Efeu - Die Kulturrundschau

Genussvoll mit Freiheitsfantasien

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11.05.2017. Auf Kinematheken.info fordert der Filmemacher Helmut Herbst Open Access und eine Öffnung der Filmarchive, damit das Filmerbe gerettet werden kann. In der Zeit erklärt der katholische Gründungsdirektor der Luther-Stätten Stefan Rhein, wie man Luther wieder zum Leben erweckt. Die FAZ warnt vor Big Data in Hollywood. Der Standard feiert das Comeback von Soullegende Don Bryant.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2017 finden Sie hier

Musik



Romuald Karmakars Dokumentarfilm "Denk ich an Deutschland in der Nacht" handelt keineswegs von Heinrich Heine, sondern zieht mitten hinein ins Nachtleben der hiesigen House-Clubs. Fantastisch finden das die Popkritiker: "Famos" lautet denn auch Julian Webers Urteil. Besonders hoch rechnet der taz-Popredakteur dem Regisseur die sensible Tongestaltung an, die im Fall von beatlastigen Musikdokumentationen hinsichtlich der Montage eine große Herausforderung darstellt. "Karmakar löst dieses Problem mit dem Ohr eines Toningenieurs. Er unterlegt die Bilder mit einem akustischen Spektrum aus unterschiedlichen Perspektiven: aus der Position der fünf DJs und Produzenten, direkt vom Mischpult, so wie sie ihre Tracks via Monitor und im Kopfhörer wahrnehmen - als reiner Sound. Mal mit Atmosphäre, mitten von der Tanzfläche aus aufgenommen und mit den akustischen Reaktionen der Tanzenden versehen - als schmutziger Sound, mal aus der Ferne, außen vor dem Club - mit Grillenzirpen als mumpfiger Sound."

Christian Meyer-Pröbstl kommt auf ZeitOnline auch auf das Nähe/Distanzverhältnis zu sprechen, das der Film zu seinem Gegenstand unterhält: Er "imitiert weniger die Clubnacht, als dass er sie analysierend umkreist. Distanz ist das oberste Gebot dieser Analyse. Kein Erzähltext, kaum eine Interviewfrage, nicht mal die Namen der Protagonisten oder Clubs werden eingeblendet. Es geht schlicht um das, was im Club passiert. Hier entfaltet der Film seine Stärke."

Das Comeback von Soullegende Don Bryant ist aber sowas von geglückt, schwärmt Karl Fluch im Standard. Die Stimme des 75-jährigen Sängers, der mit "Don't Give Up" tatsächlich erst sein zweites Album vorlegt, habe "mit den Jahren deutlich gewonnen. Von Gebrechlichkeit keine Spur, fühlt er sich in jedem Song wohl, wirkt, als ließe er los, was er all die Jahre zurückgehalten hat. Die Produktion ist klassisch. Kein Schnickschnack, kein modischer Scheiß. Nur das Notwendigste, das aber mit 110 Prozent, ohne dass es anstrengend wirken würde. 'Don't Give Up On Love' ist ein Meisterwerk - ein 'gottverdammtes' verkneift man sich nur aus Respekt vor dem Glauben seines Schöpfers." Hier überzeugen wir uns selbst davon:



Weiteres: Anlässlich neuer Platten von Christiane Rösinger und Tilman Rossmy befasst sich Klaus Walter in der NZZ mit dem Altern im Pop. Jutta Sommerbauer stimmt in der Presse auf den Eurovision Song Contest in Kiew ein.

Besprochen werden ein Konzert des Ensembles Modern und des Arditti-Quartetts (FR) und das neue Album von Blondie (Pitchfork).
Archiv: Musik

Literatur

Die Spitzenkandidaten der NRW-Wahl haben wohl schon länger kein Buch mehr gelesen, amüsiert sich Mladen Gladic im Freitag nach einem Blick auf deren Lieblingsbücher.

Besprochen werden Eva Menasses Erzählungsband "Tiere für Fortgeschrittene" (Tagesspiegel), Peter Wawerzineks "Bin ein Schreiberling" (Tagesspiegel), Heinz Strunks Frankfurter Lesung aus seinem neuen Roman "Jürgen" (FR), neue Walter-Benjamin-Veröffentlichungen (Freitag) und Olga Grjasnowas "Gott ist nicht schüchtern" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

In einem auf Kinematheken.info dokumentierten Vortrag ärgert sich der Filmemacher Helmut Herbst über die mangelnde technische Kompetenz im Zusammenhang der Filmerbe-Debatte. Viel verspricht er sich zum Beispiel von neuen, günstigen Filmscannern, die angesichts verfallender Kopien entsprechenden Zeitdrucks eine Lösung bieten könnten, um binnen kurzer Zeit möglichst viele Filme in einem ersten, rasanten Medientransfer zu retten. Dafür aber müssten sich die Archive öffnen: "Die eigentliche Sichtung und Klassifizierung (...) könnte dann zeitversetzt an die Spezialisten unter den Filmhistorikern weitergegeben und auf verschiedene Teams an unterschiedlichen Orten verteilt werden. Dieser Vorschlag würde die Rettung des Filmerbes mit der Schaffung eines breiten Zugangs eröffnen, einem Open Access zu mit öffentlichen Mitteln produziertem Wissen, wie er von der UNESCO schon länger gefordert wird. Die Sicherung und Restaurierung würde sich in dieser ersten Phase auf akut vom Zerfall bedrohte Filme beschränken. Um ein effektives Gemeinschaftsprojekt zur Rettung des Filmerbes zu schaffen, muss die monopolartige Vorherrschaft des Closed-Circle-Systems der Filmarchive aufgegeben werden."

Bislang zierte sich Hollywood noch etwas vor dem Einsatz von Big Data für die Stoffentwicklung, erfahren wir aus einem Hintergrundbericht von Felix Simon für die FAZ. Doch das ändert sich gerade: Datenanalysten können nämlich inzwischen anhand von Twitter- und Wikipedia-Auswertungen die Hit-Chancen eines Stoffs vorab zu berechnen. Das hat Folgen: "Je früher abschätzbar ist, welche Filme zünden und welche vermutlich als Rohrkrepierer enden werden, desto eher kann man die sicheren Gewinner zusätzlich bewerben oder denjenigen Filmen unter die Arme greifen, die noch etwas Anschubhilfe benötigen. Zweifelsohne ist natürlich auch das Gegenteil möglich. Im Falle des 2015 erschienen Hackerdramas 'Blackhat' strich Legendary Entertainment kurzerhand das Marketingbudget zusammen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Film ein Schuss in den Ofen sein würde."

Weiteres: Helmut Merker verweist in der taz auf das heute in Berlin beginnende Symposium "Das Ufa-Imperium 1933 bis 1945". Daniel Kothenschulte berichtet in der FR vom Trickfilmfestival in Stuttgart, wo Bruno Bozzetto mit einer Retrospektive geehrt wurde (hier dazu ein Interview mit Bozzettoo in den Stuttgarter Nachrichten). Auf Eskalierende Träume berichtet Sven Safarow vom Wiesbadener goEast-Filmfestival, wo Produzentenlegende Artur Brauner aus dem Nähkästchen plauderte. Fabian Tietke empfiehlt in der taz eine Berliner Reihe mit Filmen, die Nazi-Deutschland einst für das besetzte Frankreich produzieren ließ. Für die SZ besucht Philipp Bovermann die Münchner Tricktechnik-Firma Trixter, deren Dienste auch für die Marvel-Superheldenfilme in Anspruch genommen werden.

Besprochen werden Asaph Polonskys Komödie "Ein Tag wie kein anderer" (taz), Mike Mills "20th Century Women" (NZZ), der neue Godzilla-Film "Shin Gojira" von Hideaki Anno (SZ), Guy Ritchies "King Arthur"-Actionfilm (Standard, taz, FAZ, SZ), die neue Hulu-Serie "The Handmaiden's Tale" (Tagesanzeiger) und Bouli Lanners' "Das Ende ist erst der Anfang" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Andrea Schurian wandert für den Standard durch die Hauptausstellung der Biennale in Venedig. Adrian Searle besucht für den Guardian den australischen Pavillon, für den erstmals eine indigene australische Künstlerin verantwortlich ist, Tracey Moffatt. Ziemlich enttäuscht ist Almuth Spiegler (Presse) vom österreichischen Pavillon, der von Erwin Wurm und Brigitte Kowanz bespielt wird: "Im Vergleich mit vielen anderen Pavillons dieser Biennale wirken die beiden österreichischen Positionen wie pionierhafte Veteranen einer längst geschlagenen Schlacht." Brigitte Werneburg grübelt in der taz über Anne Imhofs skulpturale Setzung "Faust" im Deutschen Pavillon. Und Ingo Arend liest zwei englische Bücher, die sich mit der neuen Kritik an der "Biennalisierung der Kunst" auseinandersetzen. Claudia Wahjudi stellt im Tagesspiegel die neue Direktorin der Berliner Ifa-Galerie vor, Alya Sebti.

Besprochen wird die große Rodin-Ausstellung zum 100. Todestag des Künstlers im Pariser Grand Palais (Tagesspiegel),
Archiv: Kunst

Bühne


"Orgie" in Wien. Foto: © Marcel Köhler

"Erschreckend plastisch" findet nachtkritiker Martin Thomas Pesl Ingrid Langs Inszenierung von Pasolinis "Orgie" am Wiener Hamakom-Theater: "Ingrid Lang konterkariert die schwülstige Lyrik des Textes durch satten Realismus. Die detailverliebte Wohnung, deren Wände sich bis hinter die Zuschauertribüne ziehen (Bühne: Peter Laher), verortet den zeitlosen Horror in bürgerlichem Wohlstand. Er schneidet sich im Bad die Zehennägel, während sie über ihre Bettlektüre hinweg mit ihm über Krieg, Frieden und Körperliches parliert. Dann wieder bricht Lang elegant den sorgsam kreierten Realismus, wenn die Maskenbildnerin der geschundenen Frau seelenruhig blaue Flecken aufträgt oder ein Video Momente von Gewalt, Schmerz und Lust zeigt." (Im Standard ist Michael Wurmitzer nicht ganz so überzeugt.)

Die Kuratoren der Wiener Festwochen Nadine Jessen und Johannes Maile wollen Performance und Museum miteinander verbinden und auch gleich noch den Postcolonial Studies zu ihrem Recht verhelfen, erklären beide im Interview mit dem Standard. Zum Beispiel bei "Hamamness", einem Projekt der "Akademie des Verlernens" in ihrem Performeum: "Da hat man wie in einem echten Hamam Wärme, eine gewisse Grundfeuchtigkeit und Körperbehandlungen, das aber kombiniert mit Diskurs und Performance, die überall lauern können. Während du eingeseift wirst, kann schon ein Intellektueller auf dem heißen Stein sitzen und sprechen."

Leicht deprimiert von einem Auftritt Claus Peymanns vor dem HAU und den ganzen alten Theaterrecken in Berlin notiert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Es ist nicht schön, wenn man mit ansehen muss, wie herausragende Künstler sich selbst demontieren. Teile der alten Volksbühne tun das bei jeder Gelegenheit, gern unterstützt von dem allerdings noch jungen Kultursenator Klaus Lederer. Das Vergangene verschattet das Theatertreffen 2017. Das Kommende beeinflusst die Atmosphäre ebenso: Am 16. Mai wird Chris Dercon endlich seine Pläne für die Volksbühne vorstellen."
Archiv: Bühne

Architektur


Das Melanchthonhaus mit dem kubistischen Neubau von Dietzsch und Weber Architekten

Stefan Rhein, süddeutscher Altphilologe und Gründungsdirektor der Lutherstätten in Wittenberg, musste ganz schön kämpfen, um neben der Renovierung der Lutherstätten auch Veränderungen durchsetzen zu können, erzählt er im Interview mit der Zeit: "Weil wir uns nicht einig waren in der Frage: Was ist uns Wittenberg? Für mich ist es eben nicht nur ein Freilichtmuseum der Reformation, sondern ein vitaler Ort, der signalisiert: Luther lebt! Wir haben hier eine Kulturmeile, die reicht vom Lutherhaus über das Melanchthonhaus, die Universität Leucorea, die Cranach-Häuser und den Marktplatz bis zur Schlosskirche. Nahebei liegt Luthers Predigtkirche. Viele wollten, dass all das Alte alt und anheimelnd bleibt. Ich wollte es zeitgenössisch ergänzen. Nicht triumphalistisch, aber auch nicht anpasserisch. Unser größter Streitfall war 2013 dann jener kubische Ergänzungsbau zum Melanchthonhaus: 1536 Grundsteinlegung, nie zerstört, auch innen kaum verändert."

Außerdem: Schwer enttäuscht ist Roman Hollenstein (NZZ) von dem von Diener & Diener gebauten neuen Hauptsitz des Versicherungskonzerns Swiss Re am Zürcher See: "Aus der ursprünglich geplanten minimalistischen Architekturskulptur ist ein banales Gebäude geworden, das allenfalls in den Gewerbezonen am Stadtrand einen gewissen Reiz entfalten könnte, nicht aber an einer der schönsten Stellen Zürichs."
Archiv: Architektur