Magazinrundschau

Landschaft des Verstehens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.06.2018. Jetzt wird schon mit Hilfe der Virtual Reality Jagd auf Flüchtlinge gemacht, ächzt Wired. Die Republik recherchiert, wie der  FC Kreml für sich die Fußball-WM klarmachte. In Magyar Narancs spürt Imre Bartók seinem Widerwillen gegen die Ordnung nach. Der Guardian ermittelt in der Welt der Kunstfälscher. Die New York Times reitet mit John Kidd, dem Gaucho der James-Joyce-Exegese, gegen die Gauleiter der Wirtschaftlichkeit.

New York Times (USA), 17.06.2018

Jack Hitt erzählt die bizarre Geschichte des Bostoner Joyce-Experten John Kidd, der auszog, die ultimative Edition des "Ulysses" zu erschaffen - und sich im Klein-Klein eines Akademikerstreits verhedderte, um dann wie vom Erdboden zu verschwinden. Auch wenn Gerüchte intriganter Kollegen Kidd bereits für tot erklärten, fand der Reporter ihn quicklebendig in Rio de Janeiro: "Ich fragte ihn erneut zum perfekten 'Ulysses'. Er war so nah dran. In den 1960er Jahren und noch einmal in den 80ern. Was wurde aus seiner Arbeit in Boston? Warum können wir das Ding nicht einfach herausbringen, selbst, wenn es nicht ganz perfekt ist? Kidd erzählte mir eine Parabel. 'Es gibt die Gauchos und die Gauleiter, meinte er. Es handelt sich um eine gemischte Metapher, aber eine, die Kidds Weltsicht und die der Joyce-Gelehrten ganz gut einfängt. Gauchos waren argentinische Cowboys, Gauleiter waren Gemeinde-Bürokraten im Nationalsozialismus, gefährliche Appartschiks also. Die Gauchos reiten kühn durch die Landschaft des Verstehens. 'Sie schweifen durch die Pampa', so Kidd. Sie kümmern sich um ein riesiges Gebiet, mit dessen Weite sie vertraut sind. Zur gleichen Zeit am Rand der Pampas, in der Zivilisation, da sind die Gauleiter. Sie sind überall, geschäftig, übermächtig. Die Gauchos sind nur wenige, Bilderstürmer wie Kidd oder der vereinzelte Joyce-Fanatiker wie Jorn Barger, ein Universalgelehrter, der viele brillante Analysen zu Joyce auf seinem Weblog veröffentlichte. Aber all das zählt nicht, meint Kidd. Am Ende siegen stets die Gauleiter. Und weshalb? Wegen ihrer verbissenen Sorge um eine 'verwaltungsmäßige Wirtschaftlichkeit'."

In der Book Review der New York Times zollt Alan Rusbridger einem Urgestein des Journalismus Tribut. Die Autobiografie des investigativen Reporters Seymour Hersh vom New Yorker hält er für ein eigenes Reportageglanzstück: "Die beharrliche Recherche wird oft als Schuhsohlen-Journalismus bezeichnet - sich die Hacken ablaufen, statt zu googlen. Im Fall von Hersh bedeutete das lange Stunden in Bibliotheken zuzubringen oder auch in letzter Minute in ein Kaff zu fliegen, um einen widerborstigen Zeugen zu jagen. Es hieß, mitten in der Nacht an fremde Türen zu klopfen, zu lernen, Dokumente auf dem Kopf zu lesen, während man vorgab, sich Notizen zu machen, und pensionierte Generäle zu bearbeiten, Empathie zu zeigen, Vertrauen zu gewinnen … Es war hart zu sehen, wie Hershs Berichte von 2014 und 2017 über chemische Kriegsführung in Damaskus von dem britischen Blogger Eliot Higgins auseinandergenommen wurden, der Hershs Beschränkung auf einige wenige ungenannte Quellen kritisierte. Higgins gehört zu einer neuen Art Reporter, enzyklopädisch informiert über die Waffensysteme im Syrien-Konflikt, mit Videomaterial, allerhand Quellen und Satellitenfotos ausgestattet. Hersh nimmt solche Herausforderungen an und spricht von der 'Wahrheit, wie ich sie vorfand'. Die Erschöpfung des 80-Jährigen ist zu spüren, wenn er sagt: 'Ich erlaube der Geschichte gerne, meine jüngere Arbeit zu beurteilen' … Wir brauchen Reporter wie Hersh, Skeptiker, die an nichts einfach so glauben, die den schweren Weg gehen, um unter die Oberfläche von Glanz und Schrott, Täuschung und Manipulation zublicken. 'Wenn deine Mutter sagt, sie liebt dich, überprüf es', nach diesem Motto handelte Hersh … Werden Nachrichtenportale irgendwann noch einmal in der Lage sein, ihren Reportern die Resourcen und die Zeit zur Verfügung zu stellen, um die Art von Arbeit zu machen, wie Hersh sie in seinen besten Zeiten so großartig erbrachte?"
Archiv: New York Times

Intercept (USA), 27.05.2018

In seinem Buch "Mistaken Identity: Race and Class in the Age of Trump" kritisiert der Politologe Asad Haider die unter Linken so beliebte Identitätspolitik, weil sie soziale Bewegungen gegen Unterdrückung eher behindert als fördert. Im Interview mit Rashmee Kumar erklärt er das genauer: Schon der Begriff der Rasse sei ein Produkt des Rassismus, nicht umgekehrt, und er diente im 18. Jahrhundert in Virginia dazu, schwarze und weiße Arbeiter auseinanderzudividieren: "Die erste Kategorie von Rasse, die der weißen Rasse, wurde erfunden, um afrikanische Zwangsarbeiter aus einer Kategorie auszuschließen, in die europäische Zwangsarbeiter eingeordnet wurden: die Knechtschaft der Weißen sollte ein Ende haben können, die Versklavung der Schwarzen sollte lebenslänglich sein. Das ist der Beginn der Einteilung von Menschen in rassische Kategorien in den USA. Rassismus begründete in diesem Fall die Einführung verschiedener Formen der wirtschaftlichen Ausbeutung und wurde schließlich zu einer Form der sozialen Kontrolle, die die Ausgebeuteten durch die Einführung von Hierarchien und Privilegien für einige Menschen spaltete. Dies hinderte sie daran, ein gemeinsames Interesse [zwischen europäischen und afrikanischen Zwangsarbeitern] zu erkennen und eine gemeinsame Front gegen diejenigen aufzubauen, die sie ausbeuten."
Archiv: Intercept

Tablet (USA), 17.06.2018

Auch Claire Lehmann will von Identitätspolitik, wie sie heute praktiziert wird, nichts wissen. Zum Teil ist es einfach eine Karrierestrategie, auf seinen angeblich verletzten Gefühlen rumzureiten, meint sie. Zum anderen ist Identitätspolitik genau das Gegenteil von Multikulturalismus: "Menschen haben eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Solidarität - auch mit denen, mit denen sie nicht verwandt sind -, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Nachbar in ihrem Team ist. Ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Bindungen helfen den Menschen, kulturelle, ethnische oder religiöse Unterschiede zu überwinden. Wenn AktivistInnen die Unterschiede zwischen den Kulturen betonen und versuchen, Grenzen zu ziehen und diejenigen zu bestrafen, die aus der Reihe tanzen, dann schafft dies die Voraussetzungen für eine Eskalation von Intoleranz und Spaltung. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie Erfolg haben."
Archiv: Tablet