Im Kino

Erdiger sei es

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Sebastian Markt
04.05.2022. In Apitchatpong Weerasethakuls "Memoria" begibt sich Tilda Swinton als Botanikerin auf die Suche nach einem Geräusch. Der Dschungel ist in seinem tropischen Traumkino diesmal kolumbianisch. Der iranische Regisseur Majid Majidi fügt mit "Sun Children" dem Weltkino der Kindheit ein weiteres Werk hinzu: Am Ende wird der Schatz gelüftet.
Der thailändische Regisseur Apitchatpong Weerasethakul hat sich noch nie für die Logik der Wirklichkeit interessiert und noch weniger für die Logiken eines filmischen Erzählens, das eine Geschichte clever in Pointen taktet. Sein tropisches Traumkino führt uns ins Zwischenreich von Erinnerung und Erfahrung, Transzendenz und Realität, Körper und Geist. In seinen großen, immer wieder in Cannes ausgezeichneten Filmen werden Verstand und Reflexion zugunsten sinnlicher Eindrücke ausgeschaltet. In "Tropical Malady" erliegt ein unglücklich verliebter Soldat dem Bann eines Schamanen, der sich in einen Tiger verwandelt: kämpfen oder sich ergeben? In "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" kehren die Toten zu den Lebenden zurück, in "Cemetery of Splendor" saugen verstorbenen Könige die Energie aus schlafenden Soldaten. Die Geräusche und Farben des Dschungels hypnotisieren in diesen Meisterwerken ebenso wie die sanften Stimmen, die zarten Gesten oder das ruhige Gesicht von Jenjira Pongpas, die mit ihrem verschleppten Gang den Filmen ihren Rhythmus vorgab. Bei Weerasethakul ist alles Wahrnehmung, nichts Erzählung.

Sein neuer Film "Memoria" spielt in Kolumbien, nicht in Thailand, in der Hauptrolle Tilda Swinton. Er ist dadurch nicht unbedingt zugänglicher als seine Vorläufer, die visuelle Sinnlichkeit ist auf ein Minimum reduziert, die Kamera unbewegt. Der Film folgt, Einstellung für Einstellung, einzig und allein einem schwer zu deutenden Geräusch. Ein Aufprall vielleicht, ein Schlag oder ein gedämpfter Schuss.

Tilda Swinton spielt eine britische Botanikerin, Jessica Hauser, die ihre kranke Schwester in Bogotá besucht. Sie ist von Trauer und Einsamkeit umschlossen, man könnte auch sagen, sie verschwindet darin. Eines Morgens erwacht Jessica von diesem unerklärlichen Geräusch, das außer ihr niemand wahrzunehmen scheint. In einem Tonstudio hilft ihr der Techniker Hernán, das Mysterium zu ergründen: "Ist dein Klang ein Lied?", fragt er sie. Nein, ein Geräusch - wie eine Betonkugel, die auf Metall fällt, umgeben von Wasser. Wie groß ist die Kugel? Sie schrumpft. Während Hernán an seinem digitalen Mischpult das Archiv der Soundeffekte durchstöbert, Regler hochschiebt, Bässe verstärkt und Frequenzen beschneidet, versucht Jessica, Worte zu finden für das Geräusch. Erdiger sei es. Mit einem metallischen Echo. Eher ein Rumpeln aus dem tiefsten Inneren.

Die Poesie dieser Szene ist frappierend. Jessica und Hernán sitzen nahezu unbewegt in diesem kargen Tonstudio mit nackten Wänden. Ruhig und konzentriert. Keine Geste, kein Blick verbindet sie, doch gemeinsam kommen sie Jessicas Klang näher. Einmal noch wird Jessica diesem Hernán begegnen. Er spielt in einer Band, "The Depth of Delusion Ensemble", und hat Jessicas Geräusch in einen Song eingebaut. Berührt lauscht sie über Kopfhörer dem Lied, von dem wir nichts mitbekommen. Als sie ihn ein zweites Mal in dem Tonstudio aufsuchen möchte, kennt man dort keinen Hernán.

Weerasethakul reiht eine ganze Serie von Traumbilder aneinander, unerklärliche Passagen und rätselhafte Begegnungen. Sie scheinen spröder, verkopfter als in seinen vorherigen Filmen. Es wird englisch gesprochen, spanisch und französisch, nichts übersetzt sich: Jessica besucht ihre Schwester in einem Krankenhaus, die glaubt von einem verletzten Hund verflucht zu sein, dem sie nicht geholfen und von dem sie gerade geträumt hat. Als sie wieder gesund ist, glaubt sie, vom Fluch eines noch nicht kontaktierten Volkes im kolumbianischen Dschungel getroffen worden zu sein. Eine Ärztin sträubt sich, Jessica zur Entspannung Xanax zu verschreiben, weil das zum Verlust der Empathie führt: Man kann nicht mehr die Schönheit der Welt empfinden und auch nicht ihre Traurigkeit.

Loch im Kopf: Szenenbild aus "Memoria"



Eine französische Archäologin zeigt Jessica sechstausend Jahre alte Ausgrabungsfunde, darunter menschliche Überreste. In den Schädel eines jungen Mädchens ist ein Loch gebohrt. Vermutlich ein Ritual, um böse Geister zu vertreiben. Jessica freundet sich mit dieser Archäologin an, die, von Jeanne Balibar gespielt, uns genau so wenig nahe kommt wie Tilda Swinton. Selbst als Jessica ihr ein "Gedicht der schlaflosen Nacht" vorträgt, bleibt die Kamera auf Distanz zu diesen beiden großen Schaupielerinnen, als sollten uns auch ihre Gesichter nichts erzählen dürfen.

Jessica folgt der Archäologin zu der Ausgrabungsstätte, die bei Tunnelarbeiten in der Nähe von Medellín entdeckt wurde. Diese Fahrt nach Medellín erscheint wie eine Befreiung. Raus aus den schmucklosen Innenräumen, aus der Sprach- und Bewegungslosigkeit. In der Berglandschaft von Medellín begegnet Jessica einem weiteren, älteren Hernán, gespielt von Elkin Diaz. Ist es derselbe? Eine andere Traumgestalt? Ihr gestorbener Mann? Er sitzt inmitten tropischer Vegetation am Ufer eines kleinen Flusses und putzt frisch gefangenen Fische. Alles um ihn herum plätschert, zirpt und brüllt. Die Felsen und die Bäume absorbieren Schwingungen, erklärt Hernán die sinnliche Fülle. Er selbst hat sein Dorf noch nie verlassen, denn er erinnert sich an alles und vergisst nichts. Er möchte so wenig wie möglich erleben. "Erfahrungen sind schädlich", sagt er, "sie entfachen Wirbel im Gedächtnis". Vielleicht sind es seine Erinnerungen, die Jessica zu schaffen machen. Bei Hernán kommt Jessica zu Ruhe, hier verbinden sich Traum und Wirklichkeit, Sehnsucht und Erinnerung. Vielleicht ist es sein Geräusch, das sie hört. Ist es nicht doch ein Schlag oder ein fallender Körper? Klingt so der Tod? Nein, verheißt uns Apitchatpong Weerasethakul am überraschenden Schluss: So rumpelig, erdig und rund klingt der Start in ein anderes Leben.

Thekla Dannenberg

"Memoria" - Kolumbien, Thailand, Frankreich 2021 - Regie: Apichatpong Weerasethakul - Darsteller: Tilda Swinton, Agnes Brekke, Daniel Giménez Cacho, Jerónimo Barón, Juan Pablo Urrego, Jeanne Balibar - Laufzeit: 136 Minuten.

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Majid Majidis jüngster, im Wettbewerb von Venedig uraufgeführter Film "Sun Children" setzt im atemlosen Montage-Tempo eines Thrillers ein, der er (auch) ist: Der zwölfjährige Ali (Rouhollah Zamani, der in Venedig den Marcello Mastroianni Award für den besten jungen Schauspieler erhielt), sein mit seiner Familie aus Afghanistan geflüchteter Freund Abofazl (Abofazl Shirzad) und andere Jungen werden beim Autoteile-Klauen in der Parkgarage einer gehobenen Shopping Mall in Teheran von einem Wachmann entdeckt. Die fußläufige Verfolgungsjagd führt aus der neongrellen Tiefgarage hinauf in die Verkaufsflächen, zum Sonnenlicht. Am Ende der Szene schwenkt die ehrfürchtig Kamera aus dem weitläufig luxuriösen Rolltreppenhaus des Einkaufszentrum zum Himmel hin in das gläserne Lichtdach, der Schnitt setzt das Bild in eins mit dem vogelperspektivischen Blick auf einen Brunnen, in dem die vier Jungs planschend spielen. Es wird, später im Film, wenn die Koordinaten des Sozialdramas vollständig ausgebreitet sind, eine spiegelbildliche Antwort auf diese Einstellung geben, die den betonierten Innenhof eines ärmlich engen Wohnblocks einfängt, in dem Abofazl mit seiner Familie wohnt. Oben und Unten werden ein zentrales Ordnungsprinzip des Films bleiben, in mehr Hinsichten als einer.

Ali und seine Freunde sind eine kleine Bande, deren Vaterlosigkeit eine Szene betont, in der die vier vor einer schulischen Autorität Auskunft über die Berufe ihre Väter geben sollen: Tod, Gefängnis, Drogensucht lauten die einsilbigen Antworten. In die Schule gehen die sich mit Arbeiten unterschiedlicher Illegalität verdingenden Jungen erst, als der alte Gauner, der so etwas wie Alis Chef ist, einen besonderen Auftrag für ihn hat: Er und seine Freunde sollen sich in eine jenseits des staatlichen Systems organisierten Schule für (männliche) Kinder von der Straße einschreiben. Nicht in erster Hinsicht um zu lernen, sondern um im Keller einen Tunnel zu suchen und freizulegen, der in einen anderen Tunnel unter dem benachbarten Friedhof führen soll, in dem angeblich ein Schatz begraben liegt.

"Sun Children". Szenenbild.



Die (teil-)titelgebende, nach der Sonne benannte Schule, und die Grabungen unter Tage stiften die beiden erzählerischen Niveaus des Films: zum einen das oberirdische Sozialdrama, in dem einem engagierten Lehrer eine besondere Rolle zukommt, und das Abenteuer der Schatzsuche drunten. Während die Jungen in der Erde nach ihren Hoffnungen und Träumen graben, wartet oben ein allzu diesseitiger Alltag: Die in Köpfe und Körper eingegangenen Reaktionsweisen, die sie das Überleben auf der Straße gelehrt hat, fordern eine Institution heraus, die sich ihnen gleichzeitig, obwohl zunächst als schlichter Vorwand anvisiert, auch als eine Chance offenbart. Dazu kommt, dass die Schule, die auf Spenden angewiesen ist, in Schwierigkeiten steckt, weil das Geld zu knapp ist und der Vermieter ungnädig, und der Rektor neben der Wohltätigkeit auch noch andere, eigene Motive zu haben scheint. Alis Freunde wiederum bleiben, angesichts der Möglichkeiten die sich in der Schule, etwa angesichts des fußballerischen Talents eines der Jungen, auftun, nicht alle zur bedingungslosen Gefolgschaft in der Ausführung ihres Auftrags bereit.

Kleine Momente der Freiheit sind von ihren Grenzen her erfahrbar: die Andeutung einer zärtlichen Romanze zwischen Ali und Abofazls älterer Schwester, die in der geschlechtlich segregierten U-Bahn Krimskrams verkauft, bezeichnet, wofür die Welt, die die Kinder bewohnen, keinen Platz vorgesehen hat. Alis kleines, großes Glück, als ihm der Boss als Lohn für erste Erfolge gestattet, die Tauben aus den Verschlägen auf dem Dach in den Himmel steigen zu lassen, ist ein Sehnsuchtsbild nach einem Ausbruch, der nur symbolisch greifbar bleibt. Auch dafür hat der Film Gegenbilder: einmal registriert die Kamera in bedeutungsvoller Aufzählung die Sammlung an Waffen und waffentauglichen Gegenständen, die in der Schule konfisziert worden sind, und als Dingspur von den Regeln eines Lebens erzählt, vor der die Institution die Kinder zu bewahren sucht.

Kindheit ist ein schillerndes Sujet des Kinos: als nostalgisches Refugium, als Resonanzraum der Fantasie, als alternative Perspektive auf das Sosein der Welt, das die Regeln, denen sich zu fügen Erwachsenwerden bedeutet, in Frage stellt oder bestätigt. Majidi, dessen "Die Kinder des Himmels" (1997) und "Die Farben des Paradieses" (1999) zu den zeitgenössischen Klassikern eines Weltkinos der Kindheit zählen, ist ein Meister ihrer perspektivischen filmischen Aneignung. Am Ende werden die Stränge des Films kulminieren, wird sich herausstellen, welche Welt die Oberhand behält, und das Geheimnis des Schatzes wird gelüftet. Darin agiert der Film, dem eine Widmung an die 152 Millionen Kinder, die weltweit zur Arbeit gezwungen werden, vorangestellt ist, die Ambivalenz eines spezifischen politischen (Kinder)-Kinos aus: Die gesellschaftlichen Zwänge und die Gewalt, deren Regime über das Territorium der Kindheit der Film eloquent beklagt, finden ein Echo in einer Erzählung, in der die Notwendigkeiten einer Botschaft über das Terrain der Imagination regieren.

Sebastian Markt

"Sun Children" - Iran 2020 - OT: Khorshid - Regie: Majid Majidi - Darsteller: Ali Nassirian, Javad Ezati, Tannaz Tabatabaei, Roohollah Zamani, Mahammad Mahdi Mousavifar, Shamila Shirzad - Laufzeit: 99 Minuten.