Vom Nachttisch geräumt

Hass, dass das möglich war

Von Arno Widmann
04.04.2018. György Ligeti und Mauricio Kagel über jüdische Musik im Jüdischen Musikalmanach
Am 3. November 1990 sprachen im WDR die Komponisten György Ligeti (1923-2006) und Mauricio Kagel (1931-2008) über ihre Musik. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Festivals "Begegnung der Diaspora mit Israel" statt. Ligeti erklärte: "Über 'jüdische Musik' als eine Entität sprechen kann man nicht." Dazu seien die Traditionen des Judentums zu unterschiedlich. "Wenn ich die sephardische oder afrikanische oder jemenitische jüdische Tradition vergleiche, ist das eine Riesenvielfalt. Zum Beispiel die jemenitische ist eine der wunderbarsten Kulturen, aber eine ethnische Kultur, die mir fremd ist. Nahe der äthiopischen christlichen Kirche, was mir gerade in Jerusalem auffiel."

Anders ist es, wenn man die Frage stellt: Was hat Ligetis Musik mit seinem Judesein zu tun? Dann ist es die Verfolgung, die ihn prägte. Die durch die Nazis und die durch die Stalinisten: "Es gibt eine reale Angst, denn ich bin durch Zufall am Leben geblieben. Angst ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, eher Hass, aber ein freischwebender Hass, dass das möglich war. Mein Hass richtet sich nicht nur gegen die Nationalsozialisten, auch gegen das sowjetische System, das ich acht Jahre erlebt habe, und gegen alle diese menschenverachtenden Diktaturen. Dieser Hass und die Angst und eine Art Distance, bestimmt prägen sie meine Musik."

Mauricio Kagel erzählt einen jüdischen Witz: "Zwei alte Juden sitzen im Central Park in New York, Frühling, sie genießen die zarte Sonne. Eine halbe Stunde, keiner sagt was, eine Stunde, es ist schön. Nach anderthalb Stunden sagt einer zum andern: 'Also, wenn du weiter jammerst, stehe ich auf und gehe weg.'"



Als Kagel von den Vorwürfen erzählt, die jüdische Freunde ihm machten, weil er ein Requiem schrieb, meint Kagel: "Es gibt Themen, die fast durch Betriebsunfall zu einer Religion gehören, aber im Grunde gehören sie zu allen. Und das ist der Zankapfel zwischen Religionen. Gestern begann Liturgien (Kagels 1989/90 entstandene Komposition Liturgien für Soli, Doppelchor und großes Orchester) mit einem Satz, der von niemandem angefochten werden kann, der zum Islam oder zum Judentum oder zum Christentum gehört: Credo in unum deum.... Die Menschheit war immer bequem und hat den Glauben in die Hände von Personen gelegt, die ihn verwalten und kodifizieren. Ich habe von Theologie als einem 'kalten Delirium' gesprochen... Die Frage ist nicht, ob Gott existiert oder nicht. Wenn man die Existenz Gottes verneint, ist alles viel langweiliger. Nur die Vorstellung, dass Gott existiert, gibt uns die Fähigkeit, in einen außergewöhnlichen Dialog zu kommen."

Das ist die wohl realistische Umformulierung einer alten theologischen Frage: Was tat Gott, bevor er die Welt erschuf? Er langweilte sich und schuf sich Spielkameraden, den Mond und die Sterne, das Weltall, Viren und Bakterien und am Ende auch den Menschen, den er zu seinem liebsten Sparringspartner kürte, und die jüdische Tradition trieb das auf die Spitze, als sie sich zum auserwählten Volk ernannte, das der Vater züchtigte, weil er es liebte. Kagel setzt dagegen den Gedanken, dass der Mensch, um seine Langeweile zu vertreiben, sich einen Gott schuf, mit dem er in seiner Einsamkeit sich unterhalten konnte. Ein Diaspora-Gedanke?

Musik - Jüdischer Almanach der Leo Baeck Institute, herausgegeben von Gisela Dachs, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 272 Seiten, 18 Euro