9punkt - Die Debattenrundschau
Mit Gitarre und Fahrrad
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Ideen
Thomas Thiel berichtet in der FAZ von dem höchst umkämpften Vortrag des Philosophiedozenten und AfD-Politikers Marc Jongen an der Uni Siegen, in dem dieser Redeverbote und Zensur durch Linke, Diversitätssrhetoriker und den UN-Migrationspakt beklagte.
Gesellschaft
Dorothea Marcus erzählt in der taz, wie die Soziologin Blandine Sankara in Burkina Faso mit ihrer Biofarm Yelemani an die Landes- und Familientradition anknüpft: "'Consommons burkinabé', diesen Slogan gab in den achtziger Jahren eigentlich ihr Bruder Thomas Sankara aus. 1983 kam er mit einer Revolution an die Macht. Vier Jahre lang versuchte Sankara, der Che Guevara Afrikas, ein Land zu reformieren, das heute immer noch zu den ärmsten der Welt gehört. Auch als Präsident war er oft mit Gitarre und Fahrrad unterwegs. Er engagierte sich für Ernährungsautonomie, Umweltschutz und Frauenrechte, förderte das Bildungssystem, kämpfte gegen Korruption - aber auch gegen die Austrocknung und Verödung der Böden." Allerdings wurde Thomas Sankara vor 31 Jahren in Ouagadougou erschossen, der Mord vermutlich von seinem Jugendfreund in Auftrag gegeben, dem späteren Präsidenten Blaise Compaoré.
Politik
Medien
In der SZ ahnt Annette Ramelsberger, wie viel Schaden der Fall Claas Relotius dem Journalismus insgesamt zugefügt hat und mahnt, dass Journalisten keine Geschichten nach Hause bringen sollten, die larger than life seien: "Zu allererst: Journalisten sind keine Künstler, sie sind meist ordentliche Handwerker. Zweitens: Sie müssen der Wahrheit dienen und nicht dem eigenen Ruhm. Drittens: Sie haben eine Aufgabe. Sie sind die von Karl Kraus sogenannten 'Kehrichtsammler der Tatsachenwelt', die dokumentieren, nachfragen und zweifeln. Daraus entstehen dann zwar keine Texte wie Discokugeln, die nach allen Seiten glitzern. Aber dem Ansehen des Journalismus und der Aufgabe, die er in der Gesellschaft hat, hilft die solide Geschichte mehr als Texte, die zu schön sind, um wahr zu sein."
In der FR sieht Daniel Kothenschulte im Reportagestil des Spiegel allerdings eher das kunstgewerbliche Überbleibsel des einst bewunderten 'new journalism'. Und noch etwas: Im 'Spiegel'-Kanal auf Facebook findet sich noch immer ein Werbevideo, in dem Relotius seine Reportage 'In einer kleinen Stadt' über Trump-Wähler im Mittleren Westen der USA ankündigt. 'Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen dort froh waren, dass jemand aus Deutschland kam und ihnen zuhört', transportiert das kolonialistische Klischee des deutschen Weltverstehers."
In der taz fallen Anne Fromm und Rene Martens übrigens auch noch einige andere Namen ein, wenn es ums Fabulieren oder Zuspitzen und mangelnde journalistische Fairness geht. Aber bei den Reportern des Spiegel, meinen sie, gab es durchaus ein System: "Die Geschichtenerzähler beim Spiegel, intern werden sie 'Märchenfraktion' genannt, bekamen auch personell über die Jahre mehr Einfluss. Klaus Brinkbäumer, der im Sommer abgesetzte Chefredakteur, stand für das große Erzählen. Auch Ullrich Fichtner gehört zur Reporterfraktion. Das Schönschreiben wurde hausintern mehr prämiert als die Recherche, bemängeln einige im Haus. Dafür gab es Journalistenpreise - aber mit dem Fall Relotius jetzt vielleicht auch die Quittung."
Auch in der NZZ attackiert Rainer Stadler die Schönschreiber und Großerzähler: "Sie zeugen von einem naiven Realitätsbegriff, an den sich die Branche wider besseren Wissens klammert." In der Welt spricht Christian Meier mit Spiegel-Chefredakteur Ullrich Fichtner über den Fall. Auf ZeitOnline rekapituliert Holger Stark ausführlich den Fall. Und im Schweizer Buchjahr kommt auch Borderliner Tom Kummer zu Wort, der selbstverständlich viel Verständnis für Relotius aufbringt: "Ich erlebe ihn nur als Projektionsfläche dieser redaktionellen Selbstenthüllungs-Orgie, die mir natürlich bekannt vorkommt und die mit zum Schlimmsten gehört, was ich je gelesen habe."
Wer auch nur ein schlechtes Wort über die Sache verliert, riskiert seine Abfdindung: In der NZZ berichtet Viola Schenz vom Ende des Weekly Standards, der 1995 zum Hort des intellektuellen Neokonservatismus aufschoss und nun Knall auf Fall geschlossen wurde: "Der WS ist Opfer seiner Geradlinigkeit... Immer wieder kritisiert und attackiert das Magazin den Präsidenten und dessen irrlichternde Politik - zum Missfallen von Verleger Philip Anschutz, einem Trump-Unterstützer. Bei Jacob Heilbrunn hält sich in der NYRB die Trauer in Grenzen: Für den Weekly Standard sei der Journalismus eh nur Mittel zum Zweck gewesen. Und seine Bemühungen um einen Regime-Wechsel seien in Washington so erfolglos gewesen wie die im Irak.