Im Kino

Die Liebe meines Lebens

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
02.08.2023. Carine Tardieus Film "Im Herzen jung" erzählt von der Liebe: Jeanne erfährt, dass ihr Mann eine Affäre hat. Mit einer Frau, die 70 Jahre alt ist, 25 Jahre älter als er. So weit, so unspektakulär. Doch dann wird sie krank. Bleibt die Liebe, wenn sie keine Perspektive mehr hat, keine Zukunft?


Eine besitzergreifende Umarmung: "Du bist die Liebe meines Lebens. Wir werden gemeinsam alt werden." Jeanne (Cécile de France) hat gerade erfahren, dass ihr Mann Pierre (Melvil Poupaud) eine Affäre mit einer anderen Frau hat. Sie weiß noch nicht, wer die Nebenbuhlerin ist, und doch trifft ihr Satz das Zentrum des Problems. Denn diese andere Frau, Shauna (Fanny Ardant), ist keine, mit der Pierre gemeinsam alt werden könnte. Weil sie bereits alt ist, 70 Jahre alt genauer gesagt und damit 25 Jahre älter als Pierre.

Jahre zuvor hatten Shauna und Pierre bereits einmal in einem Krankenhausflur eine Instantsuppe geteilt: eine dezidiert unspektakuläre Urszene, die nicht weiß, dass sie eine ist. Ein gemeinsamer Bekannter sorgt nun dafür, dass sich die beiden wiedersehen - zunächst in einem adretten Landhaus im grün-lukullischen Irland. Die dem großstädtischen Alltagsfunktionalismus enthobene lieblich-romantische Natur des Inselstaats umhüllt die Menschen wie ein Zaubermantel, verleiht ihnen einen nichtalltäglichen Glanz, der für Fantasien empfänglich macht. Erst schaut sie aus dem Fenster auf ihn, wenig später er aus dem Fenster auf sie. Es folgen Gespräche, am nächtlichen Strand, vor dem Kaminfeuer. Eines dreht sich um Frauenbrüste. Er ist Mediziner und forscht zu Brustkrebsprävention. Sie erzählt, dass ihr Mann ein Saukerl war, der sie nach Strick und Faden betrogen hatte. Aber ihre Brüste, die mochte er immer.

Dabei belassen sie es zunächst. Der reality check, das wissen beide, wird früh genug kommen, zuhause in Frankreich. Er wohnt in Lyon, sie in Paris, das nächste Treffen müssen sie, wie alle anderen auch, über elektronische Medien organisieren. Alles spricht dagegen, den Kontakt aufrecht zu erhalten, und doch stürzen sich Pierre und Shauna alsbald in eine Liebesbeziehung, er vorbehaltlos und ungestüm, sie zögerlicher, stets ein ungläubiges Lächeln auf den Lippen. Dass die Liebe der beiden den gesellschaftlichen Konventionen zuwiderläuft, ist das eine. Der Film macht, zum Glück, nicht allzu viel Aufhebens darum. Ein paar ungläubige Blicke von Shaunas Tochter Cécilia (großartig: Florence Loiret Caille) hier, ein paar dumme Bemerkungen von Pierres Kumpel Georges (leider eher nervenaufreibend: Sharif Andoura) da, das war's.



Das andere und zum Glück auch für "Im Herzen Jung" viel Interessantere, ist, eben, die Zeitdimension der Liebesbeziehung selbst. Zu Filmbeginn mag Shauna noch als unabhängige, elegante, gelegentlich gar mondäne "Frau unbestimmten Alters" durchgehen. Keineswegs unverständlich, dass es den von Jeannes Familienpragmatismus in Beschlag genommenen Pierre zu ihr hinzieht. Bald jedoch bekommt Shauna beim Kreuzworträtsellösen das Zittern ihrer Hände nicht mehr in den Griff. Sie ist an Parkinson erkrankt. Kaum vorstellbar, dass sie Pierre gleichzeitig als ihren Liebhaber und als ihren Pfleger akzeptieren wird.

Die Frage ist dann, ob die Liebe Pierres und Shaunas stark genug ist, auf eine Absicherung durch das Versprechen der Dauer zu verzichten. Ob sie sich mit dem Glück des Moments begnügen kann, ohne eine Lebensperspektive in der Zukunft. Manchmal kann die Liebe das, vor allem, wenn die Liebenden jung sind. "Es war nur eine Jugendliebe", tut Shaunas Enkelin ihre gerade zerbrochene Beziehung ab. Die nächste kommt bestimmt. Aber kann sich eine Liebe im fortgeschrittenen Erwachsenenalter auf ähnliche Weise ihre eigene Wirklichkeit erschaffen? Eine Liebe, die in der Gegenwart von diversen materiellen, emotionalen, medizinischen Sachzwängen umstellt ist und sich zu allem Überfluss noch gegen Übergriffe aus der Vergangenheit, den Druck jahrzehntelang gelebten Lebens verteidigen muss?

Die Form, in der solche Fragen verhandelt werden, ist oft enttäuschend konventionell. Hätte ich mir etwas ausbitten können, wäre es vor allem ein weniger stromlinienförmiger Musikeinsatz; wenn etwa Bachs "Aria" über eine intime Schlüsselszene hereinbricht, ist das schon ziemlich schlimm; in solchen Szenen wird "Im Herzen Jung" seinem banalen deutschen Titel gerecht. Andererseits jedoch liegt im Abgedroschenen stets ein Moment Wahrheit. Nichts im Film transzendiert die Immanenz bürgerlicher Existenz. Auch die Liebe nicht und eben deshalb muss ihr Soundtrack die Geläufigste (freilich auch fast die Schönste) aller Bach-Melodien sein. Pierre und Shauna sprengen nicht die Grenzen bürgerlicher Subjektive, sondern reizen lediglich ein ihr inhärentes Glücksversprechen womöglich über Gebühr aus. Carine Tardieus Film ist klug insbesondere darin, wie die beiden Hauptfiguren in ein breiteres Figurenensemble einbettet und neben der einen, zentralen Liebesbeziehung eine ganze Reihe anderer, nur angedeuter sichtbar werden. Jede Liebe, merkt man, ist im Kern eine Wette auf eine ungewisse Zukunft. Manchmal ist der Einsatz höher, das ist alles.

Lukas Foerster

Im Herzen jung - Frankreich 2021 - Regie: Carine Tardieu - Darsteller: Fanny Ardant, Melvil Poupaud, Cécile de France, Florence Loiret Caille, Sharif Andoura, Sarah Henochsberg - Laufzeit: 114 Minuten.