Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Mikrokosmos der Bourgeoisie

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2019. Die taz probiert auf der Berliner Fashionweek Mode Stoffe aus Algen und Brennnesselfasern. In der FAS blickt Rachel Kushner auf die Brutalität unserer nahen Zukunft. Die Nachtkritik erlebt am Münchner Volkstheater, wie man den Pessimismus von Euripides noch übertreffen kann. Die FAZ wünscht der Mailander Scala, dass ihr neuer Intendant die Freunden des leidenschaftlichen Gesangs aufscheucht. Die Jungle World besucht mit der Sibylle die schönen hellen Neubauviertel. Und die Welt donnert in Richtung Mathildenhöhe: Jugendstil ist nicht der Vorläufer des Bauhaus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.07.2019 finden Sie hier

Design

Schautafel der Firma Algalife, die Renana Krebs mitbegründet hat


Auf der Berlin Fashion Week dreht sich alles um Nachhaltigkeit, stellt tazlerin Marina Razumovskaya fest. Die Ideen sind aussichtsreich: "Faire Bio-Baumwolle ist da nur das Altbekannte. Unbekanntere Dinge tauchen auf: etwa die erstaunliche Idee von Renana Krebs, die Mode mit Stoffen und Farben aus Algen macht. ... Oder Stoffe aus Brennnesselfasern, ein Pilotprojekt des Leibniz-Instituts für Agrarechnik und Bioökonomie Potsdam (die wohl noch nicht auf der Neonyt vertreten ist). Dazu kommen neue Techniken, Fasern zu recyclen. Berlin und seine Modemessen sind auf dem guten Weg, zum Pionier für nachhaltige Mode zu werden."

An Würdigungen der DDR-Zeitschrift Sibylle herrschte in den Feuilletons in den letzten Jahren kein Mangel: Sharon Adler erinnert in der Jungle World anlässlich einer Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus an das ästhetisch wagemutige Magazin und sprach außerdem mit der Fotografin Ute Mahler. Als Modezeitschrift konnte man sich ganz gut durchlavieren, erklärt sie: "Wir waren privilegiert in dem Sinn, dass wir unsere Arbeit machen konnten, wie wir sie machen wollten. Und das hat damit zu tun, dass die Sibylle, die in einer Auflage von 200.000 erschien, eine Modezeitschrift war, die von den Verantwortlichen nicht wirklich ernst- und wichtig genommen wurde. Ich glaube, die haben sich einfach gedacht: 'Lasst die mal ein bisschen spielen.'" ... Natürlich gab es auch Bestrebungen, alles ein bisschen optimistischer zu zeigen. Dass das Umfeld so grau war, ist uns gar nicht in dem Maße aufgefallen, schließlich haben wir dort gelebt und es war unsere Realität. Manchmal äußerte die Chefredaktion allerdings schon ihre Wünsche und es hieß: 'Warum geht ihr denn nicht mal in die schönen hellen Neubauviertel?'"

Johanna Schmeller hat für die taz in Brüssel eine Ausstellung über Audrey Hepburns Kleiderstil besucht. Deren Filme boten "dem Existenzialismus eine modische Bühne. Hepburn trägt schwarze Rollkragenpullover, Trenchcoats mit auf dem Rücken geschlossenem Gürtel, 7/8-Hosen zu Slippern. Sie begründet einen neuen Frauentyp: kurze Haare statt ondulierter Mähne, definierte Schultern statt Dekolleté."

Weiteres: In der NZZ blickt Sabine von Fischer zurück auf Jonathan 'Jony' Ives Zeit als Chefdesigner von Apple (mehr dazu hier).
Archiv: Design

Bühne


"Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino" am Münchner Volkstheater. Foto: Gabriela Neeb


Ein wenig deprimiert verlässt nachtkritiker Willibald Spatz Mirja Biels Inszenierung "Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino", für die Martin Crimp Euripides' Antikendrama "Die Phönizerinnen" um das selbstverschuldete Schicksal überschrieben hat: "Im Prinzip ist an der Stelle Martin Crimp viel pessimistischer als das Original. Er lässt den Menschen nicht einmal die Chance für eine Einsicht, weil sie alle schrecklich damit beschäftigt sind, ihr Bild von sich vor den anderen zu pflegen. Und Biels pointierte Inszenierung liefert die Erkenntnis direkt, brutal und großartig. Man wünscht sich fast, das alles wäre nur eine alte Geschichte, die uns alle nichts mehr angeht. Ist es aber nicht."

Der Wiener Staatsopernchaf Dominique Meyer wird neuer Intendant der Mailänder Scala, meldet Hans-Georg Koch in der FAZ und merkt recht trocken an, dass ihm der bisherige Intendant Alexander Pereira noch ein Jahr "zur Seite steht". Die Scala im hyperdynamischen Mailand legt viel Wert auf Exzellenz, aber Koch ahnt, dass sie die Relevanz nicht vernachlässigen sollte: "Nach dem Theaterverständnis, wie es sich nördlich der Alpen entwickelt hat, wird auf der Bühne etwas verhandelt, was alle Menschen angeht, wenigstens aber den bürgerlichen Teil der Menschheit. Aus dieser Sicht erscheinen die meisten Produktionen an der Scala heute belanglos, uninteressant, eingeschlossen in der Blase der Freunde leidenschaftlichen Gesangs... An der Scala, und wahrscheinlich generell in Italien, gibt es aber keinen Standpunkt, der es erlaubte, Werke der Opernliteratur auch einmal von außen, in einer gesellschaftlichen Perspektive und mit historischer Distanz zu betrachten. So gehört die Scala zum Kulturangebot einer kreativen Stadt, nimmt aber an der Entwicklung zukunftsorientierter Themen nicht teil."

Weiteres: Adrienne Braun bilanziert in der SZ Burkhard Kosminskis erste Saison am Schauspiel Stuttgart

Besprochen werden eine Aufführung des "Samstags" aus Stockhausens Zyklus "Licht" durch das technikaffine Musikerkollektiv Le Balcon in einer Kirche in Paris (SZ), der Auftakt des "Colours-Tanzfestivals in Stuttgart (FR), das Ballett-Programm "Atem-Beraubend" ebenfalls in Stuttgart (FAZ) und Tullio Solenghis "Lysistrata" im griechischen Theater von Syrakus auf Sizilien (FAZ).

Archiv: Bühne

Literatur

An Rachel Kushner gibt es derzeit in den Feuilletons kein vorbei. Für die FAS sprach Anna Vollmer mit der amerikanischen Autorin über deren Roman "Ich bin ein Schicksal", der von einem Leben im Knast handelt. Erzählen wollte sie "die Geschichte derjenigen, die mit der Justiz in Berührung kommen, die in Gefängnissen arbeiten, die auf der Autobahn fahren und in der Ferne diese Flutlichter sehen und nicht wissen, dass es ein Gefängnis ist; die Geschichte der Menschen, die wissen, dass das ein Gefängnis ist: All das gehört zu Kaliforniens Geschichte. In meinen Augen ist es ein Mikrokosmos der Bourgeoisie und unserer heutigen Welt. Die Brutalität unserer nahen Zukunft lässt sich hier bereits erahnen."

Weitere Artikel: In der NZZ berichtet Philipp Hufschmid vom 24. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Besprochen werden unter anderem Ayesha Harruna Attahs "Die Frauen von Salaga" (SZ), André Richauds erstmals auf Deutsch erschienener Roman "Der Schmerz" aus dem Jahr 1930, den Albert Camus zu seinen Favoriten zählte (Tagesspiegel, Dlf), der Briefwechsel zwischen Christoph Hein und Elmar Faber (Berliner Zeitung), Simon Strauß' "Römische Tage" (Freitag), Willy Vlautins "Ein feiner Typ" (ZeitOnline), Hank Greens "Ein wirklich erstaunliches Ding" (online nachgereicht von der FAZ), Monika Ritzers Biografie über Friedrich Hebbel (FAZ) und drei Ausstellungen über die franko-belgischen Comicklassiker Hergé, Hugo Pratt und Didier Comès (taz).

Außerdem gibt es eine neue Ausgabe des CrimeMag - hier das Editorial mit Links zu allen Essays und Artikeln.
Archiv: Literatur

Kunst

Foto: Bachhaus Eisenach
Beglückt kommt FR-Kritiker Arno Widmann aus der Eisenacher Bach-Ausstellung "Bilder Rätsel", die ihn lehrte, seinen Augen zu misstrauen: "Der aufmerksame Besucher der Ausstellung 'Bilderrätsel' erfährt, wie viel detailverliebter Arbeit es bedarf, auch nur herauszubekommen, wer Maler und Porträtierter waren, welche Irrwege gegangen wurden. Aus Geldgier, aus Renommiersucht und aus Liebe. Die Eisenacher Ausstellung muss gelesen werden. Wer nur die Bilder anschaut, erfährt nichts."


Weiteres: Im Guardian rekapituliert Clarissa Sebag-Montefiore, wie schwierig es für drei Aborigines-Künstlerinnen war, Visa für Frankreich zu bekommen, um in Paris ihre Textil-Arbeiten auszustellen. In der SZ schreibt Martin Zips zum Tod des liebenswürdigen Zeichners Guillermo Mordillo, weitere Nachrufe gibt es in taz, Tagesspiegel und Berliner Zeitung.

Besprochen werden zwei Ausstellungen in Paris zum Kunstmarkt unter der deutschen Besatzung (taz), die Ausstellung "Jugendstil" mit der Schenkung des Industriellen F. W. Neess im Landesmuseum Wiesbaden (FAZ) und noch einmal die große Cindy-Sherman-Ausstellung in der National Portrait Gallery in London (Observer).
Archiv: Kunst

Architektur

Haus Olbrich: Häuser Keller und Habich, Mathildenhöhe, Darmstadt, 1901. Foto: Städtische Kunstsammlung Darmstadt

In der Welt ist Dankwart Guratzsch gar nicht einverstanden damit, die Mathildenhöhe in Darmstadt zu einem Vorläufer des Bauhauses zu stilisieren, wie es die Ausstellung "Künstlerhaus - Meisterhaus - Meisterbau" gerade tut. Zwar habe ihr Erbauer Josef Maria Olbrich als erster das Haus als Maschine begriffen, aber sein völlig unfunktionaler Jugendstill sei doch nicht der Vorläufer des Bauhauses: "Niemand weiß, welchen Weg der jung verstorbene Josef Maria Olbrich tatsächlich eingeschlagen hätte, wäre ihm eine längere Wirksamkeit beschieden gewesen. Es fällt schwer, gerade in ihm, einem Künstler mit überschießender Fantasie, einen Vorläufer des ausgenüchterten, am Industriewesen orientierten, kahlen weißen Bauhausstils zu sehen. Charakteristisch für Olbrich ist ja gerade - so wie für seinen Lehrer Otto Wagner in Wien - das unerschütterliche Festhalten am Ornament als dem Ausdrucksmittel einer sich dem Gemüt, der Natur, dem Poetischen öffnenden Kunstauffassung."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Mathildenhöhe, Darmstadt, Bauhaus

Film



Gilles Lellouches "Ein Becken voller Männer" scheint nur auf den ersten Blick eine der typischen französischen Komödien zu sein, diesmal über mittelalte Männer, die in Badeschlappen und mit Plauzen sich daran machen, im Synchronschwimmen etwas zu reißen. Aber SZ-Kritiker Fritz Göttler klärt auf: "Disziplin, die zur Abstraktion führt, das ist die Geschichte dieses Films, das Runde im Eckigen. Das Rechteck des Schwimmbeckens im Gegensatz zu den Formen des Wasserballetts, dem Kreisenden, Zirkulären, das auch die Form der Depression ist."

Weiteres: Dunja Bialas und Rüdiger Suchsland schreiben auf Artechock fleißig vom Filmfest München. Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt zum überraschenden Tod der Schauspielerin Lisa Martinek. Besprochen werden "Wo ist Kyra?" mit Michelle Pfeiffer (Standard) und Julian Rosefeldts heute Nacht im BR gezeigter Kunstfilm "Manifesto", in dem Cate Blanchett in zahlreichen Rollen diverse Kunst-Manifeste zum Besten gibt (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Die Wisch- und Weg-Mentalität des Streamings hat auch auf Rapmusik konkrete ästhetische Auswirkungen, erklärt Daniel Gebhardt in einem online nachgereichten Freitag-Artikel: Die Stücke werden im Kampf gegen Algorithmen und leicht verfügbarer Konkurrenz-Musik immer kürzer und verdichteter. "Nur noch Superstars wie Drake und das milliardenfach gestreamte Trio Migos aus Atlanta scheinen ihre Musik ohne Rücksicht auf das Hip-Hop-Playlisting vermeintlicher Tastemaker und tatsächlicher Algorithmen veröffentlichen zu können. ... Die unzähligen weniger populären Rapperinnen und Rapper setzen hingegen auf immer kürzere, in immer kürzerer Abfolge veröffentlichte Tracks. So wird nicht nur mehr Rapmusik als je zuvor produziert, sondern vor allem mehr schlechte." Interessant findet Gebhardt allerdings Earl Sweatshirt: "In den Systemfehlern und Ungereimtheiten von Big Data findet er Nischen, die es zu erforschen und einzurichten gilt."

Das Erbe des Komponisten Hans Werner Henze ist in Gefahr, warnt Marco Frei in der NZZ: Es geht um Henzes früheres Anwesen in Marino bei Rom. Noch ist es gut in Schuss, aber sollte es bis Ende des Jahres keinen Käufer gefunden habe, drohe Räumung und damit "der Verfall eines Kulturdenkmals erster Güte. Für die Musikwelt ein herber Verlust, für die angebliche Kulturnation Deutschland aber eine veritable Blamage."

Besprochen werden eine Aufführung von Karlheinz Stockhausens "Licht" in Paris durch das Musikkollektiv Le Balcon (SZ), ein Konzert des DSO unter Kent Nagano (Tagesspiegel), zwei Abende mit Diana Krall (Presse), die Auftritte von Sting, Elton John und Janet Jackson beim Jazzfestival in Montreux (NZZ), Felicity Lotts und Asmik Grigorians Auftritt beim Richard-Strauss-Festival in Garmisch-Partenkirchen (FAZ) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter Philip Baileys neues Soloalbum "Love Will Find a Way" (SZ). Das erste Stück daraus erinnert an Curtis Mayfield in seinen besten Zeiten - großartig:

Archiv: Musik