Magazinrundschau

Die Exklusivität von Oink's Pink Palace

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.06.2015. In The New Republic überlegen Neil Gaiman und Kazuo Ishiguro, warum sich plötzlich selbst die chinesische KP für Science Fiction interessiert. TomDispatch schildert die Anfänge der systematischen Folterpraktiken der CIA. In Eurozine vermisst Slavenka Drakulic eine Frauenbewegung in Osteuropa. Collector's Weekly vermisst die TapekulturLa Regle du Jeu sucht nach Alternativen für den Begriff Shoah. Al Ahram fragt: Kauft Katar die arabische Literatur? Die New York Times sorgt sich um den digitalen Imperialismus Silicon Valleys.

New Republic (USA), 07.06.2015

Die Autoren Neil Gaiman and Kazuo Ishiguro unterhalten sich sehr ausführlich über Ishiguros neuen Roman "The Buried Giant" - das einige amerikanische Kritiker verwirrt hat, weil es Fantasy-Elemente enthält aber kein Fantasy ist -, über Genreliteratur, die Gemeinsamkeiten von Musicals und Pornofilmen und die Unterschiede zwischen einem Samurai-Schwertkampf und einem Robin-Hood-Duell. Zwar denken Kritiker, Verlage und Buchhändler immer noch viel zu schlecht über Genreliteratur und Genre, dennoch hat Science-Fiction in den letzten Jahren einen enormen Anerkennungsschub erfahren. Ob dies mit der veränderten Wirtschaft zu tun hat, fragt sich Ishiguro: "Wir sind keine Fabrikarbeiter mehr, Angestellte und Soldaten etc. Und mit dem Beginn des kreativen Denkens scheinen die neuen Tech Industrien, die in den letzten zwanzig Jahren den Weg bereitet haben, ein gewisses Maß an Vorstellungskraft zu fordern. Vielleicht fangen die Leute an, einen wirtschaftliche Nutzen darin zu sehen, wenn wir dem frönen, was einst als kindische Fantasie abgetan wurde. Ich höre mich an wie ein Soziologieprofessor aus den Siebzigern, aber mir scheint, da ist etwas dran."

Gaiman kann dem nur zustimmen. Er erzählt von einem staatlich geförderten Science-Fiction-Tagung 2007 in China, zu der er eingladen war. "Ältere chinesische Autoren erzählten mir, dass man lange auf Science Fiction herabgesehen habe, sie sogar als verdächtig und konterrevolutionär eingeschätzt habe. Denn wenn man eine Story über eine riesige Ameisenkolonie in der Zukunft schreibt, in der Menschen zu Ameisen werden, wusste niemand genau. War das wirklich ein Kommentar zum Staat? Es war sehr, sehr heikel. Ich nahm einen staatlichen Organisator beiseite und sagte: "Ok. Warum organisieren Sie heute, 2007, eine Science-Fiction-Tagung?" Und die Antwort war, dass die Partei besorgt war, weil China historische gesehen eine Kultur der magischen und radikalen Erfindungen war. Heute aber erfinde niemand mehr etwas. Sie können sehr gut Dinge nachmachen, aber sie erfinden nicht. Also gingen Parteimitglieder nach Amerika und interviewten Leute von Google und Apple und Microsoft und sprachen mit den Erfindern und sie entdeckten, dass jeder einzelne von ihnen in seiner Jugend Science Fiction gelesen hatte."
Archiv: New Republic

The Nation (USA), 29.06.2015

Vivian Gornick hat für The Nation ein großes Porträt des 1913 in Brooklyn geborenen Dichters Delmore Schwartz verfasst. Schwartz war der Sohn rumänischer Immigranten, die mehr Yiddisch als Englisch sprachen. Die englische Sprache war sein Traum, so Gornick. Schwartz "ist für die jüdisch-amerikanische Literatur, was Richard Wright für die afroamerikanische Literatur ist. Er ist ein Autor ohne den, einer, dessen Werk die Brücke konstituiert zwischen der Literatur der Immigranten und dem, was wir heute für authentische jüdisch-amerikanische Literatur halten. Als solches ist sein Werk so bewegend wie instruktiv. Es verkörpert den Schritt, den an den Rand gedrängte Menschen notwendig machen müssen, um kulturelle Gleichheit zu erreichen. Den Schritt, der erfordert, dass sie auf höchstem Level imitieren, während gleichzeitig ihr eigenes heimatliches Material die konventionellen Regeln des Spiels unterwandert. [...] Wenn er mit seinen Freunden in einem Café in Greenwich Village plauderte, war er, wo er herkam, auf dem Papier war er, wo er hinwollte."

Hier findet man einige Gedichte von Schwartz. Und hier kann man ihn lesen hören:


Archiv: The Nation

Respekt (Tschechien), 06.06.2015

Zum Tod des tschechischen Schriftstellers und Dissidenten Ludvík Vaculík schreibt Martin Šimečka: "Er war es, der den Samizdat-Verlag Edice Petlice gründete und dazu die findige Botschaft an die Polizei ausdachte: "Ausdrückliches Verbot weiterer Manuskriptabschriften", an die sich keiner hielt und deren Anfangsbuchstaben im Tschechischen das Wort VZDOR (Trotz) ergaben. Von ihm habe ich gelernt, wie man mit Trotz nach und nach das Umfeld verändern kann und wie man auf seinem Standpunkt beharrt, auch wenn man mit dieser Haltung hoffnungslos naiv erscheint. (…) Nach dem Jahr 1989 blieb er der, der er immer gewesen war, nur erschienen sein Charakter und seine Ansichten manchmal in einem anderen Licht: Er war bis ins Mark hinein ein konservativer Mensch. Während des alten Regimes hatte ihn sein Festhalten an der Tradition in den Widerstand gegen die Kommunisten getrieben, in der Demokratie gegen alle liberalen Neuerungen. Er war immer der Gleiche, Ludvík Vaculík, nur die Verhältnisse veränderten sich. Ein großer Mann ist von uns gegangen, der Geschichte geschrieben hat."
Archiv: Respekt

TomDispatch (USA), 31.05.2015

Unbedingt lesenswert ist Barbara Myers Reportage über den Whistleblower Anthony J. Russo. Sein Name ist heute praktisch unbekannt, dabei war er derjenige, der neben Daniel Ellsberg für die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere verantwortlich war. Russo war einer der ersten, der über systematische Folterungen der Amerikaner in Vietnam berichtete. Er war, wie auch Ellsberg, in den 60ern bei dem Think Tank RAND in Vietnam angestellt. Durch Interviews mit gefangenen Vietcongs sollte er herausfinden, wie der Feind tickt. Statt dessen lernte er von den Befragten und CIA-Mitgliedern, wie die Gefangenen gefoltert wurden: "Es ist kein Zufall, dass die Foltermethoden, die er dokumentierte, eine unglaubliche Ähnlichkeit mit jenen haben, die im Folterreport des Senats 2014 enthüllt wurden. Vietnam war der erste Testboden für das, was der Historiker Alfred McCoy als neues Paradigma in der Folterpraxis der CIA beschrieb. Die Agency hatte ein milliardenschweres Forschungsprogramm über menschliche Wahrnehmung aufgelegt, um neue Techniken zu entwickeln für den Fall, dass amerikanische Soldaten von Sowjets gefangengenommen würden. Als sie herausfand, dass eine Kombination aus Schlafentzug und "selbst zugefügten" Schmerzen ertragreicher ist als jahrhundertealte Methoden physischer Folter und bei den Testsubjekten eine psychologische Rückentwicklung auslöst, wandte die CIA die selben Techniken bei der Feindbefragung an. Obwohl sie es vor allem auf die Zerstörung der Psyche anlegte, wurde auch physische Folter benutzt. In Vietnam bedeutete das Elektroschocks, Schläge, Vergewaltigung und den Tod von Gefangenen in "pump and dump"-Prozeduren, so genannt nach dem Prozess des Auspumpens von Informationen aus den Gefangenen und anschließendem Wegklappen der Körper. Russo wurde Zeuge der Anfänge dessen, was institutionalisierte Folterpraktiken der CIA über vierzig Jahre und vier Kontinente hinweg werden sollte."
Archiv: TomDispatch

Eurozine (Österreich), 08.06.2015

Warum, fragt die kroatische Autorin Slavenka Drakulic, haben die Frauen in Osteuropa nach der Wende eigentlich ihre Emanzipation nicht verteidigt? Weil sie ihnen von oben auferlegt war? Weil auch sie in unsicheren Zeiten lieber an alten Werten festhalten? "Für Frauen in Osteuropa brachte die 1989 wiedergewonnene Freiheit unerwartete Einschränkungen ihrer ökonomischen, sozialen und reproduktiven Rechte mit sich. Dass besonders Frauen von den Kürzungen der öffentlichen Ausgaben betroffen waren und als Angestellte niederer Kategorie betrachtet wurden, führte zu weiblicher Massenarbeitslosigkeit. Armut wurde weiblich. Bei einem politischen Schwerpunkt auf wirtschaftlicher Transformation und dem Aufbau demokratischer Strukturen, hatten Frauenrechte keine vordringliche Priorität. Im Ergebnis arbeiteten weniger und weniger Frauen (auch wenn wir wissen, dass 30 bis 50 Prozent im informellen Sektor Geld verdienten). Überzeugt, das Richtige zu tun, blieben mehr und mehr Frauen zu Hause und hielten sich aus Politik und öffentlichem Leben heraus. Es entstand keine Frauenbewegung. Es gibt keinen Sinn mehr für gegenseitige Interessen. Die Vorstellung, dass Frauen andere Frauen unterstützen sollten, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, existiert schlicht und einfach nicht. Die Ideologie kollektiver Solidarität gehört der Vergangenheit an."

Außerdem übt der weißrussische Schriftsteller Artur Klinau die postmoderne Neugestaltung der Minsker Museumslandschaft, die sozialistischen Realismus, Big Business und Disneyland-Fantasien unter einen Hut bringt.
Archiv: Eurozine

Aeon (UK), 08.06.2015

Warum verfällt man im Hotel so leicht in Melancholie? Die britische Autorin Suzanne Joinson beschreibt, wie sie durch übermäßiges Reisen ihre Identität und ihren Lebenswillen zu verlieren drohte, und wie sie in den surrealistischen Künstlerinnen Unica Zürn, Leonora Carrington und André Bretons Muse "Nadja" Schicksalsgenossinnen fand: "Alle drei lebten rastlose, nicht-stationäre Leben, und die Spiegel, Türen, Schlösser, Balkone und Bäder von Hotelzimmern wurden aktive Requisiten und Umgebungen, um "auf die andere Seite" zu gelangen - worin sie von den männlichen Künstlern in ihrem Umfeld stark ermutigt wurden. Die Surrealisten waren besessen von Begegnungen mit dem Unbewussten, von Liebeleien mit dem Wahnsinn, und meist waren es die Frauen, die in den Abgrund gestoßen wurden - oder sich entschlossen zu springen -, während ihre Gegenüber zuschauten. Durch die von Frauen geöffneten Pforten erlangten männliche Surrealisten einen reinen Zustand von psychischem Automatismus - in anderen Worten: Kunst jenseits der Beschränkungen von Vernunft und moralischer oder ästhetischer Kontrolle -, und das Hotelzimmer war häufig das ideale Theater für diese Experimente."
Archiv: Aeon

El Pais Semanal (Spanien), 07.06.2015

Javier Cercas, zurzeit Gastprofessor in Oxford, denkt über die aktuellen britischen und spanischen Wahlergebnisse nach: "So ist das in der Geschichte: Manchmal weiß niemand, was zu tun wäre. Und dann wieder wissen alle, was zu tun wäre, aber niemand ist dazu imstande. Von der gelehrten Unwirklichkeit Oxfords aus gesehen, erlebt Spanien gerade einen Moment im letzteren Sinn: Alle wissen, dass unsere Demokratie zwei grundlegende Probleme hat. Zum einen, wie fast alle Demokratien, auch die britische, das Problem der angemessenen Repräsentation: In Großbritannien bekam die UKP zwölf Prozent der Stimmen, aber nur einen Abgeordnetensitz, die schottischen Nationalisten dagegen mit weniger als 5 Prozent bekamen 56; in Spanien wiederum brauchen manche Parteien 400.000 Stimmen für einen Sitz, andere bloß 65.000. Zum anderen die Verwandlung der Demokratie in eine (Zwei)Parteienherrschaft, anders gesagt, die Kolonisierung des Staates durch die Parteien, Hauptursache der gigantischen Korruption. Und es könnte durchaus sein, dass es bei den Parlamentswahlen im Herbst in Spanien genauso geht wie gerade in Großbritannien: Dass sich entgegen allen Voraussagen und Umfragen das Zweiparteiensystem erhält. Oxford hat mich zum Pessimisten gemacht."
Archiv: El Pais Semanal

Guardian (UK), 07.06.2015

Im Guardian erzählt Stephen Witt von den Ursprüngen des Musikstreamings, und erinnert vor allem an die von Alan Ellis gegründete Musiktauschbörse Oink"s Pink Palace, die zwischen 2004-2007 ihren Höhepunkt mit etwa 180.000 Mitgliedern erreichte: "Warum waren die Oink-Nutzer der Platform so treu ergeben? Die Torrent Technology war nicht leicht zu handhaben ... und das Hochladen jeder einzelnen Datei war quasi eine Straftat. Die auf Oink verfügbare Musik gab es meist auch bei Pirate Bay oder Kazaa; und war es ab einem bestimmten Punkt nicht sogar leicher, einfach bei iTunes einzukaufen? Theorien gibt es reichlich. Für klassische Ökonomen überwiegt der Vorteil der endlosen Auswahl der Nutzer gegenüber der Erfolgsbilanz und dem Risiko geschnappt zu werden. Behavioristische Ökonomen sahen Nutzer, die sich daran gewöhnt hatten, Musik umsonst zu konsumieren und sich jetzt weigerten, dafür zu bezahlen. Politologen beobachteten eine Gruppe aktiver Dissidenten... Für Soziologen war gerade die Exklusivität von Oink der entscheidende Anreiz."
Archiv: Guardian

La regle du jeu (Frankreich), 06.06.2015

Vor dem Hintergrund höchst heikler bildungspolitischer Diskussionen in Frankreich fragt Didier Durmarque, welcher Begriff den Judenmord am besten benennt. Hintergrund sind Bestrebungen, im Schulunterricht den Begriff Shoah, der sich in Frankreich eingebürgert hat, durch das neutralere "génocide juif" zu ersetzen. Der Autor schreibt: "Durch die Opferdimension, die der Begriff Holocaust beinhaltet, erscheint er zumindest unangemessen, um nicht zu sagen unangebracht. Der juristische Begriff "Genozid" verortet die Vernichtung der europäischen Juden als einen Völkermord unter anderen, was gleichermaßen willkürlich wie historisch anfechtbar erscheint, in dem Sinne, als die Shoah einen einzigartigen paroxystischen Anschub der Strukturen der Moderne und des Staats einleitet: Recht, Wirtschaft, Bürokratie, Technik et cetera. Sofern man Menschen vernichtete, weil sie Juden waren, ist der Begriff Shoah zugleich unzutreffend und doch derjenige, der der Sache am nächsten kommt. Der Begriff Genozid oder Völkermord, den Raphael Lemkin nach den Nürnberger Prozessen einführte, ist eine faktische und zweckmäßige juristische Tatsache, der die Realität der Shoah betont, deren Besonderheit jedoch unterschlägt."
Archiv: La regle du jeu

Collectors Weekly (USA), 02.06.2015

Lange vor dem Internet versetzte bereits die Tapekultur der Herstellung und Distribution von Musik einen ersten Demokratisierungsschub. In einer atemberaubend umfangreichen, von enormer Detailkenntnis geprägten, vor allem aber ungeheuer fesselnd zu lesenden Reportage fasst Lisa Hix die Geschichte des ersten großen Tape-Undergrounds zusammen, in dem Nerds, Geeks und Außenseiter-Künstler ein vibrierend-vitales Netzwerk mit durchgeknallten Eigenkompositionen und sonderbaren Noise-Collagen schufen. Auch heute sehnen sich Hipster wieder nach der Haptik und Niedrigschwelligkeit des günstigsten physischen Datenträgers für Musik. Hix zitiert den Tapelabel-Betreiber McGee: "Es war einfach unvergleichlich, wenn man ein Tape von Zan Hoffman oder Minoy in der Post hatte. Wie oft im Leben gibt es einen Augenblick, in dem man sich sagt: "Himmel, das ist jetzt wirklich ein besonderer Moment." ... Es ist vielleicht dumm, das so auszudrücken, aber ich glaube, in der Landschaft des Internets wird Musik einfach nur zum Datenbrei. Bis zu einem Punkt, an dem sie keinerlei Eindruck mehr hinterlässt außer "okay, ganz toll, click." ... Der Austausch im Tape-Netzwerk der 80er Jahre mag rege gewesen sein, doch man schwamm auch in einem endlosen Meer aus Kassettenhüllen und Inlays. [Der Avantgarde-Komponist] Margolis sagt, dass es möglich war, auf Netzwerker zu stoßen, die noch nie mit jenen Leuten Tapes getauscht hatten, mit denen man selber tauschte. "Mir schien es immer so, dass jeder, der in die Kassettenkultur involviert war, gerade mal die Spitze des Eisbergs sehen konnte und das auch nur von der eigenen Perspektive aus", stimmt [Sammler] Campau dem zu."

Dazu passend: Einige Ausschnitte aus William Davenports Dokumentarfilm "Noise Nation":

Quietus (UK), 02.06.2015

Kaum etwas ist so ephemer wie historische Tonaufnahmen - insbesondere, wenn es um deren Langzeitarchiverung und Digitalisierung geht, schreibt Robert Barry in einer Reportage über das British Library Sound Archiv. So unüberschaubar die Bestände, so knapp das Budget für das an sich nötige Personal zur Bewältigung dieser Massen. Doch vor allem tickt die Uhr: "Die Flure sind vollgestellt mit Soundmirror Bandmaschinen aus den späten 40ern und Drahtton-Geräten aus noch älteren Militärbeständen. Auf den Regalen an der Wand stapeln sich die DAT-Payer und ADAT-Maschinen. "Der Unterschied zwischen uns, den Soundzuständigen, und den Leuten mit den Büchern und Manuskripten besteht darin, dass wir immer auf Technik angewiesen sind, um auf den Inhalt zuzugreifen", erklärt mir Will Prentice (...) "Wir haben immer Maschinen gebraucht." Und darin liegt ein Problem. Die Maschinen sterben. ... "Einen Plattenspieler kann man noch erwerben", erklärt Prentice. "Es gibt auch noch Tonköpfe dafür. Oder eine Blaupause, wenn man ihn reparieren muss. ... Bei Viertel-Inch-Tapemaschinen - oder sogar Kassettenmaschinen - sieht das völlig anders aus. So ein professionelles Gerät kann man nicht mehr kaufen. Da ist mehr oder weniger nur noch ein einziges Gerät für professionelle Zwecke übrig. Damit hat es sich. Wirklich niemand mehr stellt die Tonköpfe dafür her. Einen Typen gibt es noch, der das macht. In Belgien, kurz vor der Rente. Vielleicht noch einer in den Staaten. Aber das war es. Es ist ein endliches System. Das Expertenwissen darum verschwindet.

Archiv: Quietus

Magyar Narancs (Ungarn), 08.06.2015

Der Philosoph Péter Rauschenberger denkt darüber nach, welches politische Theorie den Staat nach der Dritten Republik prägen könnte. Der Liberalismus allein wird es nicht richten, ist er überzeugt: "Was den Ausweg aus der heutigen Krise betrifft - ich glaube nicht dass das erneute Zusammenfinden der libertären und egalitären Liberalen uns der Entfaltung näher bringen würde. Die wichtigste Lehre aus dem Scheitern der Dritten Republik ist, dass das öffentlich-rechtliche und das politische System zwar die liberalen Erwartungen gut erfüllen kann, doch daraus entsteht noch keine liberale Demokratie. Angesichts des Elends so vieler Mitbürger sind rechtliche und politische Gleichstellung lediglich eine lügnerische, leere Formalität. Eine ethische Gleichstellung kann es ohne materielle Emanzipation nicht geben. Auf diese Einsicht müsste aufgebaut werden."
Archiv: Magyar Narancs

Washington Post (USA), 30.05.2015

Craig Timberg erklärt in einer großen Reportage, wie es dazu kommen konnte, dass das Internet heute für Hacker und Geheimdienste eine so leichte Beute darstellt. Im großen historischen Abriss macht er uns dabei nicht nur mit dem (noch relativ gut überschaubaren) Internetvorgänger ARPA bekannt, sondern zeigt auch die fatalen Folgen der Implementierung des TCP/IP-Standards in den frühen 80ern auf, auf den sich der Datenverkehr im Netz bis heute stützt. Hätte man diesen nicht von vornherein mit kryptografischen Techniken versehen können? Womöglich schon, erfahren wir. Jedoch: "Zur Verschlüsselung und Dechiffrierung von Nachrichten brauchte es jede Menge Rechnerleistung, die wahrscheinlich sogar die Anschaffung neuer teurer Hardware nötig machen würde, um wirklich zu funktionieren. ... Auch lauerten im Hintergrund politische Konfikte: Die National Security Agency (...) hatte ernsthafte Bedenken, wenn es darum ging, Verschlüsselung auf öffentlichen oder kommerziellen Netzwerken zuzulassen. ... "In jenen Tagen war es für die NSA noch immer möglich, einem Professor einen Besuch abzustatten und zu sagen: "Bitte sehen Sie doch davon ab, diesen Aufsatz über Verschlüsselung zu veröffentlichen." Als die 70er verstrichen, ließen Cerf und Kahn von ihren Versuchen, TCP/IP und Kryptografie miteinander zu verbinden, ab und resignierten vor den Hürden, die sie als unüberwindbar empfanden. Zwar war es noch immer möglich, Datenverkehr mittels eigens entwickelter Hard- und Software zu verschlüsseln, doch entwickelte sich das Internet zu einem Kommunikationssystem, das zu weiten Teilen offen arbeitet - was nach sich zieht, dass jeder mit einem Zugang zum Netzwerk dessen Datenverkehr überwachen kann."
Archiv: Washington Post

Al Ahram Weekly (Ägypten), 04.06.2015

In Ägypten ist ein Streit ausgebrochen über den ersten Katar-Preis für Arabische Literatur. Erhalten hat ihn der ägyptische Schriftsteller Ibrahim Adel-Meguid für seinen Roman "Adagio". Die Jury sei anonym, die Entscheidungskriterien verschwommen und überhaupt versuchten die arabischen Golfstaaten ständig, sich mit Geld kulturelles Prestige zu kaufen - so die Vorwürfe, berichtet Nourhan Tewfik. Adel-Meguid verteidigt sich am Telefon gegen die Vorwürfe: ""Es ist ein arabischer Preis", sagt er, "und er wird nicht vom Kulturministerium Katars verliehen. Einer der Sponsoren ist die Unesco. Noch wichtiger: die Siegerromane werden in fünf Sprachen übersetzt. Das ist eine größere Anzahl von Übersetzungen als bei jedem anderen arabischen Preis. Es wird jährlich zehn Gewinner geben, das sind in zehn Jahren 100 arabische Romane in fünf verschiedenen Sprachen. Das ist ein großes Fenster in die arabische Welt, eine ausgezeichnete Gelegenheit, der Welt einen Einblick in die arabische Literatur zu geben."

Außerdem: Nehad Selaiha sah zwei Theaterstücke, die Frauen, Gewalt und Wahnsinn zum Thema hatten: "Eine Frau allein" von Franca Rame und Dario Fo sowie "Paranoia" von Rasha Falta. Letzteres, ein ägyptisches Beispiel für das schockierende "In-Yer-Face-Theatre", mit dem die Briten in den 90er Jahren brillierten, versucht sie behutsam einem ägyptischen Publikum nahezubringen.
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Review of Books (USA), 25.06.2015

Michael Massing setzt seinen Report über den digitalen Journalismus in den USA fort und betrachtet die mit Buzzfeed beginnende zweite Generation der Medien-Startups. Er begutachtet die schon wieder überholten Trends von gerade eben (den Datenjournalismus von Nate Silvers FiveThirtyEight und Ezra Kleins Wonkblog), beerdigt recht herzlos "Totgeburten" wie Bürgerjournalismus und Longform-Projekte (The Atavist oder der schon abgeschaltete Byliner) und sucht ein Publikum für verdienstvolle, aber thematisch begrenzte Spartenseiten (Racket, The Intercept). Am Ende fragt er sich, warum ausgerechnet digitaler Journalismus zu einer Insider-Veranstaltung wurde: "Es ist eine Ironie, dass ein Medien mit so viel demokratisierendem Potenzial so zentralistisch wurde. BuzzFeed, The Huffington Post, The Daily Beast, Gawker, Quartz, Business Insider, The Intercept, Talking Points Memo und ProPublica sitzen alle in Laufweite voneinander entfernt in Lower Manhattan: Sie bilden den journalistischen Gegenpart zum Silicon Valley und reproduzieren die auf sich selbst fixierte New Yorker Medienelite. "Mit digitaler Technologie müssen die Leute eigentlich nicht mehr in Midtown oder Lower Manhattan leben, in der Gegend mit den höchsten Mieten in den USA", sagt Joshua Benton, der Direktor des Nieman Journalism Lab. "Man kann überall arbeiten. Doch die digitale Technologie hat die Kräfte mehr als jemals zuvor in New York konzentriert"."

Als das Beste, was die Politische Ökonomie und britischer Reformismus zu bieten haben, lobt Thomas Piketty Anthony Atkinsons Buch "Inequality: What Can Be Done?", das unter anderem eine ordentliche Steuerprogression bei Immobilien fordert: "Personen, deren Immobilienbesitz 100.000 Pfund Wert ist, zahlen darauf im Durchschnitt eine Steuer von 1.000 Pfund, während diejenigen, deren Besitz 1.000.000 Pfund beträgt, ungefähr 2.000 bis 2.500 Pfund zahlen."

Weiteres: William Dalrymple besucht im New Yorker Metropolitan Museum of Art eine Ausstellung über die Renaissance-Kunst der indischen Dekkan-Sultanate. Michael Tomasky macht seinen Frieden mit Hillary Clinton als der einzigen ernstzunehmenden Präsidentschaftskandiatin der Demokraten.

La vie des idees (Frankreich), 29.05.2015

Die Schwulenehe wurde in Irland gerade abgenickt, Abtreibung hingegen wird noch immer streng verfolgt. Edwige Nault gibt einen Überblick zu einem Phänomen, das im europäischen Kontext in dieser Form singulär ist und auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt. Eine zentrale Rolle spielte dabei bisher noch immer die katholische Kirche. "Auch wenn sich der Staat in den 1980er und -90er Jahren von der Gängelei durch die Kirche in anderen Fragen der Sexualethik emanzipiert hat (Verhütung, Homosexualität, Scheidung), steht er in der Abtreibungsfrage noch immer unter katholischem Einfluss ... Die jüngsten Debatten haben allerdings einen beispiellosen Graben zwischen den beiden Streitparteien offenbart: Zum einen hat sich die Regierung für ein Gesetz entschieden und nicht für Richtlinien oder ein Referendum, wie die Kirche fordert, und außerdem hat Premierminister Enda Kenny dem Kardinal Seán Brady deutlich zu verstehen gegeben, dass die Kirche in dieser Sache nichts mitzureden habe. Also zwei Deklarationen der Premieministerin in kurzem Abstand, die zeigen, dass Religion endgültig ins Privatleben verbannt ist."

Weitere Artikel: Sarah Rey porträtiert den französischen Historiker und Altertumsexperten Paul Veine, der dieser Tage 85 Jahre alt wird. Und unter der Überschrift "Der Faschismus und seine Reliquien" ist die Besprechung des Buchs "Le Corps du Duce" von Sergio Luzzato zu lesen, worin er anhand der Hinrichtung Mussolinis die Frage untersucht, ob sich auf Lynchjustiz ein Staat gründen lässt.

New York Times (USA), 06.06.2015

Tech- und Design-Spezial beim Magazin der New York Times, wo sich Bill Wasik fairerweise fragt, ob man nicht von digitalem Imperialismus sprechen sollte, wenn acht der zehn Top-Internetfirmen in den USA beheimatet sind, aber 81 Prozent der Nutzer nicht, und wenn es wahr ist, was man im Silicon Valley glaubt, und Technologie immer auch Werte transportiert: "Eine quasi-religiöse Haltung, die erklärt, warum ein Großteil von Googles und Facebooks philanthropischen Anstrengungen der letzten zwei Jahre sich auf Entwicklungsländer konzentriert. Die Bosse dieser Firmen glauben fest daran, dass Informationstechnologie, ihre eigenen Dienste selbstverständlich inklusive, auf lange Sicht zu einer besseren Gesellschaft verhelfen. Aus dem Silicon Valley betrachtet nimmt sich das Teilen von Daten weniger wie das Aufzwingen von amerikanischen Werten aus, denn wie ein universelles soziales Gut. Doch selbst, wenn wir dem zustimmen, bleibt die bange Frage, wohin das ganze Teilen führt. Den einzelnen Nutzer treiben Smartphone und Co. immer noch weiter an, sich zu vernetzen, Inhalte zu teilen und sein Privates offenzulegen. Aber all diese Daten zusammen ergeben für Regierungen und Unternehmen, die sie analysieren, höchst brauchbare Informationen. Und für Institutionen wie für Konsumenten gilt: Jeglicher Widerstand fällt mit der Erfahrung des Machbaren, mit der Erfahrung, dass, was einmal kaum akzeptabel war, unvermeidlich und wünschenswert werden kann."

Außerdem: Adrian Chen sucht nach den Urhebern einer Reihe von Falschmeldungen über chemische Unfälle, Ebola-Infektionen und Schießereien in den USA - und wird fündig bei der kremlnahen Internet Research Agency in St. Petersburg. (Die NYT hat den Text auch ins Russische übersetzen lassen.) Liz Alderman prüft, ob die Fahrervermittlung Uber in Paris gut ankommt. Clive Thompson fragt, wie die Schweizer Uhrmacher das digitale Zeitalter verkraften. Und der Fotograf Dave Greer zeigt uns die physisch greifbare Infrastruktur des Internets.
Archiv: New York Times