Im Kino

Die orange Aura

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Sebastian Markt
09.05.2019. Richard Billinghams Film "Ray & Liz" erzählt auf drei Zeitebenen von der Familie des Künstlers und löst dabei auf, was man ein Schicksal nennen könnte, in Texturen von Wohnungseinrichtung und gealterter Haut. Spannung und ordentlich Krawumms liefert die Verfilmung von Liu Cixins Sci-Fi-Roman "Die wandernde Erde" ausreichend, und auch die Zitatlage stimmt. Nur etwas mehr Revolte gegen die Einheitsregierung hätte man sich gewünscht.
Richard Billingham, Untitled (NRAL 13), 1996. Saatchi-Gallery


Der Blick auf tatsächliche gelebte Leben, auf die Verhältnisse und Existenzen einer Welt, die der Film nicht erschafft, sondern abbildet und kommentiert, ist ein zentrales Ausdrucksmittel des sozialrealistischen Kinos und der Kern, um den herum es seine divergierenden Politiken entwirft. Die Authentizitätsspur, die sich durch das Werk Richard Billinghams zieht, zumindest durch jenen Komplex, dem er seine größte Bekanntheit verdankt, ist eine autobiografisch verbürgte. Als Kunststudent fotografierte Billingham Mitte der neunziger Jahre seine Eltern Raymond und Elizabeth und seinen jüngeren Bruder Jason. Die Fotografien, die ursprünglich als Vorstudien für Gemälde gedacht waren, wurden 1996 in dem Band "Ray's a Laugh" veröffentlicht, waren Teil einer epochemachenden Ausstellung in der Londoner Royal Academy of Arts und trugen zu Billinghams Nominierung für den Turner Preis 2001 bei.

Die Bilder aus "Ray's a Laugh" sind Dokumente eines Arbeiter*innerlebens in Birmingham nach den Umbrüchen der Thatcher-Ära. Bilder des arbeitslosen, alkoholkranken Vaters und seiner tätowierten, puzzlevernarrten Mutter, in ihrer Wohnung. Momentaufnahmen, in denen der Lauf der Dinge eingefroren ist, zum Porträt oder zum Schnappschuss, der betrunkene Vater mitten im Sturz aus dem Sessel.

Einige Jahre später entstand "Fishtank", eine 45-minütige dokumentarische Videoarbeit für die BBC (hier ein Ausschnitt), die in oft in extremen Close-Ups gedrehten, zittrigen Camcorderaufnahmen das emotionale und dingliche Territorium eines beschädigten Lebens kartiert, in einer Logik, die keiner Narration folgt und die das, was man ein Schicksal nennen könnte, auflöst in Texturen von Wohnungseinrichtung und gealterter Haut, gelallten Konversationen und den Bewegungsabläufen im engen Raum einer Sozialwohnung.
 
Szene aus Richard Billinghams Film "Ray & Liz"


Billinghams Eltern sind mittlerweile beide verstorben, der Spielfilm "RAY & LIZ" erzählt nun in drei ineinander verschachtelten Zeitebenen von dieser Familie. Episoden, die jeweils einen engen Zeitraum beschreiben und von denen die am nächsten in die Gegenwart heranreichende als Rahmen der beiden älteren fungiert. Dieser Rahmen zeigt den Vater, dessen Universum auf ein einziges Zimmer zusammengeschrumpft ist, in einem Dauerdämmerzustand zwischen Schlaf und Betrunkenheit, losgelöst von den Rhythmen von Tag und Nacht und der äußeren Welt, die kaum vernehmbar durch das kleine Fenster in den Raum dringt. Die Verwaltung seiner bürgerlichen Existenz, Notstandshilfe abholen, Rechnungen zahlen, hat ein Nachbar übernommen, der ihn auch mit in Plastikflaschen abgefülltem selbstgebrauten Ale versorgt. Einmal kommt Liz zu Besuch und lässt sich von Richard die paar Pfund geben, die nach Bezahlung der Rechnungen noch übrig sind. Die beiden anderen Episoden reichen in Richards Kindheit und Jugend zurück, beschränken sich dabei weitgehend ebenfalls auf Innenräume: eine frühere Wohnung, die die Familie mit einem Untermieter bewohnte, und die Wohnung, in der sich der Vater später alleine zu Tode trinken wird.

Der Film lässt sich nicht ohne weiteres in ein hierarchisches Verhältnis zu den vorherigen dokumentarischen Arbeiten Billinghams bringen. Weder baut er seine Vignetten um die ikonischen Ausschnitte der Fotografien herum, noch nutzt er das Potenzial seiner Fiktionalisierungen, um die Lücken zwischen ihnen zu füllen oder einen mikro- beziehungsweise makrohistorischen Zusammenhang herzustellen. Billingham inszeniert die Episoden als Erinnerungsbilder, die in großer Sorgfalt die Texturen einer vergangenen, zeitlich und räumlich genau verorteten Existenz nachempfinden. Das ornamentale Zusammenspiel der tätowierten Arme von Liz und den kleinteiligen Puzzles, denen sie sich mit Leidenschaft widmet, die orange Aura, in die das elektrische Kaminfeuer Rays Zimmer taucht, das eingelegte Gemüse, das sich Jason hungerleidend zwischen zwei ungetoastet Weißbrotscheiben packt, die Heavy-Metal-Bandlogos die Liz ihrem Untermieter auf die Jacke aufnäht.

Bilder von enormer Drastik stehen neben Miniaturen, die in der abgenutzten Familiarität eine Verbundenheit aufscheinen lassen, die daran erinnern, was man zusammen mal vom Leben wollte. Rays behinderter Bruder liegt, zum Babysitten beauftragt und vom Untermieter in den Rausch gelockt, halb besinnungslos auf der Couch, kotzt das eben verzehrte Schweinekotelett aus, worüber sich umgehend der Hund hermacht, während der vielleicht zweijährige Bruder mit dem Tranchiermesser spielt. Wenn Ray Liz eine schmuddelige Teetasse reicht, tut er das nicht, ohne vorher den Henkel in ihre Richtung zu drehen. Auf analogem Filmmaterial gedreht und in 4:3 kadriert, dabei geschickt detailversessene Großaufnahmen und die Enge der Verhältnisse modellierende Totalen in eine Beziehung setzend, erscheinen die einzelnen Erzählungen weniger wie Geschichten als in Zeit und Raum geschlagene Erzählskulpturen.

Wenn es einen Faden gibt, der die erzählerischen Elemente verbindet, ist es das Auseinanderfallen eines familiären Zusammenhangs, verstärkt durch Jasons unbemerktes nächtliches Fortbleiben aus der elterlichen Wohnung. Er übernachtet im Garten eines Schulfreundes, und nachdem ihn dessen Mutter morgens entdeckt, kommt er in Berührung mit einer intakten Häuslichkeit. Billinghams ästhetischer Zugriff unterläuft dabei aber immer wieder die emotionalen Wirkungen, die die Schilderung einer vermeintlich kaputten Existenz auslösen können und lässt so große Diskursobjekte wie Würde(losigkeit), Empörung oder Mitleid an der konkreten Sinnlichkeit fiktionalisierter Lebensfragmente zerschellen. "RAY & LIZ" öffnet einen Raum, in dem das Elend anderer zu betrachten eine ästhetische Erfahrung ist, zu der man sich verhalten muss. Der Film liefert einem nicht die Moral dazu.

Sebastian Markt

RAY & LIZ - GB 2018 - Regie: Richard Billingham - Darsteller: Justin Salinger, Ella Smith, Tony Way, Patrick Romer, Richard Ashton - Laufzeit: 108 Minuten.

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In nahezu jedem Science-Fiction-Blockbuster, in dem es ums große Ganze geht, gibt es diesen einen Moment, in dem der Held (seltener die Heldin) gegen die Autorität rebelliert, gegen die Wissenschaft, Regierung, Militär oder wen auch immer alles auf eine Karte setzt, das Schicksal in die eigenen Hände nimmt und eine Entscheidung durchzieht, von der alle abraten würden, nur um am Ende gegen alle Wahrscheinlichkeiten das Richtige getan zu haben. Auch in "Die wandernde Erde", einer (äußerst losen) Adaption der gleichnamigen Kurzgeschichte des chinesischen SF-Superstars Liu Cixin und der erste chinesische SF-Blockbuster nach westlicher Größenordnung, gibt es so einen Moment, in dem binnen Sekunden ein irrwitziger Plan im Helden reift, mit dem das große Ganze - gerade droht die Erde und damit die menschliche Zivilisation unrettbar mit dem Jupiter zu kollidieren - doch noch zu retten sein könnte, ein Plan von einer Tragweite, der das weitere Schicksal der Menschheit endgültig besiegelt. Natürlich legt die vereinheitlichte Weltregierung (deren Amtssprache im übrigen Französisch ist, so great scheint Amerika aus den Trumpjahren in dieser Zukunftsspekulation nicht hervorgegangen zu sein) ein glasklares Veto ein - nur um sich, nach kurzer Sendepause, zurückzumelden: Die Kalkulation habe zwar ergeben, dass der Plan völlig aussichtslos sei, doch habe man sich als Weltregierung für das Prinzip Hoffnung entschieden: Der Held möge in seinem Tun mit dem Segen der Regierung fortfahren.

Eine kleine, aber entscheidende Differenz: Kein hemdsärmeliger Hyperindividualist des westlichen Kinos rettet hier die Welt kraft seiner eigenen Hartnäckigkeit, die die gängige Befehlshierarchie außer Kraft setzt, sondern der Plan- und Regelverstoß wird schlussendlich abgesegnet und eingemeindet in den Handlungsapparat einer übergeordneten Instanz. Willkommen im chinesischen Blockbuster - Xi Jinping gefällt das.

Aber Moment mal: Was hat unser kleiner Heimatplanet überhaupt am Firmament des Sonnensystem-Giganten verloren, der da gerade per Gravitation unsere Atmosphäre rüsselt und sich darüber hinaus die ganze Erde einzuverleiben droht? Kurz gesagt: Die Sonne geht in Rente, wird sich daher in absehbarer Zeit erheblich aufblähen, im Zuge die inneren Planeten verdampfen und schließlich kollabieren. Höchste Eisenbahn also für die Menschheit zu neuen Gestaden aufzubrechen - etwa nach Proxima Centauri, mit überschaubaren 4,2 Lichtjahren Entfernung kosmologisch gesehen unser Etagennachbar, zu dem man nach menschlichen Maßstäben allerdings dennoch ein paar tausend Jahre unterwegs ist. Kurzerhand die Erde also mit zehntausend gigantischen Schubantrieben auffrisiert, die Städte ins Erdinnere verlegt (eine Erde ohne Rotation ist klimatechnisch nicht eben freundlich) und auf, raus aus dem vertrauten Orbit um die Sonne: Die Erde als Generationenschiff, die vereinten globalen Kräfte einer vereinheitlichen Weltregierung machen es möglich. Wie gesagt: Xi Jinping gefällt das.

Am Jupiter allerdings, den man sich eingedenk Arthur C. Clarkes als Gravitationsschleuder zunutze machen will, geht die Sache einigermaßen schief: Höllisch glühend wacht das berühmte rote Auge des Gasplaneten am Himmel der Erde, während sich die Gravitation von ihrer hässlichsten Seite zeigt und die Rochegrenze, hinter die es für die Erde kein Zurück mehr gibt, bedrohlich nahe rückt. Während auf der Erde kataklysmisches Chaos ausbricht, erwählt das Schicksal eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe, die Sache doch noch zum Besseren zu wenden - mit etwas Hilfe von der Raumstation Endurance, auf der sich passenderweise noch der Vater des Helden befindet.



Für China ist "Die Wandernde Erde" ein erhebliches (und an den heimischen Kinokassen extrem erfolgreiches) Prestigeprojekt, mit dem sich die Volksrepublik im logistisch und finanziell ambitioniertesten Segment der Filmproduktion als international ebenbürtig positionieren will. Blockbuster sollen künftig nicht mehr nur von den USA mit Rücksicht auf den chinesischen Markt produziert werden, sondern gleich vor Ort aus eigener Hand entstehen und dann in die Welt verkauft werden: Wohl auch deshalb sind die nationalistischen Töne im Vergleich zu anderen chinesischen Erfolgsfilmen der letzten Jahren ziemlich abgedämpft - sieht man davon ab, dass, wie eingangs skizziert, die beiläufige Verabschiedung demokratisch-pluralistischer Diskurskultur zugunsten einer zwangsläufig zentralistisch geführten Weltregierung und einem globalen Projekt, in dem der Einzelne für den Dienst am großen Ganzen eingespannt ist, deutlich näher am chinesischen Gesellschaftsmodell liegt als am westlichen.

Was man von dieser Sorte Film mit Fug und Recht erwarten darf - ausgereizte Spannungsdramaturgie, ordentlich Krawumms, Effektespektakel, hier und da ein bisschen zotiger Humor wie seekrankes In-den-Helm-Gegöbel -, liefert "Die wandernde Erde" mehr als nur passabel: Das macht alles viel Spaß und sieht über weite Strecken gut aus. Auch die Zitatlage stimmt: An "Armageddon" denkt man ebenso wie an "2001: Odysse im Weltraum" (das Computersystem MOSS der Raumstation wirkt wie HAL 9000s großer Bruder, manche Szenen sind inhaltlich quasi nachgestellt), auch einige ikonische Momente aus "Gravity" hat man sich einverleibt. Rein als athletische Leistungsschau betrachtet, kommt der chinesische SF-Blockbuster zwar an die große Konkurrenz noch nicht ganz heran (zumal eine Verstetigung der Produktion noch nicht abzusehen ist), aber aus dem Stand einen mehr als nur soliden zweiten Platz erreicht zu haben, ist mehr als nur beachtlich.

Ein bisschen schade nur, dass man dafür die reizvolle Vorlage weitgehend geopfert hat - die stammt immerhin von Liu Cixin, dem prominentesten Botschafter chinesischer Science-Fiction, empfohlen gleichermaßen von Mark Zuckerberg, Barack Obama und Dietmar Dath, hierzulande zurecht lange auf der Spiegel-Bestseller-Liste und von manchem durchaus plausibel als Arthur C. Clarkes Nachfolger im SF-Pantheon apostrophiert; auch wenn man dazu sagen muss, dass die jetzt im Westen entdeckten Erzählungen und Romane allesamt schon etliche Jahre auf dem Buckel haben und der Autor selbst sich seit geraumer Zeit von der Gegenwart so sehr überfordert sieht, dass er kaum noch etwas zu Papier bringt, was dem bis zum Ende nimmermüden Clarke nie passiert wäre.

Gegenüber der Vorlage (deren schönster Clou der ist, dass im dort geschilderten Szenario auch Erinnerungen vererbt werden, womit das über Jahrhunderte erzählende literarische Ich kein diskretes Subjekt mehr ist, sondern ein sich über viele Personen erstreckendes Erinnerungskontinuum) ist die Umsetzung bei allem Wumms in ihrer Fokusverschiebung doch deutlich langweiliger, da generischer: Während die Erzählung nicht zuletzt eine melancholische Hommage an den Tat- und Schaffenswillen der Menschheit im Angesicht buchstäblicher All-Verlorenheit darstellt (inklusive einer blutigen Revolte gegen das Regime, wovon der vom Wohlwollen der chinesischen Regierung deutlich abhängigere Film nichts wissen will) und auch der Jupiter zwar erhaben am Himmel prangt, seine Funktion als Gravitationsschleuder aber brav nach Kalkulation erfüllt, beschränkt sich die Verfilmung dieser Menschheits-Odyssee vor allem auf Spektakelathlethik digitaler Manufaktur mit Durchhaltepathos. Hält man sich vor Augen, dass die Geschichte einer Menschheit, die sich im All einen neuen Ort sucht, von Kim Stanley Robinsons großartigem Roman "Aurora" bis zu Christopher Nolans schönem Film "Interstellar" in der westlichen Populärkultur derzeit durchaus Konjunktur als Gegenstand intellektueller Reflexion hat, dann erscheint die muskelspielende Verfilmung von "Die wandernde Erde" mit einem Mal doch wieder als ziemlich vorgestrig.

Thomas Groh

The Wandering Earth - China 2019 - OT: Liu lang di qiu - Regie: Frant Gwo - Darsteller: Wu Jing, Qu Chuxiao, Li Guangjie, Ng Man-Tat - Laufzeit: 125 Minuten.