Vom Nachttisch geräumt

Erquickt, belehrt und gesalbt

Von Arno Widmann
23.10.2017. Eignet sich ausgezeichnet als Technik zur Selbsterhöhung: Der Arche Literatur- kalender 2018.
Es ist ganz ungerecht, auf diesen einen Literaturkalender für 2018 hinzuweisen. Schließlich gibt es wahrscheinlich mehr als ein Dutzend. Ich habe die nicht alle gesehen und nach sorgfältigem Abwägen des Für und Wider mich für diesen entschieden. Ich habe einfach den genommen, und er gefällt mir. Das Schema ist: ein Foto eines Autors, einer Autorin, dazu ein Zitat. Oben drüber eine Leiste, die die aufzählt, die in dieser Woche - es ist ein Wochenkalender - geboren wurden oder starben. Irgendwann in den letzten paar hundert Jahren.

Eines der schönsten Fotos des Kalenders ziert die Woche vom 4. bis zum 10. Juni. Henry Miller als Fahrradfahrer. Er ist abgestiegen und raucht eine Zigarette. Die Hosenbeine sind, wie es sich für einen ordentlichen Radfahrer gehört, zusammengebunden, dafür hat das Rad keine Beleuchtung. Das missbillige ich sehr. Aber vor allem bin ich neidisch darauf, wie schlank der alte Mann ist, wie verdammt gut er aussieht. Dabei ist er um einiges älter als ich. Radfahren sollte man!

Der Text dazu ist kurz und, das stimmt einen traurig, im Imperfekt: "Wenn ich Rad fuhr, wurde ich erquickt, belehrt und gesalbt. Vive le vélo! C'est un ami de l'homme, comme le cheval." Am 7. Juni 1980 starb Henry Miller im Alter von 88 Jahren. Auch Hölderlin und Georg Sand, E.M. Forster und Jorge Semprún starben am 7. Juni. Orhan Pamuk wurde am 7. Juni 1952 und Elizabeth Bowen am 7. Juni 1899 geboren. Nichtsnutzige Informationen? Richtig. Aber, wer seinen Geburtstag anschaut, der wird beobachten, wie bedeutungsvoll ihm die kalendarischen Nachbarn werden. Wir sind anfälliger, als wir denken, für Techniken der Selbsterhöhung.

Am 18. August 1912 wurde Elsa Morante in Rom geboren. Mit ihrem Roman "La Storia" gelang ihr 1974 ein Weltbestseller, mit dem sie ihren Ex-Ehemann Alberto Moravia womöglich noch übertrumpfte. In Italien wurde das Buch heftig attackiert, weil es keinen klaren Klassenstandpunkt - so redete man damals - vertrat. Elsa Morante starb am 25. November 1985. Im Kalender gibt es eine verschwommene s/w Fotografie, ein "undatierter Schnappschuss", der sie mit Pier Paolo Pasolini, einem ihrer engsten Freunde zeigt. Ihr Text entstammt einem Brief vom 1. Oktober 1960 aus New York: "Dies ist nicht eine Stadt, sondern die Stadt, das Universum, das Firmament, der Bauch der Erde. Es würde Dir gefallen! Millionen von Angelsachsen, Italienern, Spaniern, Chinesen, Schwarzen, Puerto-Ricanern, die auf den Straßen herumlaufen. Und jeder richtet das Wort an Dich, als kenne er Dich schon immer. Sie fragen, wie Du heißt, und reden sich dann sofort mit Vornamen an. Und rundherum Gebäude wie riesige Felsen, und Autos wie Sternschnuppen."

Die Völkervielfalt als Verheißung! Ich lese das gerne. Derzeit wird ja so getan, als sei sie nichts als eine Schreckgestalt, ein Barbareneinfall, der uns zerstört. Dass Erdbewohner aus allen Ecken der Welt an einer Stelle zusammenkommen, dass man in einer Stadt die ganze Sippschaft der Family of Man besichtigen kann, war und ist die Stärke dieser Orte. Ob sie nichts als Probleme daraus machen oder ob es ihnen gelingt, die Potentiale zu nutzen, das liegt an ihnen.

Arche Literatur Kalender 2018, Arche Kalender Verlag, Hamburg, Zürich 2017, 60 Blätter, 22 Euro.
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