9punkt - Die Debattenrundschau

Mein letztes Aufbäumen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2015. In der NZZ schreibt Najem Wali mit Blick auf den "Islamischen Staat": Dieses Ungeheuer wurde großgezogen. Im Standard spricht der britisch-indische Schriftsteller Rana Dasgupta über die Verlierer des Umbruchs in Indien. Im Tagesspiegel sucht Klaus Staeck nach Gegenmodellen für den Kunstmarkt. Und Wirtschaftsmedien fragen: Was bedeutet Apples Einstieg ins Fernsehgeschäft?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2015 finden Sie hier

Politik

Der Schriftsteller Najem Wali verfolgt in der NZZ mit Bitterkeit die Spur der kulturellen Vernichtung, die der Islamische Staat in Syrien und Irak hinterlässt, und warnt vor einer Talibanisierung der arabischen Gesellschaft. Und er konstatiert: "Wer behauptet, dass das Vorgehen des Islamischen Staats nichts mit der arabischen Geschichte und unserer Kultur zu tun habe, liegt falsch; ebenso jene meist westlichen Stimmen, die das Phänomen IS einzig aus dem Islam heraus erklären wollen. Diese Erklärungsversuche greifen zu kurz: Nicht deshalb, weil wir - hätte es in vergangenen Zeiten schon Fernsehkameras und Youtube gegeben - die Zerstörungswut von Armeen und Mobs in aller Welt bezeugt sehen könnten, sondern weil der Islamische Staat ja nicht von ungefähr zu Geld und Waffen kam. Zumindest eine Zeitlang haben andere Staaten dieses Ungeheuer großgezogen."

Im Interview mit Ruth Renée Reif spricht der britisch-indische Schriftsteller Rana Dasgupta im Standard über Indiens rabiaten Kapitalismus, die Armut auf dem Land und die Verlierer des Umbruchs: "Der Unternehmenssektor wird von Hindus dominiert, und der Hinduismus ist keine soziale Religion. Die Muslime wurden aus vielen Bereichen der Wirtschaft systematisch ausgeschlossen, nicht per Gesetz, aber in der Praxis. Insbesondere für muslimische Männer ist es schwer, die Zulassung zu einer Universität zu bekommen, eine Wohnung zu mieten oder eine Anstellung zu erhalten. Es waren die Hindus, die in diesem wirtschaftlichen Aufbruchprozess der letzten Jahre reich wurden. Unter ihnen herrschen Furcht und Misstrauen gegenüber den Muslimen. Diese Ressentiments sind heute sogar noch stärker."

Weiteres: Jan Feddersen wünscht sich in der taz Olympia als linke, sozialökologische Bewegung.
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Europa

Jan Fleischhauer staunt in seiner Spiegel-Online-Kolumne über Putins Eingeständnis, dass er die Annexion der Krim schon plante, als er die Welt noch in Sotschi zu Gast hatte: "Schwer zu sagen, was einen mehr verblüffen soll: die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Lügenfassade eingerissen wird, die man vorher aufgebaut hatte - oder die achselzuckende Nonchalance, mit der im Lager der Russlandfreunde solche Enthüllungen zur Kenntnis genommen werden."

In der SZ berichtet Julian Hans unter Berufung auf die Nowaja Gaseta von weiteren Hinweisen im Fall Boris Nemzow: Demnach seien weitere hochrangige Mitglieder des Bataillon Sewer an dem Mord beteiligt, das als Teil der 46. Brigade des Innenministeriums in Grosny stationiert ist: "Das Blatt glaubt, dass es am Präsidenten selbst liege, bis zu welcher Ebene der Mord aufgeklärt wird."

Tatjana Montik besucht für die NZZ den Schauspieler und Sänger Vachtang Kikabidze, einst "das Gesicht Georgiens in der Sowjetunion", in Tbilissi. Seit dem Krieg der Russen gegen Georgien zum "Schutz" der abtrünnigen Provinz Südossetien, boykottiert er Russland: "Vachtang Kikabidze glaubt, das georgische Szenario von 2008 werde nun in der Ukraine von den Russen wiederholt. Damals verlor Georgien zwanzig Prozent seines Landesgebiets, Abchasien und Südossetien; beide wurden zu russischen Marionettenstaaten. Ein Rezept für die Versöhnung Georgiens mit Russland kenne er nicht, denn wie sehr sich sein Land auch darum bemühen möge, werde Putin doch seinen eigenen Plan durchsetzen wollen: die Wiederherstellung der Sowjetunion."

Stefan Brändle porträtiert in der Berliner Zeitung den antisemitischen Komiker Dieudonné, der viele Fans unter Banlieue-Jugendlichen und permanent Ärger mit der Justiz hat: "Dem katholisch erzogenen Humoristen ist Religion und der Islam im Grunde genommen so unwichtig wie den Charlie-Machern. Ihm geht es auch nicht um die Meinungsfreiheit. Sein Steckenpferd, ist die "Opferkonkurrenz" von Holocaust und Sklaverei."

Einen bemerkenswerten Wandel in der französischen Sprachenpolitik beobachtet Matthias Heine in der Welt: Kulturministerin "Fleur Pellerin will die englischen Neuwörter jetzt nicht als Eindringlinge betrachten, sondern als Präsente: "Einige Sprachen, wie das Englische heute und das Italienische in der Vergangenheit, haben sich als besonders großzügig erwiesen, indem sie das Französische mit Hunderten von neuen Wörtern beschenkt haben.""

Weiteres: Die Zeit hat ihr Interview mit Orhan Pamuk vom 19. Februar (unser Resümee) online gestellt.
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Kulturpolitik

In der FAZ wundert sich Jürgen Kaube über den Rektor der Freiburger Universität, Hans-Jochen Schiewer, der trotz persönlicher Interventionen Kaubes nicht verstanden hat, dass er den Lehrstuhl Martin Heideggers nicht einfach umwidmen darf. Schiewer, dessen Namen Jürgen Kaube nicht über die Lippen bringt, äußerte sich in der Süddeutschen zum Thema: "Nein, ich verstehe die Aufregung ganz und gar nicht. Weil wir die Professur ja auch nicht streichen, sondern mit dem Schwerpunkt Neuzeit und Moderne als Tenure-Professur wieder ausschreiben. Zudem wird sie so gut ausgestattet sein wie derzeit kaum eine andere Professur an unserem Philosophischen Seminar."
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Kulturmarkt

Im Tagesspiegel erklärt Klaus Staeck, warum er kurz vor Schluss noch einmal die Ausstellung "Kunst für alle" als Feier des Multiplen in der Berliner Akademie der Künste organisiert: "Die Frage ist doch, inwieweit man sich von diesem hypertrophen Kunstmarkt anstecken lässt, oder ob man anfängt wieder darüber nachzudenken, Gegenmodelle zu schaffen. Die Ausstellung ist als Anregung gedacht, dem Wahnsinn des Marktes etwas entgegenzusetzen. Im Mai höre ich als Präsident der Akademie der Künste auf. Das ist mein letztes Aufbäumen hier."

Kia Vahland ärgert sich in der SZ über Abzocker wie Helge Achenbach und Wolfgang Beltracchi, die sich als Mischung aus Schlitzohr und Robin Hood inszenieren: "Mal ein Linker gewesen zu sein, der für den chilenischen Präsidenten Salvador Allende schwärmte, schadet hier gar nichts, im Gegenteil: Es passt zum Bild des Rebellen, der nun zwar nicht mehr im Dienst der Revolution, sondern für die eigene Sache kämpft, dies aber mit der gewitzten Dreistigkeit von einst."

Der Langenscheidt-Verlag baut massiv Personal ab, meldet buchreport.de: 29 von 90 Mitarbeitern müssen mit betriebsbedingten Kündigungen rechnen.
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Medien

(Via turi2) Apple wird in den USA ab September mit einem Streamingdienst für Kabelfernsehen starten, berichtet (nicht online) das Wall Street Journal. Die monatlichen Preise sollen für US-Verhältnisse sehr günstig sein, man rechnet mit 20 bis 30 Dollar im Monat. Steve Kovach vergleicht dies in businessinsider.com mit den Preisen, die er selbst zur Zeit zahlt: "Ich zahle Time Warner Cable 65 Dollar im Monat für das Netz (früher 45 Dollar, aber das war ein Einführungsangebot für zwei Jahre). Ich gebe auch 8 Dollar für Netflix aus und nochmal 8 Dollar für Hulu. Ich bin ein großer "Mad Men"-Fan und kaufe mir jedes Jahr den Season Pass für 45 Dollar. Das macht 81 Dollar im Monat für meine Unterhaltungsbedürfnisse... Wenn ich nun noch Kabel hätte, kämen nochmal 50 Dollar hinzu, plus 10 Dollar für den digitalen Videorekorder, macht alles in allem 140 Dollar... Apples Lösung klingt besser." (Via Mediagazer) Laut Claire Atkinson in der New York Post will Apple seine Fernsehpartner durch die Weitergabe von Nutzungsdaten von dem preiswerten Modell überzeugen.

Weiteres: Christoph Neidhart beschreibt in der SZ, wie Japans Regierung kritische Zeitungen wie Asahi Shimbun unter Druck setzt - als Vergeltung für die Berichte über die Versklavung von Koreanerinnen im Zweiten Weltkrieg. Silke Burmester kann in der taz die Aufregung der heute-Show nicht verstehen, derzufolge auf einen russlandfreundlichen Bericht ganze 7,46 kritische Berichte kämen: "Ich bin dringend dafür, die Zahl auf 98,2 zu erhöhen."
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