Hans Peter Duerr

Die Tatsachen des Lebens

Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Band 5
Cover: Die Tatsachen des Lebens
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002
ISBN 9783518413593
Gebunden, 873 Seiten, 49,90 EUR

Klappentext

Im abschließenden Band seiner Reihe "Der Mythos vom Zivilisationsprozess" setzt sich der Autor vor allem mit der Frage auseinander, ob das, was im Englischen "the facts of life" genannt wird, also namentlich die Bereiche der Sexualität, der körperlichen Reifung, der Körperfunktionen und der abweichenden Verhaltensweisen, im Verlaufe der historischen Entwicklung tatsächlich, wie von Elias und seiner Schule behauptet, in immer stärkerem Maße mit dem Bann des Verschweigens oder mit Euphemismus belegt und hinter die Kulissen des öffentlichen Lebens in einen expandierenden Privatbereich verdrängt wurde. Schließlich untersucht Duerr, welchen Wahrheitsgehalt die sogenannte "Informalisierungsthese" hat, also die Behauptung, die Lockerung einstmals strenger Disziplinierung unterworfener Verhaltensweisen bedeute keine wirkliche Senkung der Schamschwellen und Peinlichkeitsstandarde.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 13.02.2003

In den Texten geht es "immer um das eine", bemerkt Thomas Hausschild, nämlich Sex und Gewalt, sei es, dass sie einen Blick in ein Indianerzelt, in ein mittelalterliches Badehaus oder in Queen Victorias Schlafzimmer werfen. Der Rezensent sieht den Hauptantrieb von Duerrs mittlerweile auf 5 Bänden angeschwollene Analyse des "Mythos vom Zivilisationsprozess" in seiner Gegnerschaft zu Norbert Elias, der Zivilisation als ein Entwicklung der fortschreitenden Verfeinerung der Sitten begriffen hatte. Und obwohl man meinen könnte, dass bereits mit dem ersten 1988 erschienenen Band "schon alles gesagt" worden ist, macht der unerschütterliche Glaube "fast aller Intellektueller und Akademiker" an die Theorie Elias' eine weitere "Beweisaufnahme" von Gegenargumenten notwendig, so der Rezensent nachdrücklich. Er preist als den "eigentlichen Ertrag" des Bandes, dass er einen "großen Baustein einer Kulturtheorie" darstellt, die Zivilisation eben nicht als steten Verfeinerungsprozess, sondern als sich ständig wandelndes "geheimnisvolles Patchwork der Sitten" entpuppt. Als besonders "faszinierend" lobt Hausschild die Passagen des Buches, die auf den materiellen Hintergrund von sexuellen Konventionen hinweisen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.01.2003

Mit den "Tatsachen des Lebens", dem fünften und letzten Band seiner vieltausendseitigen Ethnographie der Conditio humana, der den sexuellen Praktiken, Erfahrungen und Präferenzen des Menschen in ihrer kulturellen Vielfalt und Unterschiedlichkeit gewidmet ist, widerlegt der Ethnologe Hans Peter Duerr nach Ansicht des Rezensent Magnus Schelte überzeugend Norbert Elias' Zivilisationstheorie, nach der, grob gesagt, der Zivilisationsprozess in einem zunehmenden Wachstum an Triebmodellierung besteht, der zivilisierte Mensch demnach "schamhafter" als der Wilde oder der mittelalterliche Bauer ist. Wie Schelte in seiner umfangreichen Besprechung des Bandes ausführt, gelingt es Duerr den Anhängern der Zivilisationstheorie nachzuweisen, dass sie Quellen, die ihre Theorie belegen sollen, "schlicht falsch oder verzerrend interpretiert haben". Zudem bringe Duerr die Zivilisationstheoretiker mit einer "schier unübersehbaren Materialmasse ethnologischer Feldforschung" in Not. Die Zuschreibung niedriger Schamgrenzen, geringer Triebmodellierung und vermeintlich "freier" Sexualität beim Wilden beruhe, wie Duerr immer wieder zeige, auf den Distinktionsabsichten des jeweiligen Werters, nicht auf dem Informationsgehalt des Quellenmaterials. Gegen die historische Formung des Menschen, die er nicht prinzipiell leugne, setze Duerr auf anthropologische Universalien. "Keinesfalls", so Schelte zusammenfassend, "zeichnet sich die Moderne durch eine Verschärfung der Affektkontrolle aus, allenfalls durch das Gegenteil, ihre sukzessive Abschwächung." Unabhängig von dem Gelehrtengefecht würdigt Schelte Duerrs Studien als "lesenswert" für alle, die sich für den Menschen interessierten. "Wieder einmal", resümiert er dankbar, "schenken sie uns reiches Material über dieses schier unerschöpfliche Phänomen."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 06.11.2002

Hans Peter Duerrs Buch über die "Tatsachen des Lebens" bildet den Abschluss seiner auf fünf Bände angelegten Kritik der Zivilisationstheorie, die Norbert Elias in den dreißiger Jahren entwickelte. Wie Rezensent Robert Jütte ausführt, sucht Duerr auch hier Elias' zentrale These, "dass die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den 'Primitiven' (...) erst in allerjüngster Zeit begonnen habe" (Duerr) zu widerlegen. Wie Jütte ausführt, gelingt es dem Ethnologen im vorliegenden Band, eine Reihe von Mythen aus dem Bereich der Sexualität zu dekonstruieren, darunter die Vorstellung, dass bei manchen Naturvölkern der Beischlaf vor aller Augen stattfinde, oder das Klischee vom ungezügelten Sex "der Wilden". Duerr rufe in Erinnerung, dass es auch außerhalb Europas eine komplexe Welt gebe, die zwar anders, aber nicht unbedingt weniger "zivilisiert" sei. Wegen der "freizügigen" bildlichen Darstellungen des Bandes, die von drastischen Klitorisbeschneidungszenen bis zu pornografischen Bildern unterschiedlichster Spiel-Arten reichen, empfiehlt Jütte, das Buch besser im "stillen Kämmerlein" als in der Bahn oder am Strand zu lesen. Er hebt hervor, dass der Band auch eine detaillierte Antwort auf die Kritiker Duerrs enthält, die sich in dem seit 1988 laufenden Gelehrtenstreit um Elias Zivilisationstheorie zu Wort gemeldet haben.
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