Magazinrundschau

Lebenselixier gegen Zellulitis

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
11.10.2016. In The Nation sucht Ursula Le Guin nach einem Vokabular für den Grenzort Alter. In Literary Hub preist Junot Diaz den Pep von nur einem Gramm Kurzgeschichte. In HVG denkt Laszlo Krasznahorkai über Heimat nach. Alan Rusbridger stellt in der NYRB die staatlichen Auslandschulden der 40 afrikanischen Länder dem noch höheren Privatvermögen von Afrikanern im Ausland gegenüber. Der Guardian staunt: 2,5 Milliarden Euro für Mineralwasser allein in Britannien?

The Nation (USA), 24.10.2016

Zoë Carpenter zeichnet ein sehr schönes Porträt der Dichterin und Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin und unterhält sich dafür mit ihr über das Schreiben, den Feminismus, Krieg und das Alter (Le Guin wird am 21. Oktober 87): "Immer eine Autorin 'vom Rand', schreibt Le Guin heute von der Grenze des Lebens. 'Es ist sehr schwer, über das Altsein zu schreiben. Wir haben nicht das Vokabular dafür. So fühlten sich viele Frauen, als sie begriffen, dass ihnen das Vokabular dafür fehlte, über das Frausein zu schreiben', sagt sie. Wir waren in ihrem Wohnzimmer mit seinen bequemen Stühlen und dem Fenster durch das man über einen alten Redwood-Baum hinweg den Mount St. Helens sah. Pard, ihre grünäugige Katze, streckte sich auf einem roten Teppich. Le Guin fühlt sich verpflichtet 'zu versuchen von der Grenze zu berichten', aber es ist sehr schwierig und mysteriös. 'Man erreicht definitiv einen Grenzort. Und Grenzorte sind seltsame Orte.'"

Außerdem: Ian Buruma erfährt sowohl aus John le Carres autobiografischem Erzählungsband "The Pigeon Tunnel: Stories From My Life" als auch aus Adam Sismans Carre-Biografie einiges über die britische Klassengesellschaft und das schwierige Verhältnis le Carres zu seinem Vater, einem hochgestimmten Betrüger, der vom Gefängnis ins Kasino und wieder zurückging und von all seinen Opfern geliebt wurde. Von seinen Söhnen allerdings weniger.
Archiv: The Nation

New Yorker (USA), 17.10.2016

Manchmal hat das Alter auch sein Gutes, lernt David Remnick bei der Recherche für sein episches Porträt Leonard Cohens in der neuen Ausgabe des New Yorker. Er hat den heute 82-jährigen Musiker erst kürzlich in Los Angeles kennengelernt. Cohen, der gerade ein neues Album herausgebracht hat, kann heute leichter arbeiten als früher, erzählt er, weil es keine Ablenkungen (Geld, kleine Kinder, Ehefrau) mehr gibt. Auch über das Verhältnis von Cohen und Bob Dylan schreibt Remnick: Die beiden sahen sich gelegentlich und in den frühen Achzigern saßen sie in einem Pariser Cafe zusammen. Dylan lobte Cohens Song "Hallelujah": "Bevor 300 andere Performer den Song mit ihren Coverversionen berühmt gemacht hatten, lange bevor der Song in den Soundtrack von 'Shrek' aufgenommen wurde und in 'American Idol' gespielt wurde, erkannte Dylan die Schönheit dieser Hochzeit des Heiligen mit dem Profanen. Er fragte Cohen, wie lange er daran gearbeitet hatte. 'Zwei Jahre', log Cohen. Tatsächlich hatte er fünf gebraucht. Er entwarf Dutzende von Versen und danach dauerte es Jahre, bis er eine Endversion erarbeitet hatte. In verschiedenen Schreibsessions fand er sich in seiner Unterwäsche wieder, den Kopf gegen eine Hotelwand schlagend. Cohen sagte Dylan, dass er 'I and I' sehr mochte, ein Song, der auf Dylans Album 'Infidels' erschienen war. 'Wie lange hast du gebraucht, ihn zu schreiben'? 'Ungefähr fünfzehn Minuten', sagte Dylan. Als ich Cohen über diese Szene befragte, meinte er: 'So waren halt die Karten verteilt.'"

Dexter Filkins arbeitet den Militärputsch in der Türkei auf und streift dabei kurz das Dilemma der Erdogangegner: "Die Ironie des Putsches ist die, dass Erdogan gestärkt daraus hervorgeht. Das Aufbegehren, das die Verschwörung stoppte, wurde von Leuten angeführt, die Erdogan kaum weniger verachten als die Vorstellung eines Militärregimes. Das Ergebnis war, dass Erdogan und seine Partei regieren, und zwar so lange wie dieser es will."

Außerdem: Julie Phillips porträtiert die enorm produktive Sci-Fi-Autorin Ursula K. Le Guin. Zoë Heller schreibt über Shirley Jackson und die neue Jackson-Biografie von Ruth Franklin. Adam Gopnick nimmt sich neue Romane von Howard Jacobson, Anne Tyler und Margaret Atwood vor, die Shakespeare adaptieren. Und Alexandra Schwartz überlegt, ob Emily Witt mit ihrem Buch über unsere sexuellen Vorlieben ("Future Sex") auch ihr eigenes Verlangen stillen konnte.
Archiv: New Yorker

Literary Hub (USA), 07.10.2016

Der Autor Junot Diaz hat für einen Sammelband "Die besten amerikanischen Kurzgeschichten 2016" ausgesucht und schreibt in seinem Vorwort eine feurige Verteidigung des Genres gegen dessen Verächter: "Wenn der Roman die bevorzugte literarische Form in unserer Kultur ist, auf die wir all unseren getrockneten literarischen Lorbeer häufen, dann ist die Kurzgeschichte ihr verachteter kleiner Bruder, ein ewiger Außenseiter. Aber was für ein Außenseiter. Eine Kurzgeschichte kann auf einigen Dutzend Seiten Herzen, Knochen, Eitelkeiten und Käfige brechen. Und in den richtigen Händen hat ein Gramm Kurzgeschichte mehr Pep als fast jede andere literarische Form. Es ist genau dieser anregend atomare Mischung aus Ökonomie + Kraft, die Leser und Autoren gleichermaßen seit Generationen hingerissen hat und die auch erklärt, warum die Kurzgeschichte immer noch unsere besten Autoren anzieht. Aber so viel Macht hat ihren Preis. Diese Form ist scheißgnadenlos. Sie verlangt von ihren Jüngern ein verstörendes Maß an Genauigkeit."

Außerdem: John Freeman las mit Mohsin Hamids Flüchtlingsroman "Exit West" den ersten post-Brexit-Roman: "Ich verstehe, dass sich die Leute vor Flüchtlingen fürchten', sagt Hamid im Interview. "Wenn man in einem reichen Land lebt, ist diese Furcht vor Menschen aus weit entfernten Ländern verständlich. Aber Furcht ist wie Rassismus: Verständlich, aber sie muss bekämpft und vermindert werden."
Archiv: Literary Hub

HVG (Ungarn), 09.10.2016

Vor kurzem ist in Ungarn der neue Roman von László Krasznahorkai erschienen ("Báró Wenkheim hazatér" - Baron Wenkheims Heimkehr, Magvető, Budapest 2016. 508 Seiten). Aus diesem Anlass sprach János Szegő mit dem Autor unter anderem über den Begriff der Heimat: "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich seit dem Ende meiner Kindheit überhaupt irgendwo zuhause fühlte. Vielleicht ist das bei der offenen Version des erwachsenen Menschen etwas Natürliches, allerdings gibt viele Glückskinder, bei denen die Fähigkeit, sich zuhause zu fühlen, erhalten bleibt. Ich bin kein Glückskind. Doch ich kann erzählen, was Heimat in ihren Fällen bedeutet oder bedeuten könnte. Mit einer Plattitüde gesagt: eine Illusion. Es ist keine Fähigkeit, sich hier oder dort zuhause zu fühlen. Der Betreffende muss vielmehr gegenüber tausenden von Dingen blind sein und sich von der Kenntnisnahme von tausenden Dingen fernhalten, zum Beispiel wie instabil diese Heimat ist. Die Instabilität ist evident, die Anhänglichkeit dagegen ist bewegend."
Archiv: HVG

New York Review of Books (USA), 27.10.2016

Alan Rusbridger liest einen Stapel Bücher über Steueroasen, darunter natürlich auch die "Panama Papers" der beiden SZ-Journalisten Bastian Obermayer und Frederik Obermaier, die maßgeblich die Geschichte zu den versteckten Milliarden von Kleptokraten, Oligarchen, Waffenhändlern, Drogendealern und Sanktionsbrechern recherchiert hatten. Wichtig findet er aber auch Nicholas Shaxsons Report "Treasure Islands: Uncovering the Damage of Offshore Banking an Tax Heavens": "Das System hat Opfer. Ein Bericht der Global Financial Integrity (GFI), einer gemeinnützigen Forschungsstelle in Washington kam 2010 zu dem Ergebnis, dass sich die aus Afrika geflossenen Schwarzgelder zu einem Wert zwischen 854 Milliarden und 1,8 Billionen Dollar summierten. Shaxson zitiert eine andere Studie, derzufolge die Netto-Kapitalflucht aus Afrika in den 35 Jahren bis 2004 bei 420 Milliarden Dollar lag. Er stellt dies den Gesamtschulden dieser 40 Länder von 'nur' 227 Milliarden gegenüber: 'Die Autoren einer Studie der University of Massachusetts in Amherst konstatieren 2008, dass Afrika gegenüber dem Rest der Welt ein Netto-Gläubiger ist, mit einem auswärtigen Netto-Vermögen, das seine Schulden weit übersteigt. Doch es gibt einen wichtigen Punkt, in dem sich Vermögen und Schulden  unterscheiden... Die privaten Nettovermögen des Subkontinents im Ausland gehören einer kleinen relativ wohlhabenden Schicht seiner Bevölkerung, während die Auslandsschulden der Bevölkerung von ihren Regierungen aufgeladen wurden.'"

Joyce Carol Oates schreibt anlässlich der neuen Biografie von Ruth Franklin (Auszug) ein beklemmendes Porträt der großartigen Shirley Jackson, deren Bücher auf Deutsch unbegreiflicherweise vergriffen sind (hört ihr uns, Diogenes?): "Wie Märchen, mit ihren Kaprizen und ihrem Fatalismus, so übt die Literatur von Shirley Jackson einen beißenden, hypnotischen Zauber aus. Gleichgültig, wie oft man "The Lottery" liest, Jacksons am häufigsten in Anthologien aufgenommene Geschichte und ein Klassiker der amerikanischen Gothik-Literatur, man ist nie ganz darauf vorbereitet, wie sie langsam Fahrt aufnimmt, wie sich, was ursprünglich so zufällig und gewöhnlich erschien, als so unvermeidlich erweist wie Wasser, das durch ein Abflussrohr rauscht."

Außerdem: Tim Page liest einen Band mit Briefen von John Cage.

Eurozine (Österreich), 07.10.2016

In einem Artikel für Index on Censorship, online bei Eurozine, gibt Andrey Arkhangelsky einen sehr nützlichen Überblick über die paar unverzagten Medien in Russland, die noch investigativen Journalismus betreiben. Anlass ist ihm der zehnte Jahrestag des Mords an Anna Politkowskaja. Die neuen Technologien, sagt er, haben nicht automatisch eine größere Vielfalt oder mehr mutigen Journalismus gebracht - alles hängt wie immer von Einzelnen ab. Und von deren persönlichem Mut: "Verleger und Investoren dachten oft, dass sie nur nach den Regeln spielen und offene Kritik vermeiden müssen, dann würde sie niemand anrühren. Aber die Regeln ändern sich immerzu, und sie sind nirgends schriftlich formuliert. Niemand kann sie erraten. Diese kafkaeske Situation führt zu allgemeiner Nervosität, sagt uns aber auch etwas über Meinungsfreiheit: Wer in eine partielle Beschneidung seiner Freiheit einwilligt, dem wird sie früher oder später ganz genommen."
Archiv: Eurozine

Guardian (UK), 06.10.2016

Die Angst der Eliten vor den Armen und Ungebildeten ist so alt wie die Demokratie. Doch seit dem Brexit und Donald Trump findet Donald Runciman es wieder an der Zeit, die wachsende Bildungskluft in den Blick zu nehmen, die in Europa immer mehr auch eine politische Kluft wird: "In den europäischen Ländern mit ihrem Verhältniswahlrecht können kleinere Parteien bestimmten Teilen der Bevölkerung eine politische Heimat geben, einschließlich der beiden Enden der Bildungsskala. In Europa stützen sich viele rechtspopulistische Parteien auf die weniger gebildeten Wähler. Dagegen rekurrieren grüne und liberale Parteien, vor allem die mit Sympathien für Einwanderer, Hochschulabsolventen als Anhänger ... Die Bildungskluft wird niemals die traditionelle Rechts-Links-Unterscheidung ersetzen. Die Akademiker-Partei wird nicht gegen die Partei der Schulabbrecher antreten. Die Kluft geht noch einmal durch rechts und Links, deswegen erschüttert sie die heutige Politik so heftig: Die Volkspartei können ihre zerbrochenen Wählerkoalitionen kaum noch zusammenhalten."

Als das Belfaster Merchant Hotel Wasser vom kanadischen Eisberg für 26 Pfund die Flasche anbot, war es den Leuten zuviel, aber im Bioladen in Notting Hill lassen sich die meisten noch ganz schön viel Unsinn gefallen: Kokosnuss-Wasser direkt aus der Frucht, das Lebenselixier gegen Zellulitis oder das um vierzig Prozent Flüssigkeit reduzierte Wasser. In Los Angeles verkaufen Wasser-Sommeliers ihr 90H20 in Diamant-Editionen für 100.000 Dollar. Sophie Elmhirst weiß in ihrem großen Report über die Branche nicht, ob sie über soviel Einfallsreichtum weinen oder lachen soll: "Wasser ist nicht mehr nur Wasser, es ist die leere Leinwand, auf die alle möglichen und unmöglichen Versprechen zur Lebensverbesserung projiziert werden. Und es wirkt. In den vergangenen zehn Jahren wuchs auf dem Getränkemarkt kein Segment so schnell wie Wasser in Flaschen. 2013 wurde der Markt auf einen Wert von 157 Pfund geschätzt, 2020 soll er 280 Pfund erreichen. Allein in Britannien wuchs der Konsum von abgefülltem Wasser um 8,2 Prozent, das entspricht einem Verkaufswert von über 2,5 Milliarden Pfund. Heute wird 100 Mal mehr Wasser verlauft als 1980: Wasser, das in entwickelten Länder umsonst aus dem Hahn kommt."

Außerdem: Jonathan Ree liest Anthony Gottliebs "The Dream of Enlightenment". Joshua Kurlantzick empfiehlt Christopher Goschas "The Penguin History of Modern Vietnam" als ausgezeichnete Geschichte Vietnams.
Archiv: Guardian

Film Comment (USA), 04.10.2016

Das Netz mag mit seinen unzähligen Nischen und Separées für cinephile Bedürfnisse ein Paradies sein - für die um Außenwirkung bemühte Filmkritik ist es die Hölle, stellt Nick Pinkerton mit betrübtem Blick auf die Filmkultur fest, die zusehends von Diskussionen geprägt seien, die mit dem Film als Kunstform nichts mehr zu tun haben: "Dieses fortlaufende Spiel, bei dem man sich ständig neu positionieren muss, um eine bislang noch nicht besetzte Position zu beanspruchen, erinnert an eine Art mentales Badminton, bei dem verschiedene kulturelle Schiedsrichter versuchen einzuschätzen, wo der Federball des Konsens als nächstes auftrifft, um sich so zu positionieren, dass sie den Ball zurückspielen können. ... Im Jahr 2016 gibt es pro Woche nicht signifikant mehr oder weniger diskussionswürdige Kultur als etwa vor 30 Jahren, doch heute ist so viel mehr Platz zu füllen und eine große Scheindebatten-Industrie ist fleißig dabei, diese Lücke zu füllen. Darf man einen Woody-Allen-Film noch reinen Gewissens sehen? Was ist Deine Meinung zu den letzten außerfilmischen Statements von Edgar Wright und Ava DuVernay? Wie hältst Du es mit dem komplett weiblich besetzten Reboot der 'Ghostbusters'? Und was sagen die Reaktionen darauf über Amerika aus?"
Archiv: Film Comment

New York Times (USA), 09.10.2016

Die neue Ausgabe des New York Times Magazine befasst sich mit unseren Lebensmitteln und ihrer Erzeugung. In einem Artikel des Dossiers erklärt Michael Pollan Barack und Michelle Obamas Politik in Sachen Ernährung und Landwirtschaft für gescheitert: "Wann immer die Obamas mit dem Finger auf die Massenindustrie zeigten, wurden sie von den Lobbyisten ausgebootet. Wieso? Weil die Ernährungsbewegung als politische Kraft bisher noch immer kaum existiert in Washington … Ihre Stärke besteht in der Kraft ihrer Ideen und der Anziehungskraft ihrer Ziele, eine Gemeinschaft zu bilden, uns mit der Natur zu versöhnen und sowohl ihre als auch unsere Gesundheit zu erhalten. Was hat die Massenindustrie dem entgegenzusetzen? Einzig dieses Versprechen: Wenn ihr uns in Ruhe lasst und euch nicht um unsere Methoden kümmert, liefern wir euch riesige Mengen bezahlbares Essen von akzeptabler Qualität."

Außerdem: Corby Kummer dokumentiert das Rennen um die gesunde Tiefkühlpizza. Malia Wollan berichtet über die Versuche der Süßwarenindustrie, ohne künstliche Farbstoffe auszukommen. Ted Genoways wünscht sich mehr Transparenz in der Fleischindustrie. Und George Steinmetz fotografiert die Landwirtschaft des 21. Jahrhunderts. In der Book Review erinnert sich Ariel Dorfman, wie er nach dem Putsch gegen Allende 1973 mit etwa 30 weiteren Flüchtlingen in der argentinischen Botschaft in Santiago festsaß und eine Lesung Miguel de Cervantes' "Don Quichotte" hörte.
Archiv: New York Times