Vom Nachttisch geräumt

Nur was du geben kannst, ist deins

Von Arno Widmann
29.10.2018. Die Musikerin Anna Goldsworthy setzt in "Piano Lessons" ihrer Klavierlehrerin ein kleines Denkmal.
Anna Goldsworthy, geboren 1974 in Adelaide, Tochter eines berühmten australischen Dichters, ist eine bekannte Konzertpianistin und Mitbegründerin des Trios Seraphim. In "Piano Lessons" schreibt sie nicht über den Klavierunterricht, den sie erteilt, sondern den, den sie als kleines Mädchen bekam. Das Buch gehört zu dem von mir geliebten Genre "Menschen, die man nicht vergisst". Damit die Texte gut werden, muss darin von Menschen erzählt werden, die niemand kennt, die aber für den Autor lebenswichtig waren. Wie der Deutschlehrer, das Mädchen aus dem Haus gegenüber oder das Orang-Utan-Weibchen im Frankfurter Zoo. Anna Goldsworthy schreibt über Mrs. Sivan, eine russische Emigrantin, die ihr Großvater als Klavierlehrerin für seine neunjährige Enkelin ausgesucht hatte.

Annas Vater Peter Goldsworthy hatte die Klavierstunden seiner Tochter schon 1989 als Ausgangspunkt seines Romanes "Maestro" genommen. Der erzählt die Geschichte eines vor den Nazis geflohenen Klavierlehrers und von dessen Einfluss auf die Entwicklung seines Schülers. 2009 gab es eine Bühnenfassung des Romans. An der hatte Anna Goldsworthy mitgearbeitet. Im selben Jahr erschien auch "Piano Lessons", ihr Buch über ihre Lehrerin und ihre Beziehung zu ihr. Ein Entwicklungs- ein Bildungsroman auch das. Peter Goldsworthys Roman "Maestro" gibt es schon lange auf Deutsch. Jetzt also auch Anna Goldsworthys Buch. Gleich am Anfang erklärt die Lehrerin dem Kind und dessen Eltern: "Wir unterrichten nicht Klavierspiel… Wir unterrichten Philosophie und Leben und Musik verdaut. Musik gehört dir. Instrument bist du…Musik ist nicht nur Spielen von richtige Noten in richtiger Zeit, aber Verdauung ganz wichtig. Ist enorme Arbeit, aber so bereichernd, und so macht Leben lebenswert!"

Man fängt an zu spielen, zeigt ihr die Lehrerin, wenn man bereit ist. Man konzentriert sich. Man startet nicht einfach los. Ein Musikstück ist eine Erzählung. Es hat einen Anfang ein Ende und einen Weg dorthin. Den Weg muss man begreifen und begreiflich machen. Ein Musikstück ist keine Abfolge einfacher und schwieriger Fingersätze. Es geht nicht um Artistik. Musik ist kein Sport, sondern eine Sprache. Wie ich es hier hinschreibe, klingt es banal. Bei Anna Goldsworthy begreift man, was Mrs. Sivan in dem Kind in Bewegung setzt. Natürlich hat sie es überfordert. Aber Kinder wollen wissen und sie wollen immer mehr wissen. Die Arbeit am Klavier, das beginnt der ganz unkundige Leser schon bald zu begreifen, hat den Vorteil, dass es immer auch eine Ebene gibt, auf der man sehr gut sehen kann, ob man Fortschritte macht oder nicht. Das ist der sportliche Aspekt, den Mrs. Sivan ja nicht übersah oder gar ausließ. Sie wusste ganz genau, dass der Körper des Kindes es genießen würde, diese Schwierigkeiten zu meistern. Sie wusste aber auch, dass es darum nicht geht. Virtuosität ist kein Wert an sich. Es geht darum, was man so virtuos mitteilt. Der Philosoph und Chemiker Georg Christoph Lichtenberg notierte einmal "Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht." Der Komponist Hanns Eisler übertrug das bereits und erklärte: "Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nicht." So sentenziös, so wie in Stein gehauen hätte Mrs Sivan es niemals gesagt, aber das war es, was Anna Goldsworthy von ihr lernte.



"Nur was du geben kannst, ist deins." Darum gehört das Auftreten, der Vortrag zum Lernen dazu. Man lernt nicht etwas, packt es dann ein und gibt es weiter, sondern beim Weitergeben lernt man dazu. Jedes Mal. Naja, sicher nicht jedes Mal. Routine gibt es auch. Aber zu den Lektionen von Eleonora Sivan gehört, dass die Routine nur dann ein Weg zur Kunst ist, wenn man in der Lage ist, sie wieder abzulegen, nachdem man sie errungen hat.

Anna Goldsworthy: Piano Lessons - Mein Weg in die Musik, aus dem Englischen von Dieter Fuchs, Urachhaus, Stuttgart 2018, 271 Seiten, 24 Euro.