Im Kino

Kleine Utopie des Kinos

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Fabian Tietke
31.08.2022. In "Mariupolis 2" dokumentiert der später von russischen Truppen ermordete litauische Regisseur Mantas Kvedaravičius den Kriegsalltag in Mariupol. Alice Agneskirchner porträtiert in ihrer Doku "Komm mit mir in das Cinema - die Gregors", das ganz und gar unprätenziöse hohe Paar der Berliner Filmkultur: Erika und Ulrich Gregor.


Eine halbgeöffnete Tür, dahinter Licht. Licht und Donnern. Im Halbdunkel vor der Tür hockt ein Mann. Hinter einem Absatz führt eine Treppe hinunter in den Keller. Draußen schlagen dumpf Granaten ein. Der Innenraum verheißt Sicherheit. Einmal zeigt ein Mann einen noch heißen Granatsplitter, der ihm vor die Füße gefallen ist. Die Menschen aus dem Keller bewegen sich selten weit von dem Keller weg, der zu einer Kirche gehört. Mantas Kvedaravičius' "Mariupolis 2" zeigt das Leben unter russischem Artilleriebeschuss in der ukrainischen Hafenstadt in den ersten Monaten des russischen Angriffskriegs.

Der Unterschied zwischen den beiden Filmen, die Kvedaravičius Mariupol gewidmet hat, ist unübersehbar. Der erste Film begann 2016 mit der Ausfahrt der Straßenbahnen aus dem Depot. Die Räume der Stadt sind weit, selbst dann, wenn der Film in Innenräumen spielt. In "Mariupolis 2" sind die Räume eng, die Wege kurz. Die Stadt, die der erste Filme gezeigt hat, existiert nicht mehr. Die Menschen und die Kamera entfernen sich selten mehr als ein paar hundert Meter von der Kirche. Bei längeren Aufenthalten im Freien mahnt stets jemand zur Eile, nicht selten der Filmemacher selbst.

Abendstimmung. Die untergehende Sonne färbt den Nebel und die Rauchschwaden über Mariupol rosa-bläulich. Eine Reihe Bäume ragt aus den Trümmern heraus. Hunde bellen. In der Ferne gedämpftes Donnern. Der Blick aus den Fenstern ist ein Abendritual des Films. Als sich die Sonne am nächsten Morgen erhebt, ist das Donnern der russischen Artillerie verstummt. Es wurde Abend und es wurde Morgen: nächster Tag.

Vom Leben der Bewohner ist nicht mehr viel übrig. Die Tage bestehen aus dem Versuch, das direkte Umfeld der Kirche bewohnbar zu halten, der Suche nach Brauchbarem in den immer neuen Trümmern der Stadt und dem Versuch, für den Gang auf die Toilette eine kurze Pause im Beschuss zu finden. In ruhigeren Momenten stehen sie vor der Tür, rauchen, reden und genießen die Luft. Nicht selten steht in der Nähe der Tür ein Topf auf einem Holzfeuer. Der Krieg, der die Stadt heimgesucht hat, ist selten zu sehen. Einmal ist am Horizont das Mündungsfeuer eines Raketenwerfers zu sehen. Sonst zeigt "Mariupolis 2" die Zerstörung, die der Beschuss hinterlässt, die Bedrohung ist eher zu hören als zu sehen.



Der erste Teil von "Mariupolis" war ein solider, etwas mittelmäßiger Dokumentarfilm über eine Stadt. "Mariupolis 2" ist ein Dokument des Krieges. Kvedaravičius hat inmitten der Bomben die Distanz aufgebracht, dem Film eine klare Struktur zu geben und sich auf den Mikrokosmos der Flüchtlinge im Kirchenkeller zu konzentrieren. Er findet eine Form für die Angst, die Enge einer Stadt unter Dauerbeschuss. Er findet Bilder für das Überleben der Menschen in der Stadt, die alltäglich bleiben und daraus ihre Stärke ziehen. "Mariupolis 2" ist ein starker Dokumentarfilm aus dem Krieg, weil er sich für das Dokumentieren und gegen Überhöhung entschieden hat.

Ein Mann blickt in den Krater, in dem sein Nachbarhaus stand. Nüchtern korrigiert der Regisseur seine stets etwas überzogenen Größenschätzungen nach unten. Hinter dem Mann stehen die Ruinen seines Hauses. Sorgfältig schließt er weiterhin das Stahltor, um Plünderer draußen zu halten. Vor dem Krieg hatte er den Plan, das Sommerhaus zu reparieren, die Küche zu renovieren. Jetzt sind weder das Sommerhaus noch die Küche noch da. Auf dem Dach des Hauses sitzt ein versprengter Haufen Tauben. Die, die übrig geblieben sind. 300 Tauben waren es mal.

Noch bevor Mariupol in die Hände der russischen Armee fiel, wurde Regisseur Mantas Kvedaravičius Anfang April von russischen Truppen entführt und ermordet. Seine Partnerin Hanna Bilobrova brachte das Material des Films in Sicherheit und stellte den Film gemeinsam mit Editorin Dounia Sichov fertig.

Fabian Tietke

Mariupolis 2 - Litauen, Frankreich, Deutschland 2022 - Regie: Mantas Kvedaravičius - Laufzeit: 112 Minuten.

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Kennengelernt haben sie sich 1957 bei einer Aufführung von "Menschen am Sonntag" (1930) an der Freien Universität Berlin. Aufgefallen war Ulrich Gregor seine spätere Frau Erika, weil sie in einer Publikumsdiskussion nach dem von ihm programmierten Film die allgemeine Begeisterung im Saal nicht teilen wollte; insbesondere das Frauenbild des Berliner Stummfilmklassikers ging ihr gegen den Strich.

Das Leben der Gregors, dem die Dokumentarfilmemacherin Alice Agneskirchner ein sehr umfangreiches Porträt widmet, drehte sich auch weiter um Filme; sie zu entdecken, zu zeigen, zu archivieren, gemeinsam mit dem Publikum zu sehen und über sie zu diskutieren. Dazu gründeten sie zunächst den Verein der Freunde der Deutschen Kinemathek, eröffneten später mit dem Arsenal ein eigenes Kino, aus dem auch das Internationale Forum des jungen Films der Berlinale hervorging.

Gut zweieinhalb Stunden Zeit nimmt sich Agneskirchner, um die Geschichte eines Paares zu erzählen, das (nicht nur) die Berliner Film- und Kinolandschaft entscheidend prägte, indem es sich auf der ganzen Welt auf die Suche nach Abseitigem, Experimentellem, unabhängig Produziertem machte, lange und kurze Spiel- und Dokumentarfilme zeigte, Historisches und Aktuelles. Eine Rechnung am Ende des Films zeigt, dass die Gregors bis heute im Rahmen ihrer kuratorischen Arbeit an die 100.000 Filme gesehen haben.

So wie die Filmarbeit der Gregors immer eine politische Komponente hatte, geht es auch Agneskirchner darum, mit dem Leben des Paares der Geschichte Deutschlands und Berlins nachzuspüren. Durch die enge Verzahnung der Arbeit der Gregors mit dem politischen Zeitgeschehen entwirft der Film eine kleine Utopie des Kinos als Impulsgeber und Ort der Kommunikation - nicht umsonst betont das Paar immer wieder, wie wichtig ihm die angeleiteten Gespräche nach den Screenings als Möglichkeit des direkten Austauschs mit den Filmemacher*innen und dem Publikum waren.



So erzählt "Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors" etwa von den Komplikationen, die es mit sich bringt, im West-Berlin des Kalten Krieges Filme aus der DDR oder der Sowjetunion zu zeigen, davon, wie Claude Lanzmanns "Shoah" (1986) zur Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte anregte, wie Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" (1971) zur politischen Organisation von schwulen Männern beitrug, oder warum feministische Filmemacherinnen wie Helma Sanders-Brahms oder Helke Sander den Begriff "Frauenfilm" nicht mochten.

Das Panorama ihrer Lebensgeschichte, das die Gregors rückblickend entfalten, wird illustriert durch Filmausschnitte, historische Berlinaufnahmen, Bilder von Publikumsgesprächen, Kommentaren befreundeter Filmschaffenden. Gleich zu Beginn führt das Paar andächtig durch das Archiv des Arsenal Kinos, und auch das bis unter die Decke mit Büchern, Katalogen und DVDs vollgestopfte Arbeitszimmer der Gregors in ihrem kleinen Haus am Stadtrand ähnelt einem Archiv. Tatsächlich haftet auch dem Film selbst etwas Archivarisches an, wenn er die Vergangenheit nicht zuletzt durch das Stöbern in alten Kinoprogrammen oder Fotoalben versucht auferstehen zu lassen.

Das Paar, dessen Alltag bis heute (wer in den letzten Jahren Forums-Screenings im Arsenal besuchte und sie auf ihren Stammplätzen in der ersten Reihe sah, weiß das) darin besteht, sich gemeinsam Filme anzusehen und über sie zu reden, wird einem nicht zuletzt nahe gebracht durch schöne kleine Momente spontaner Irritation, die sich durch den Film ziehen - angefangen mit der ersten Szene, in der Ulrich Gregor unter der Anleitung seiner Frau das Blatt mit dem Gedicht von Else Lasker-Schüler sucht, dem der Titel des Films entstammt. Später darf er sich revanchieren, indem er ihr beim (verspäteten) Begehen des Hochzeitstags zeigt, wie man ein Champagner-Glas richtig hält, um es beim Anstoßen zum Klingen zu bringen.

Die Art, wie Agneskirchner sich bemüht, bei ihrem Blick auf Leben und Wirken ihrer Protagonisten möglichst unmittelbar deren eigene Perspektive einzunehmen, lässt kaum kritische Distanz aufkommen. Insgesamt gelingt ihr ein einfühlsames Porträt eines Lebens im und für das Kino.

Nicolai Bühnemann

Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors - Deutschland 2022 - Regie: Alice Agneskirchner - Laufzeit: 155 Minuten.