archäologischen und historischen Stätten der Basilikata (Italien), Nümmerich-Asmus Verlag, Mainz 2019, 176 Seiten, 109 Abbildungen, 24,90 Euro.