Vorgeblättert

Leseprobe zu Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner Mutter. Teil 1

26.04.2010.
Kapitel 3

Lügen lernen

Vor vielen Jahren erklärte mir ein Psychiater einmal, meine Probleme ließen sich auf die Geburt meines Bruders Mohammad zurückführen. Dieses Ereignis, meinte er, habe die Aufmerksamkeit meiner Mutter von mir abgelenkt und mich den "Tod" erleben lassen. Er war ein Anhänger der Lehre von Melanie Klein, und ich war ziemlich irritiert darüber, wie Klein - wie viele andere - alles auf ein Element reduzierte, in ihrem Fall den Tod. Wie könnten wir uns je vom Tod heilen? Bald schon begann ich mit ihm zu streiten und argumentierte gegen Melanie Klein, statt mich auf meine eigenen Probleme zu konzentrieren.
     Dennoch muss die Geburt meines Bruders ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Ich war noch keine fünf, aber ich erinnere mich an die Nacht, in der meine Mutter ins Krankenhaus gebracht wurde. Ich blieb mit der Haushälterin zurück, die meine Mutter liebte und verehrte und die wir alle Naneh nannten. Sie setzte sich mit mir auf die Vordertreppe, und dort warteten wir bis zum Morgengrauen darauf, dass mein Vater die Neuigkeit brächte. Naneh hatte ihre Taschen gepackt, weil sie gehen wollte, falls das neue Baby ein Mädchen war. Sie hasste Mädchen und hatte mich ein Jahr lang diesen Hass spüren lassen. Wenn sie durchs Haus lief, sagte sie Sätze wie: "Ein Mädchen ist wie eine Kerze am Tag, und ein Junge ist ein Licht in der Nacht." Sie weigerte sich, mich beim Namen zu nennen und bezeichnete mich immer nur als "Mädchen". Mutter war ihr so ergeben, dass sie meinen Beschwerden grundsätzlich keine Beachtung schenkte und immer für Naneh Partei ergriff .
     Ich glaubte, dass meine Mutter für Mohammad eine Art Liebe empfand, die sie für mich nie aufbrachte. Obwohl sie es später leugnete, sagte sie manchmal, als er auf die Welt kam, habe sie das Gefühl gehabt, hier sei nun der Sohn, der sie beschützen werde. Dass meine Mutter Männern, obwohl sie von ihnen so viel Leid erfahren hatte, ein solches Maß an Vertrauen entgegenbringen konnte, hat mich immer verwundert.
     Von da an waren wir selten allein oder uns nahe. Meine Sturheit, wie sie es nannte, ärgerte sie, und mich kränkten und belasteten ihre Ansprüche. Sie ließ mich ihre Kälte spüren, ich versuchte, ihre Klagen zu ignorieren.
     Ich sehnte mich nach Anerkennung, die sie mir nie gab. Sie lobte meine Leistungen, Schulnoten und dergleichen, aber ich hatte immer das Gefühl, sie irgendwie enttäuscht zu haben. Ich wollte von ihr geliebt werden. Ich leistete ihr Widerstand und tat gleichzeitig alles, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Als ich knapp sieben war, warf ich mich selbst die Treppe hinunter, die vom Haus zum Hof führte. Ein andermal, nicht lange danach, hörte ich sie mit einer Freundin über jemanden sprechen, der sich die Pulsadern aufgeschlitzt hatte, um Selbstmord zu begehen. Und so versuchte ich dasselbe mit dem Rasiermesser meines Vaters in meinem Zimmer vor dem Spiegel, als die verhasste Naneh hereinkam und, anstatt mich aufzuhalten, hinausging und nach meiner Mutter rief. Unbeeindruckt von meiner Verzweiflungstat gab mir Mutter für den Rest des Tages Stubenarrest.

Ich bin ungefähr fünf, Mohammad ist ein paar Monate alt, und wir sind gerade in ein neues Haus eingezogen. Die Fenster sind verhängt, und der Raum im Erdgeschoss ist kühl, abgedunkelt und sehr still. Meine Mutter setzt mich auf den Boden und geht vor mir in die Hocke. Sag mir jetzt, verlangt sie, wohin du und dein Vater letzten Donnerstag gegangen seid. Ins Kino, antworte ich. Wer war bei euch? Niemand. Sie stellt mir immer wieder dieselbe Frage. Sie sagt, wie sehr sie Lügner hasst. Eines solltest du von mir gelernt haben, sagt sie, dass man niemals, niemals lügen darf. Ich lüge nicht, antworte ich. Mir ist kalt, und ich habe Angst. Ich will, dass sie mich in den Arm nimmt und küsst, aber sie runzelt die Stirn. Man hat dich und deinen Vater mit einer Frau gesehen, stößt sie hervor. Sag es mir, drängt sie, sag es mir: Wer war die Frau?
     Da war keine Frau. Wir hatten heimlich einen guten Freund meines Vaters besucht, der gerade eine Frau geheiratet hatte, die meine Mutter nicht leiden konnte. Meine Mutter hatte beschlossen, keinen Umgang mehr mit ihnen zu pflegen. Aber mein Vater liebte seinen Freund und traf sich hinter ihrem Rücken weiter mit ihm.
     Danach redete sie ein paar Tage nicht mehr mit mir. Ich erinnere mich, dass sich meine Eltern zum ersten Mal auf eine neue Art stritten. Sie wurden laut und scherten sich nicht darum, ob ich oder die Dienstboten sie hören konnten. Ich horchte an Türen. Ich belauschte Mutters gedämpfte Unterhaltungen mit ihren Freundinnen, ihre verschwörerischen Gespräche am Telefon. Die "Frau", die sie im Verdacht hatte, war diejenige, die der Freund meines Vaters geheiratet hatte. Sie hieß Sima Khanum und war sehr attraktiv und sexy auf eine Art, wie meine Mutter es nie war. Sie war off enbar einmal mit meinem Vater so gut wie verlobt gewesen und hatte sich dann, als er geschäftlich unterwegs war, mit seinem besten Freund eingelassen und heiratete ihn später auch. Für Vater war das der erste große Liebeskummer gewesen. Meine Mutter, die die Sekretärin meines Vaters als Liebesbotin im Verdacht hatte, fragte mich in gleicher Weise nach ihr aus: Sie wollte wissen, ob ich je mit meinem Vater und Sima Khanum ausgegangen war.
     Ich nehme die Gehässigkeit in der Stimme meiner Mutter wahr und verstehe nicht, was sie bedeutet. Ich bin fünf. Ich weiß bis heute noch nicht, was es mit diesem Betrug, den sie meinem Vater vorwirft, auf sich hatte. Was mich bekümmert, ist ihr off ener Streit, sind die feindseligen Blicke meiner Mutter, die Geistesabwesenheit, mit der mein Vater mir den Kopf tätschelt und die angespannte Stimme, mit der er mir abends Gutenachtgeschichten erzählt. Dann nimmt sie plötzlich meinen Bruder und verlässt das Haus, lässt mich mit Vater und der verhassten Naneh zurück. Ich fühle mich abgelehnt und alleingelassen. Mein Vater ist zerstreut, und manchmal, wenn er mit mir spricht, kommt es mir vor, als führe er Selbstgespräche. Manchmal nimmt er mich ins Büro mit, wo ich die böse Sekretärin mit ganz neuen Augen sehe.
     Etwa zu dieser Zeit erfand ich meine erste Lügengeschichte. Sie war zwar eher einfach, erforderte aber doch einigen Einfallsreichtum. Mutter wohnte vorübergehend bei einer Freundin, und ich besuchte sie. Ihr Zorn war verflogen. In gewisser Weise war es schlimmer. Sie löcherte mich mit Fragen, um Beweise zu sammeln. Ihre Fragen waren nicht direkt, sondern doppelbödig. Hin und wieder wechselte sie einen Blick mit ihrer Freundin. Ich fühlte mich elend, einsam und ausgeschlossen. Ihr Versuch, mir Informationen zu entlocken, ihre verschwörerischen Blicke waren beängstigender als die direkten Anschuldigungen in dem kalten, dunklen Zimmer. Ich wünschte mir so sehr, dass sie wieder meine Mutter wäre, mich anlächelte und meine Hand hielt, dass ich zu einer Lüge griff, damit sie wieder nach Hause kam. Ich erfand eine Geschichte, in der Vater Frau Jahangiri - seine Sekretärin - im Büro zu Rede stellte und ihr befahl, ihre Freundin nie wieder zu erwähnen. Merkte sie nicht, dass er Sima Khanum nur ertrug, weil er mit ihrem Mann befreundet war?

Es ist verblüffend, wie oft wir instinktiv eine Situation voraussehen, insbesondere in unseren Beziehungen zu anderen Menschen - und wie wir ihr Verhalten uns gegenüber beeinflussen. Als meine Mutter mich der Lüge und Komplizenschaft mit meinem Vater bezichtigte, war ich unschuldig. Doch nicht lange danach bestand ihr Vorwurf zurecht. Irgendwie ließ sie uns keine Wahl. Keine Form von Loyalität war ihr je genug. In Wirklichkeit wünschte sie sich etwas, das wir ihr nicht geben konnten. Sie kehrte zwar bald nach Hause zurück, aber nichts war mehr wie früher. Ich ging mit meinen Vater dessen Freund besuchen und begleitete ihn später zu seinen beruflichen Terminen. Ich wurde seine engste Vertraute. Unsere Beziehung wurde durch den Kummer zementiert, den uns, wie wir meinten, meine Mutter zufügte.
     Dieser erste Versuch, mich auszuhorchen, hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Ich hasste sie nicht, dafür war ich wohl noch zu klein. Sie hat mich nie geschlagen, und doch fühlte ich mich verletzt. Ich wusste nicht, wie ich mich verteidigen sollte und empfand ein vages Schuldgefühl. Hätte ich gesagt, was sie von mir hören wollte, hätte ich etwa angefangen, über meinen Vater herzuziehen und behauptet, er habe mich gezwungen, Sima Khanum zu besuchen, wäre alles gut gewesen. Aber das tat ich nicht. Später gewöhnte ich mir dann an, ihr gar nicht mehr zuzuhören. Ich tat nur so, nickte zu allem, ohne ein Wort aufzunehmen. Ihre Stimme drang auf mich ein, und ich schob sie von mir und begann eine Unterhaltung mit einer imaginären Freundin, der ich Geschichten erzählte, die ich gehört oder gelesen hatte oder die ich erfand. Meine Fantasie war für mich zu einem Ort geworden, an dem ich als Königin über mein unermessliches, vielgestaltiges Reich herrschen konnte.

Ich bin ungefähr fünf. Es ist früher Abend. Vater ist gerade aus dem Büro gekommen. Er und meine Mutter streiten sich im Wohnzimmer hinter geschlossenen Türen, und ich drücke mich im Flur herum, aber ich weiß genau, sie streiten sich meinetwegen. Meine Mutter und ich hatten an diesem Tag ebenfalls einen Disput gehabt. Der Teufel, der nach Ansicht der Erwachsenen Kinder in Versuchung führt, hatte sich in mir eingenistet und mich angestachelt. Ich saß auf der Schaukel und wollte nicht zum Mittagessen kommen, als meine Mutter mich rief. Ich wusste, dass ich im Unrecht war, und ich wusste, dass ich dafür würde büßen müssen, aber ich konnte nicht anders.
     Der süße Geschmack dieser wenigen Augenblicke des Ungehorsams, in denen ich mich auf der Schaukel zurücklehne und die sanfte Brise auf meinem Gesicht fühle, liegt mir heute noch auf der Zunge. Ich schaukelte vor und zurück, vor und zurück. Als ich schließlich hineinging, mir die Hände wusch und am Mittagstisch erschien, war meine Mutter außer sich. Sie ließ nicht zu, dass mein Spielgefährte, der Nachbarssohn, bei uns aß, obwohl sie es vorher erlaubt hatte. Sie schickte ihn nach Hause. Gedemütigt saß ich am Tisch und weigerte mich zu essen. Je mehr sie mich drängte, desto weniger war ich imstande, nachzugeben. Ich spielte mit Löffel und Gabel. Ich knetete mein Brot zu Kügelchen. Als ich hinausgehen wollte, rief sie mich zurück und schickte mich auf mein Zimmer. "Warte, bis dein Vater nach Hause kommt", sagte sie, "dann werden wir dieses Problem ein für allemal lösen, da Eure Hoheit auf mich ja nicht hört. Wer bin ich schon, dass ich dir sagen dürft e, was du zu tun und zu lassen hast?"
     Ich blieb den ganzen Tag auf meinem Zimmer. Ich versuchte, mir Geschichten auszudenken, um mich aufzuheitern: Es war einmal ein unglückliches kleines Mädchen ... und dann? Es war einmal ... Ich gab auf. Stattdessen weinte ich kläglich und sah mir Bilderbücher an.
     Als mein Vater aus dem Wohnzimmer kommt, ist sein Gesichtdunkel vor Zorn. Aber wie immer bei solchen Gelegenheiten, kann ich spüren, dass sein Herz auf meiner Seite ist, er setzt dieses Gesicht nur meiner Mutter zuliebe auf. Warum hast du deiner Mutter nicht gehorcht?, fragt er. Ich sage nichts. Du musst dich entschuldigen, sagt er. Ich bleibe stumm. Tu, was ich dir sage, oder du kommst zur Strafe in den Keller. Mutter lässt sich nicht blicken,
aber die Tür steht offen und ich weiß, dass sie zuhört. Ich schweige. Also schiebt er mich zur Treppe. Ich will keine Rebellin in meinem Haus, sagt er laut und wenig überzeugend. Nach allem, was deine Mutter für dich getan hat ... Warum, will er wissen, warum denn nur? Auf dem Weg nach unten wird seine Stimme weicher, fast flehentlich. Wenn du dich entschuldigst, ist die Sache erledigt, sagt er leise. Komm, Azi, sei vernünftig.
     Er weiß, wie sehr ich mich im Keller fürchte. Er ist feucht und modrig und schlecht beleuchtet. Wir benutzen ihn als Lagerraum, und im Winter ist ein Seil gespannt, an dem Wäsche hängt. Im hinteren Teil ist der Kohlenkeller, und ich stelle mir vor, dass dort ein böses, bedrohliches Wesen lauert und auf mich wartet. Vater lässt mich mit dem Rücken zum Kohlenkeller stehen. Ich habe das Gefühl, das Wesen beobachtet mich, ich dagegen kann es nicht sehen. Du bleibst hier, bis ich dich holen komme, sagt er. Ich stehe wie angewurzelt da, und ein Teil von mir registriert, dass er weggeht. Ich verstehe es nicht, und das wird mir auch später noch so gehen; es wird immer wieder Situationen geben, in denen ich mich verraten fühle.

Teil 2