Heute in den Feuilletons

Zerfallendes Kulturmolekül

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2009. Im Solinger Tageblatt fürchtet der Verfassungsrichter Udo Di Fabio, dass das Internet nicht nur die freie Presse, sondern auch das bürgerliche Individuum kaputtmacht. In der Berliner Zeitung erklärt Peter Glaser wie Digitalisierung atomisiert. Die Medienblogs berichten über Ärger bei der Berliner Zeitung. Die FAZ greift den Fall Tariq Ramadan auf, der von der Universität Rotterdam rausgeschmissen wurde, weil er für einen iranischen Staatssender arbeitet. In der taz meint Chaim Noll: Die DDR hätte früher untergehen können, wenn Kohl sie nicht unterstützt hätte.

Weitere Medien, 25.08.2009

Wir hätten's ohne Twitter nicht gefunden: Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat zum 200. Geburtstag des Solinger Tageblatts (Gratuliere!) einer Rede über die für eine freie Öffentlichkeit unerlässliche Presse gehalten. Das Internet, so Di Fabio, unterminiert durch anonyme Angebote wie Wikipedia den in der Moderne gewonnenen Begriff des Indviduums, auf den Demokratie aufbaut: "Nicht mehr die Bürger, die mit ihrer Arbeit, ihrem gebildeten Verstand das Publikum als eigentliches Subjekt der öffentlichen Meinung bilden, sondern der ununterbrochene Strom eines Konglomerats aus Kommerz und Emotion, aus Information und Unsinn, aus gesteuerter Ordnung und wildem Zufall wird zum Herrschaftssubjekt, tauscht die neuen Ideale der Direktheit, des unmittelbaren Effekts, auch der totalen Gleichheit des Zugangs gegen den Anspruch, die Welt nach Menschenmaß in einem diskursiven Prozess, mit Mehrheit in einem förmlichen Verfahren demokratisch zu gestalten." Die Passagen über das Internet stehen im nicht ganz leicht zu findenden zweiten Teil der Rede.

Aus den Blogs, 25.08.2009

Ärger bei der Berliner Zeitung, bei der DuMont Schauberg Rationalisierungspotenziale entdeckt, von denen Heuschrecke Montgomery nicht zu träumen wagte, meldet kress.de: "Der Verlag hat mittlerweile bestätigt, dass die Berliner Zeitung ihren Wissenschaftsteil in Zukunft aus Frankfurt beziehen soll. Umgekehrt kommt die Medienberichterstattung für Frankfurt fortan aus Berlin. Zudem gibt es Pläne, wonach die Berliner Zeitung auch große Teile ihrer Wirtschaftsinhalte aus Frankfurt beziehen soll." Bei turi2 ist ein offener Brief der Redaktionsversammlung aus Berlin zu lesen.

Jeffrey Wells scheint auch nach längerem Nachdenken noch nicht recht einverstanden mit Tarantinos ruhmlosen Basterden: "IGB is smug, low-grade, wafer-thin cinematic shite. It's popular because it allows the pseudo-hip to fancy themselves as genuinely hip by winking at them over and over and saying, 'Get it guys? It's just a movie. We're just havin' fun with the WWII mythology! Yeaaahhh!'"

(Via Cargo) Auch in Deutschland geht die in Deutschland nur im Feuilleton nicht geführte Debatte weiter. Michael Girke schreibt im Freitag-Blog: "Wovon, bleibt zu fragen, soll das Ereignis Tarantino wen im Jahre 2009 befreien? Das Kino von dem in ihm vorherrschenden Spiel-, Spaß-, Metzel- und Phantasieverbot? Die Geschichte von ihrem tatsächlichen Verlauf? Juden etwa von der Unterdrückung ihrer Rachephantasien?"

Twitter soll den "Basterds" an den amerikanischen Kinokassen geholfen haben, schreibt Adam Ostrow in Mashable: "The so-called 'Twitter effect' either sees a movie?s opening weekend numbers increase or decrease on Saturday and Sunday based on the 140 character reviews coming out from early viewers on Fridays."

Das Blog Techcrunch engagiert sich seit längerem gegen das Händeschütteln und ist begeistert über eine entsprechende Maßnahme der deutschen Stadt Würzburg:


Stichwörter: Berlin, Deutschland, Zukunft, Würzburg

FR, 25.08.2009

Sebastian Moll unterhält sich zum 400-jährigen Bestehen New Yorks mit dem Autor James Sanders über die Anfänge der Stadt und ihre kommerziell erforderliche Multikulturalität: "New York war von Anfang an Teil eines globalen Wirtschaftsunternehmens, der East India Trading Company, einer der ersten Weltkonzerne, wenn Sie so wollen. Das hatte zur Folge, dass New York eine multikulturelle Stadt war. Es gab schon damals keinen Ort auf der Welt, an dem so viele Menschen aus aller Herren Länder so eng zusammen lebten. Zunächst waren es vor allem belgische und holländische Hugenotten. Dann kamen schnell andere dazu - afrikanische Sklaven, englische und französische Siedler, Juden, die aus Südamerika geflohen waren und hier Asyl fanden. Es herrschte eine moderne, kosmopolitische Atmosphäre, während die Puritaner noch im Mittelalter lebten."

Weiteres: Ina Hartwig sortiert ihre Erinnerung an die letzten Tage der DDR: "Ein neonhelles Fischrestaurant nahe des Alexanderplatzes, wo die Krautsalat kauenden Soldaten der NVA sehnsüchtige Blicke auf die jungen Westmänner warfen. Blicke, die erwidert wurden." Judith von Sternburg erkennt bei der Ansicht der Seite One and Other, die dem Menschen ein Denkmal auf dem Trafalgar Square setzt: "Der Mensch wird unterschätzt."

Auf der Medienseite ist Arno Widmann ganz glücklich mit dem Nichtzustandekommen des Springer-Tribunals: "Die ganze Tribunals-Idee war von Anfang an eine Farce. Nicht weil das Thema uninteressant wäre. Sondern weil es niemals um Selbst-Aufklärung ging."

Besprochen werden Isa Genzkens Ausstellung "Sesam, öffne dich!" im Kölner Museum Ludwig, Willy Deckers Inszenierung von Schönbergs Oper "Moses und Aron" in Bochum, Händels "Israel in Egypt" (das John Eliot Gardiner nicht in der "sanft-bröseligen Müsli"- Version dirigiert hat, wie es laut Bernhard Uske derzeit en vogue ist), Klaus Lauers Alpenklassik in Bad Reichenhall und Thomas Glavinics Roman "Das Leben der Wünsche" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 25.08.2009

Atomisierung durch Digitalisierung. Der Internetpionier Peter Glaser (sein Blog) versucht, die Medienrevolution auf den Begriff zu bringen - sie zerstört den Status des "Werks": "Zu den prominenten zerfallenden Kulturmolekülen gehören: das (Schallplatten- oder CD-) Album, das bisher eine Handvoll Stücke von Musikern zusammenfasste, eine Schaffensperiode; die Welt-Ordnung in einer Zeitung, in 'Bücher' und Rubriken strukturierte Texte und Bilder; oder die Dramaturgie eines Films, die sich gewöhnlich über eine oder anderthalb Stunden erstreckt - Filme werden jetzt tranchiert in zwei, drei Minuten lange Clips, die sich danach auf YouTube versuchsweise zu neuen Molekülen konfigurieren. Zu vagen Wolken aus Lieblingsstellen, Pointen, Fan-Parodien und Remixes."

Hier zum Beispiel eine auf das Wesentliche zusammengeschnittene Fassung von "The Big Lebowski":


NZZ, 25.08.2009

Ungeheuer findet Andrea Köhler Herta Müllers Roman (hier eine Leseprobe) "Atemschaukel": "Wenn Kafkas vielzitierter Satz von der Literatur, die eine Axt sein müsse 'für das gefrorene Meer in uns', auf ein Buch zuzutreffen vermag, dann ist es Herta Müllers Roman 'Atemschaukel'. Dabei geht es in ihrem Buch über das Schicksal der rumäniendeutschen Zwangsarbeiter in Stalins Straflagern weniger um das gefrorene Meer in uns als um die Dimensionen der Kälte an sich - jener der russischen Winter in Stalins Arbeitslagern und der des menschlichen Herzens. 'Atemschaukel' ist ein Buch über die Frage, was der Mensch auszuhalten vermag."

Weitere Artikel: Lobende Worte findet Carsten Krohn für Holger Kleines "zurückhaltende" deutsche Botschaft in Warschau. Alfred Zimmerlin berichtet vom Festival "Les Jardins Musicaux" im neuenburgischen Cernier.

Besprochen werden zudem Kjell Westös Roman "Wo wir einst gingen" und Till Brieglebs Essay "Die diskrete Scham".

Welt, 25.08.2009

Im darbenden Klassikmarkt geht es auch den Konzertdirektionen immer schlechter, die jenseits des subventionierten Betriebs die Konzerte der Klassikstars organisieren, schreibt Manuel Brug. Und dann drängen sich auch noch Popagenturen in den engen Markt! Einer der Gründe für den Niedergang: "Immer weniger Leute wollen sich in Abonnement-Reihen festlegen - dabei waren diese für die Vorfinanzierung extrem wichtig. Man geht lieber spontan oder verbindet den Kunstgenuss bei den vom Alltag enthobenen Musikfestivals mit einem Kurzurlaub."

Weitere Artikel: Marko Martin mokiert sich sanft über die Polen, die es immer noch schaffen, sich über ein Konzert der doch auch katholischen Sängerin Madonna aufzuregen. Peter-Hans Göpfert hat sich die Premiere von Rolf Hochhuths Stück "Sommer 1914" angesehen, die bekanntlich nur nach einigem Hin und Her und an einem Ersatzort zustande kam - und dennoch kaum auf Publikumsinteresse stieß. Uta Baier berichtet, dass Werner Tübkes monumentales Propagandagemälde "Arbeiterklasse und Intelligenz" nun wieder in Leipzig aufgehängt wird, und zwar in jenem Uni-Neubau, der in hämischer Geschichtspolitik an die Stelle der 1968 gesprengten Paulinerkirche gesetzt worden war.

Auf der Magazinseite erzählt Viktoria Unterreiner, dass die Stadt Chicago nicht recht weiß, was sie mit ihrem Postamt anfangen soll, ein düsterer Bau, in dem heute ab und an Batman-Filme gedreht werden, und einst das größte Postamt der Welt mit 5.000 Mitarbeitern.

TAZ, 25.08.2009

Ulrich Gutmair und Manuel Karasek unterhalten sich mit Chaim Noll, Sohn des seinerzeit bekannten DDR-Schriftstellers Dieter Noll, und selbst Schriftsteller, der 1989 eine offensichtlich schonungslose Abrechnung mit der untergehenden DDR veröffentlicht hat, "Der goldene Löffel". Mit diesem Roman, so Noll, wollte er zeigen, "dass es zu Ende ist mit der DDR. Als ich mit dem Buch anfing, war das noch nicht klar. Bis in den Sommer 1989 glaubten ja viele, auch im Westen, dass das ewig noch so weitergeht. Die Regierung Kohl hat durch ihre Geldzahlungen das Regime unnötigerweise bis zum Schluss gestützt. Wenn es nicht so viel Unterstützung aus dem Westen gegeben hätte, wäre das schneller kaputtgegangen." Der Roman ist jetzt im Verbrecher Verlag neu veröffentlicht worden.

Weitere Artikel: Isolde Charim legt eine gesellschaftstheoretische Kolumne vor: "Es gibt also nicht nur Eingeschlossene und Ausgeschlossene. Es gibt auch noch ein Drittes - die Unterschicht mit ihrem paradoxen Status."

Besprochen werden die Ausstellung "Entre deux actes - Loge de comedienne" in Baden-Baden, in der es um Kunst und Design geht, und das in Weimar uraufgeführte Stück "Utopia" des Schweizer Komponisten Thomas Kessler.

Und Tom.

SZ, 25.08.2009

Reinhard J. Brembeck hörte in Luzern Mahlers Vierte mit Claudio Abbado und dem Lucerne Festival Orchester und schwebt immer noch an der Decke. Die Lucerner gaben ihm das Gefühl, "nie wirklich ein Orchester gehört zu haben. Das ist natürlich eine Illusion, da alle Luzerner Musiker auf den gleichen Instrumenten spielen wie ihre Kollegen. Aber sie musizieren um einen Deut anders: freier, gelassener, unaufgeregter. Und obwohl sie frappant gut spielen, hat der Hörer seltsamerweise danach nicht das Gefühl, dass das Orchester frappant gut gespielt hat. Sondern er denkt, dass Musiker immer so gut spielen müssten, um überhaupt den Rätseln solch einer Partitur auf die Schliche zu kommen." (Überprüfen kann man das am 30. August ab 19 Uhr bei Arte)

Weitere Artikel: Johan Schloemann beklagt, dass heute jeder Hans und Franz ohne viel Aufwand den Doktor machen kann. Bernd Graff informiert nun auch die SZ-Leser, dass Microsoft, Yahoo und Amazon eine Allianz gegen Google Books gegründet haben, allerdings ohne mitzuteilen, aus welcher Quelle er sich bedient. Wolfgang Schreiber war beim von Nike Wagner geleiteten Kunstfest Pelerinages in Weimar. Der Filmregisseur Stephen Frears plaudert im Interview über Gott, Tony Blair und die Welt, nur nicht über seinen neuen Film "Cheri". Eva-Elisabeth Fischer gefällt die Idee eines Tanzbeauftragten der Regierung, wie ihn die Briten jetzt haben. Thomas Steinfeld referiert Jürgen Trabants Aufsatz "Über das Ende der Sprache", erschienen in dem Band "Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache". Gottfried Knapp wünscht sich, die Berliner würden sich in Sachen Stadtschloss mal die Potsdamer zum Vorbild nehmen. David Steinitz berichtet über Proteste gegen die Renovierung des Pariser Hotel Lambert, in dem einst Voltaire und Chopin wohnten: Der Besitzer, Emir von Katar, will dort so neumodische Dinge wie eine Klimaanlage einbauen lassen.

Auf der Medienseite berichtet Marc Felix Serrao über Kritik an den Plänen Konstantin Neven Dumonts, für seine Zeitungen gemeinsame "Schreiber-Pools" einzurichten.

Besprochen werden Bücher, darunter Werner Buschs Geschichte des unklassischen Bildes (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 25.08.2009

Der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan ist als Gastdozent an der Universität Rotterdam fristlos entlassen worden, weil er "von einem Studio in London aus eine Gesprächssendung in Press TV [moderiert], einem englischsprachigen Sender, der fast komplett von der iranischen Obrigkeit finanziert wird", berichtet Dirk Schümer. Nach der Niederschlagung des "Studentenaufruhrs" im Iran, so Schümer, gilt das nicht mehr als opportun. Jetzt haben "zwanzig 'schockierte' Dozenten der Erasmus-Universität vehement gegen die Kündigung von Ramadan in einem offenen Brief" (mehr hier) protestiert. "Sie erinnern an eine solide Lehrtätigkeit, an seine 'enthusiastischen Studenten' und daran, dass der Verwaltungsrat keinerlei inhaltliche Kritik vorbringen konnte. Die Kündigung verstoße gegen die akademische Freiheit: 'Die Universität muss einstehen für das unbehelligte Argumentieren.'"

Ramadan selbst hat seine Talkshow in einem Offenen Brief verteidigt: "When I agreed to host a television program on Islam and contemporary life, I chose the path of critical debate. I accepted no obligations. My guests have included atheists, rabbis, priests, women with and without headscarves, all invited to debate issues like freedom, reason, interfaith dialogue, Sunni versus Shi?a Islam, violence, jihad, love, art, to name only a few. I challenge my critics to scrutinize these programs and in them to find the slightest evidence of support for the Iranian regime."

Weitere Artikel: Andreas Kilb beobachtet Frank-Walter Steinmeier beim Wahlkämpfen im Filmstudio in Babelsberg. Jürgen Kaube sieht eine Inflation der Doktortitel nicht nur da, wo sie käuflich erworben werden. In der Glosse schildert Gina Thomas die jüngsten Streitereien zwischen dem linken Ökonomen Paul Krugman und dem rechten Historiker Niall Ferguson: letzterer hatte Barack Obama mit der schwarzen Comic-Katze "Felix the Cat" verglichen. Wolfgang Jean Stock berichtet vom Alvar-Aalto-Symposium in Finnland. Julia Voss erklärt, dass Städel-Leiter Max Hollein die fehlenden fünf Millionen für einen Erweiterungsbau nun mit einer Spendenkampagne auftreiben will. Ziemlich entsetzt zeigt sich Wiebke Hüster von fast allem, was ihr beim Berliner "Tanz im August"-Festival vorgesetzt wird. Frank-Rutger Hausmann stellt dar, wie Nazi-Deutschland sich in Großbritannien zu präsentieren versuchte.

Besprochen werden Rolf Hochhuths Inszenierung seines eigenen Stücks "Sommer 14" in der Berliner Urania ("knallhart abgestürzt", befindet Irene Bazinger, die immerhin durchgehalten hat), ein Tomte-Konzert in Köln, Wiederveröffentlichungen mit Konzerteinspielungen des Dirigenten Igor Markewitsch und Hannah Tintis Roman "Die linke Hand" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).