Bücherbrief

Wie eine Welle

08.02.2013. In diesem Monat begleiten wir einen galizischen Rabenforscher, stürzen Haile Selassie, bewundern die russische Décadence, spazieren angespannt durch den Jardin du Luxembourg und träumen den Traum Baudelaires. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Februar.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Herbst 2012 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2012 und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Marjana Gaponenko
Wer ist Martha
Roman
Suhrkamp Verlag 2012, 238 Seiten, 19,95 Euro

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Für "Wer ist Martha" hat die junge, in Odessa geborene und in Mainz lebende Marjana Gaponenko gerade den Chamisso-Preis gewonnen. Sie erzählt darin von einem alten galizischen Rabenforscher, Luka Lewaldski, der am Ende seines Lebens zu einem letzten Streich anhebt. Und wie die junge Autorin das tut, hat die Rezensenten umgeworfen: In der FAZ sang Beate Tröger geradezu eine Hymne auf diesen opulenten Roman, den sie tiefgründig und überschwänglich, nüchtern und tragikomisch zugleich findet. In der NZZ zeigt sich Angelika Overath geradezu überwältigt von der sprachlichen Pracht und versichert, dass Gaponenko nicht nur "Pomp und Pauken" beherrscht, sondern auch das "Sfumato der Zärtlichkeit".

Maaza Mengiste
Unter den Augen des Löwen
Roman
Wunderhorn Verlag 2012, 315 Seiten, 24,80 Euro



Äthiopien ist noch ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte. Die 1971 in Addis Abeba geborene und heute in den USA lebende Autorin Maaza Mengiste erzählt in ihrem Roman von einer Familie, die in den siebziger Jahren in die revolutionären Wirren um den Sturz Haile Selassies gerät. In den Feuilletons wurde Mengistes Buch bisher nur in der FAZ besprochen, Sabine Berking lobte "Unter den Augen des Löwen" als beeindruckende Erzählung von Macht, Revolution und Unrecht. Der Guardian empfahl die englische Originalausgabe als wichtige Lektion in Sachen Revolution: so viele Menschen starben in einem Horror-System, das sie selbst miterschaffen hatten.

Sait Faik Abasiyanik
Geschichten aus Istanbul
Erzählungen
Manesse Verlag 2012, 384 Seiten, 22,95 Euro



Bald zwanzig Jahre ist es her, dass zuletzt Erzählungen und Romane Sait Faik Abasiyaniks auf Deutsch erschienen. "Die wunderbaren Geschichten des türkischen Erzählers Sait Faik haben keinen Anfang und kein Ende", schrieb damals der große Karl-Markus Gauß in der Zeit: "Irgendwo mengen sie sich in das unaufhörliche städtische Treiben Istanbuls, spitzen bei diesem Gassengespräch die Ohren, blicken scharf in jene Männerrunde im Café, um dann einem zufällig vorbeikommenden Liebespaar ein paar Sätze und Häuser lang zu folgen und es schließlich allein weiterziehen zu lassen." Nun legt Manesse die Erzählungen Sait Faiks in der Übersetzung Gerhard Meiers vor, und die Kritiker überschlagen sich von neuem. Sait Faik, der 1954 im Alter von 48 Jahren den Trinkertod starb, ist einer der Begründer der modernen Literatur der Türkei, schreibt der Dichter Nico Bleutge in der SZ und schildert, wie sich Sait Faik der Stadt von den Rändern her nähert - viele Episoden spielen in Vororten oder auf den Prinzeninseln. Auch FAZ-Rezensentin Astrid Kaminski feiert den Autor, der seinerseits die Vielfalt Istanbuls wieder aufleben lasse und allein schon dadurch politisch wirke, dass er ausgrenzendem Nationalismus eine Absage erteile.

Vladimir Jabotinsky
Die Fünf
Roman
Die Andere Bibliothek 2012, 350 Seiten, 36 Euro



Nach 76 Jahren erscheint der Roman "Die Fünf" des bedeutenden Hebraisten und Zionisten Vladimir Jabotinsky in deutscher Übersetzung. In seinem Gesellschaftsroman über den Untergang des bürgerlich-jüdischen Odessa lädt der Autor am Vorabend der russischen Revolution zu einem Streifzug durch eine noch intakte, sinnliche Welt, wie Mathias Schnitzler in der FR angeregt schildert. Jens Bisky würdigt das Buch in der SZ als außergewöhnliches Dokument über die "Unzuverlässigkeit des Zeitgefühls, der Meinungen und der Erinnerungen". In der Welt preist Hannes Stein die Qualitäten dieses "wunderbaren, witzigen, todtraurigen, stellenweise auch weisen Romans", und auch Christiane Pöhlmann findet in der FAZ diesen Abgesang auf die Décadence "meisterlich".

Amitav Ghosh
Der rauchblaue Fluss
Roman
Karl Blessing Verlag 2012, 720 Seiten, 24,99 Euro



"Der rauchblaue Fluss" ist der mittlere Teil einer Trilogie über Opiumhandel, Kolonialismus und eine Schicksalsgemeinschaft auf dem Sklavenschiff Ibis. Martin Kämpchen zeigt sich in der FAZ fasziniert von Amitav Ghoshs Gabe, die Eingemeindung der Sklaven in Mauritius und den Opiumhandel in Bombay in einer Geschichte derart lustvoll und detailreich zu verzahnen, den Blick des Anthropologen auf gesellschaftliche Zusammenhänge und Konstellationen mit der Fantasie des Schriftstellers gekonnt in Einklang zu bringen. In der FR bekennt Sabine Vogel allerdings, sich "in der Elegie dieses in Sprachbildern ausgepinselten Genre-Gemäldes" doch ein wenig verloren zu haben. Hier eine

Joris-Karl Huysmans
Monsieur Bougran in Pension
Friedenauer Presse 2012, 32 Seiten, 9,50 Euro



FAZ-Kritiker Andreas Platthaus ist höchst bezaubert von diesem posthum veröffentlichten Werk, das die Geschichte eines unfreiwilligen Frühpensionärs erzählt, der seine aufgezwungene Freiheit durch den exakten Nachbau seines ehemaligen Büros und das Verfassen eines bürokratischen Briefwechsels über imaginäre Fälle zu vertreiben versucht. Platthaus fühlt sich an Proust und an Canetti, noch mehr aber an Gogol erinnert, mit dem Huysmans die Kunst der "Psychologisierung des Absurden" teile. Ausführlich hat auch Tilman Krause in der Welt über die virtuose Erzählung geschrieben, die erst jetzt auf Deutsch erscheint: Ihm bleibt ein Spaziergang Bougrans im Jardin du Luxembourg in Erinnerung, bei dem ihm der Park plötzlich als Pflanzenfolterkeller erscheint: "Es überkommt also selbst diesen kapitalen Bourgeois so etwas wie eine Ahnung des eigenen Verformtseins."


Sachbuch

Roberto Calasso
Der Traum Baudelaires
Carl Hanser Verlag 2012, 496 Seiten, 34,90 Euro



Von gemäigter bis unbändiger Begeisterung reichen die Reaktionen, die "Der Traum Baudelaires" bei den Kritikern ausgelöst hat. Die Studie des gelehrten italienischen Essayisten Roberto Calasso ist eine einzigartige Mischung aus Biografie, Roman, literaturgeschichtlicher Abhandlung und kulturgeschichtlichem Essay, rühmt hingerissen der Romanist Karlheinz Stierle in der NZZ. Auch Volker Breidecker in der SZ und Ina Hartwig in der Zeit äußern sich angetan, und Tobias Schwartz zeigt sich in der Welt beeindruckt vom Fachwissen und Scharfsinn des Autors, der "den Leser wie eine Welle mitzureißen vermag".

Pola Kinski
Kindermund
Insel Verlag 2012, 267 Seiten, 19,95 Euro



Kaum ein Buch hat in diesem Winter mehr Aufsehen erregt als "Kindermund", Pola Kinskis Erinnerung an den Missbrauch durch ihren Vater Klaus. Willi Winklers Einschätzung in der SZ, dass die Autorin mit ihrer Schilderung "einen Voyeurismus bedient", rief empörten Widerspruch der anderen Rezensenten hervor: Als "perfide, ja ungeheuerlich" geißelt Christian Füller in der taz Winklers Ausführungen, während Verena Lueken in der FAZ die Wichtigkeit dieses in "einer bilderreichen, teilweise bestürzend drastischen Sprache" geschriebenen Buches hervorhebt. Und Daniel Kothenschulte attestiert dem Buch in der FR, es sei "von literarischem Rang".

Hanna Rosin
Das Ende der Männer
Und der Aufstieg der Frauen
Berlin Verlag 2012, 352 Seiten, 19,99 Euro

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Bereits vor der neu aufgeflammten Debatte über Sexismus in der Politik war das Buch der israelisch-amerikanischen Journalistin Hanna Rosin in aller Munde. Wie Simone Schmollack in der taz wiegelten die meisten Rezensentinnen ab und erklärten, dass es sich hier nicht um eine "feministische Kampfschrift" handele, sondern um eine sachliche Betrachtung gesellschaftlicher Veränderungen. In der Zeit entwickelte Susanne Mayer Gefallen an Rosins Vision einer gleichberechtigten Ehe mit fluide alternierenden Karrierephasen. In einem Interview mit der Welt stellte Rosin klar, dass sie den Aufstieg der strebsamen und umsichtigen Frauen nicht idealisieren möchte: "Ich versuche, gegenzusteuern, indem ich meiner Tochter zeige, dass Rebellion wichtig ist." Allein in der FAZ nahm Ralf Bönt, Autor des Männermanifest "Das entehrte Geschlecht", den Fehdehandschuh auf und schlug Rosins Buch einem Diskurs zu, "in dem Interessen indirekt formuliert werden und Wahrheiten gar nicht mehr".

Osteuropa

Witold Lutoslawski
Ein Leben in der Musik
Berliner Wissenschaftsverlag (BWV) 2012, 160 Seiten, 22 Euro

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Mit einem ganzen Heft würdigt die Zeitschrift Osteuropa den polnischen Komponisten Witold Lutosławski, dessen musikalische Entwicklung ebenso turbulent verlief wie sein Lebensweg im extremen 20. Jahrhundert. In Analysen und Essays widmen sich Musiker, Komponisten und Schriftsteller wie Wojciech Kurczok oder Anne-Sophie Mutter Lutosławskis einflussreichem Werk, aber auch generell der Moderne in Polen und besonders seinen Kollegen Henryk Górecki und Krzysztof Penderecki. In der SZ empfiehlt Wolfgang Schreiber dieses Heft vorbehaltlos: So wie Wagner und Verdi der deutschen und italienischen Kultur ihren Stempel aufgedrückt hätten, so wichtig sei Lutosławski für das Polen des zwanzigsten Jahrhundert.

Wolfgang Müller
Subkultur Westberlin 1979-1989
Philo Fine Arts 2013, 600 Seiten, 24 Euro



Wolfgang Müller hat mit "Subkultur Westberlin" das wahrscheinlich beste Berlin-Buch der vergangenen Jahre geschrieben, findet Jens Bisky in der SZ. In zwei Teilen knöpft er sich die Nischen der gespaltenen Stadt vor, erst mit assoziativen Notizen und Gedanken, dann berichtend-erzählend. Es ist eine große Verteidigung des Lebensstils geworden, der den Alltag für viele junge Menschen bestimmt hat: etwas planlos umherflanieren, in irgendeiner Wohnung landen, dann in die wieder (oder noch) geöffneten Clubs ziehen, schlafen, manchmal Zuhause, manchmal anderswo, fasst Bisky zusammen. Es ist ein Lobgesang auf jene Berliner Bohème, die die Selbstverwirklichung immer noch ein bisschen aufschiebt, und die vom Fremdenverkehrsverein bis heute als kreativ verkauft wird. Und das rührendste ist, dass auch Wolfgang Müler diesem Slogan aufsitzt: "Also wenn dieser ökonomische Verwertungsdruck nicht übermächtig ist", sagt er im interview mit Deutschlandradio Kultur, "dann können überhaupt Ideen sich entfalten, Ideen entstehen, also der Untertitel meines Buches 'Freiraum, Freizeit'". Natürlich nur im Westteil der Stadt!