Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2005. In der Netzeitung spricht Fritz J. Raddatz über Anna Seghers, Bertolt Brecht und andere Gebrochene. In der taz beklagt Astrid Proll die Kriminaliserung der RAF durch die Polizei. In der FR erzählt der Verleger Ibrahim A Kasim Al-Rajab, wie im Irak Bücher produziert werden. Die NZZ hofft auf Medienkritik durchs Internet. Die Berliner Zeitung erinnert an das herzliche Einvernehmen zwischen RAF und SED. Die SZ wünscht der Musikbranche mehr Lundvalls.

TAZ, 28.01.2005

In der taz geht es um die RAF. In einem Interview mit Peter Unfried spricht Astrid Proll, frühere RAF-Terroristin, über ihre Bilder von Gudrun Ensslin und Andreas Baader, die ab morgen in der Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken zu sehen sein werden: "Das Bild der RAF ist ein Polizeibild. Die ersten Bilder waren die Steckbriefe. Durch die Bildhoheit über die Steckbriefe ist es der Polizei gelungen, die RAF zu entpolitisieren und sie zu kriminalisieren. Deshalb ist die Überführung in die Kunst gewissermaßen zwangsläufig. Diese Leerstelle - dieser Schwarzfilm - ist eine Einladung an die Kunst. Er ist attraktiv und muss besetzt werden."

Gerrit Bartels hat schon Christoph Heins neuen Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten" gelesen, der um den Tod des RAFlers Wolfgang Grams kreist. Bartels ist nur mäßig begeistert: zuviel "aufrichtiges politisches Engagement", zu wenig "eigene literarische Wirklichkeit".

Weiteres: Uh-Young Kim bespricht das Album "Push the Button", mit dem die Chemical Brothers offenbar wieder zum Sound zurückkehren wollen, für den man noch Knöpfe drücken, statt mit der Maus clicken muss. Daniel Bax verabschiedet den Architekten und Erfinder des international style, Philip Johnson, der nun in seinem berühmten glass house gestorben ist. Robin Alexander würdigt den gestrigen Doppelschlag gegen die Flick-Sammlung: Flugblätter und die Anzeige "Heil dich doch selbst", die Intellektuelle und Künstler in der FAZ geschaltet hatten.

Und Tom.

FR, 28.01.2005

Vor der Eröffnung der RAF-Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken und nach Lektüre des Bandes "Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF" stellt Thomas Medicus fest: "Der von den Mitgliedern der RAF durchweg bezeugte (protestantische) Hang zum Absoluten zeigt ebenso eine unheimliche Verwandtschaft mit der antidemokratischen Kulturkritik der 20er Jahre wie ihr heroischer Radikalismus, ihr Authentizitätszwang oder das totalitäre Geraune vom "neuen menschen". Die RAF hat viel mit der gedanklich gleichfalls unterbelichteten Wandervogel-Bewegung zu tun, der Gudrun Ensslins Eltern angehörten. Und auch der nationalrevolutionäre Dandyismus eines Ernst Jünger stand den Desperados der RAF wie der 68-Bewegung näher, als die Akteure glaubten."

Ute Evers spricht mit dem irakischen Verleger Ibrahim A Kasim Al-Rajab über die Möglichkeiten, in seinem Land, Bücher zu produzieren: "Viele Buchhandlungen 'publizieren' anhand von Fotokopien. Sie produzieren mit Kopiermaschinen Bücher niedrigster Qualität, die oft die verlegerische Ethik und ihren Standard verletzen. Es wird mit einer Auflage von nur 25 bis 100 Exemplaren 'veröffentlicht'. Die Umschläge werden mit einfachen Inkjet-Druckern hergestellt! Das kann man wohl kaum als verlegerische Tätigkeit bezeichnen. Unglücklicherweise wird das Copyright in den meisten Fällen nicht respektiert."

Philip Meuser schreibt den Nachruf auf den Architekten Philip Johnson. In Times mager solidarisiert sich Elke Buhr mit dem Protest gegen die Flick-Collection.

Weitere Medien, 28.01.2005

In der Netzeitung interviewt Bettina Röhl den Kritiker Fritz J. Raddatz, der unter anderem über Anna Seghers, Bertolt Brecht und andere Größen der DDR-Aristokratie spricht, die er in seiner Jugend kennenlernte und als "Gebrochene" wahrnahm: "Gebrochen meint, dass sie sich alle gedrückt haben vor dem Problem Stalinismus. Vor dem Problem, dass man ihre eigenen Freunde und Genossen zum Teil in der Sowjetunion umgebracht hatte und dass dies sogar während des Slansky-Prozesses in Prag weiter passierte, als sie also schon wieder in der DDR waren. Mit 'gebrochen' meine ich, dass sie eigentlich ein Stück Lüge gelebt haben. "

Berliner Zeitung, 28.01.2005

Andreas Förster erinnert daran, wie Ulrike Meinhof 1970 in Ost-Berlin FDJ-Chef Günther Jahn besuchen wollte, aber nicht vorgelassen wurde: "Meinhofs Gesprächswunsch bleibt unerfüllt. Als sie am nächsten Tag erneut mit ihrem gefälschten Pass nach Ostberlin einreisen will, wird sie auf Weisung von Erich Mielke an der Grenze zurückgewiesen. Schon einen Tag aber später lässt der Stasi-Minister die Einreisesperre wieder aufheben - offenbar auf Weisung aus dem SED-Politbüro. Doch reiste Meinhof nie wieder in die DDR ein. Dieser Vorgang ist ein Indiz dafür, dass in der Parteispitze das Agieren der Baader-Meinhof-Gruppe, der ersten Generation der Rote Armee Fraktion (RAF), wohlwollender betrachtet wurde als von der Stasi. Während Mielke und seinen Generälen das linksintellektuelle Reden von Stadtguerilla und bewaffnetem Kampf suspekt blieb, gab es in der SED-Führung immerhin einige, die - vielleicht in Reminiszenz an die eigene Untergrundtätigkeit im Dritten Reich - nicht ohne Sympathie auf die Kämpfer aus dem Westen blickten."

Zur überraschenden Einigung von Kultursenator Thomas Flierl und Bernd Wilms über eine Verlängerung seiner Intendanz am Deutschen Theater meint Birgit Walter: "Er hätte es dem Senator nicht leicht machen müssen. Er hätte Bedenkzeit verlangen, Zweifel vortragen, Forderungen stellen, zögern können. Aber Wilms hat wohl wirklich gewartet."

NZZ, 28.01.2005

Der Essayist Jose Maria Ridao (mehr hier) setzt die NZZ-Reihe über Europa und den Islam mit einer Reflexion über die spanische Geschichte fort. In der Reconquista erkennt er ein Spanien bis heute prägendes Ereignis - denn hier wurden Andersgläubige als Fremde definiert: "Der Logik dieser einseitigen Lesart gemäß wurden Mohammedaner, das heißt die Anhänger einer bestimmten Religion, in Araber verwandelt, mithin in Menschen, die von außerhalb Spaniens gekommen waren und die, zumal sie nicht von der Halbinsel stammten, auf dieser nur mittels Aggression und Plünderung der Urbevölkerung ansässig werden konnten."

Weitere Artikel: Roman Hollenstein schreibt zum Tod des amerikanischen Architekten Philip Johnson. Udo Taubitz gratuliert dem britischen Autor David Lodge zum Siebzigsten. Christoph Funke kommentiert die Farce um die Intendantensuche am Deutschen Theater.

Auf der Filmseite werden Jean-Pierre Jeunets Film "Mathilde" (mehr hier), das Biopic "Ray" (mehr hier) und der Film "Whisky" von Juan Pablo Rebella und Pablo Stoll besprochen.

Auf der Medien- und Informatikseite kritisiert "Ras" in einem Kommentar die Besitzverhältnisse von europäischen Medien: In Frankreich gehören Zeitungen und Sender inzwischen Waffenfabrikanten und Baulöwen, in Großbritannien kontrolliert Rupert Murdoch einen allzu großen Teil der Landschaft, von Silvio Berlusconi in Italien ganz zu schweigen. Medienjournalismus werde unter diesem Zeichen immer schwieriger. Die Schlussfolgerung: "Medienkritik kann wirksam sein. Vielleicht wird ihr das schwerer kontrollierbare Internet neuen Aufschwung bringen."

Nikola Wohllaib resümiert das Technologieforum MidemNet in Cannes, wo nach einem einheitlichen Standard für die digitale Übertragung von Musik gesucht wurde. Gemeldet wird, dass die Suchmaschinen Yahoo und Google die Fernsehprogramme aufbereiten wollen.

SZ, 28.01.2005

Auf der Midem hatte die Musikbranche mal wieder viel Gelegenheit zu jammern. Ralf Dombrowski zeigt unbeeindruckt auf Bruce Lundvall, den US-Chef der EMI Classics & Jazz: "Der Mann hat unlängst erst mit Norah Jones vorgemacht, wie man trotz Piraterie 20 Millionen CDs verkauft. Damit hat er im Umkehrschluss bewiesen, dass die vielzitierte Krise ein Problem der Infrastruktur, nicht des Marktes ist. Das Bedürfnis der Menschen nach Musik steigt, nur sind die in alten Vertriebsvorstellungen verharrenden Branchenriesen kaum in der Lage, die Nachfrage auch in funktionierende Geschäftsmodelle zu übertragen.

Von vielen Seiten wird Berlins Kultursenator Thomas Flierl empfohlen, den Vertrag von Bernd Wilms als Intendant des Deutschen Theaters um zwei Jahre zu verlängern. Die Gründe, die Christopher Schmidt dafür angibt, sind allerdings wenig schmeichelhaft: der Intendantenmarkt sei "zur Zeit abgefischt" und die Zeit für einen neuen Intendanten "zu knapp, um die Spielzeit 2006/2007 seriös vorbereiten zu können. Es spräche für das Verantwortungsgefühl von Wilms - der sich, was die künstlerische Qualität unter seiner Leitung betrifft, ohnehin nicht mehr zu verstecken braucht -, wenn er sich bereit fände, abermals die Rolle des Lückenbüßers zu übernehmen, nun aber mit der breiten Brust des moralischen Siegers." Danach steht wohl Frank Baumbauer bereit, das DT zu übernehmen, meint Schmidt. (Das nennt man in Berlin Charme. Der Tagesspiegel ist übrigens aktueller und meldet in der heutigen Ausgabe, dass Flierl und Wilms sich bereits geeinigt haben.)

Weitere Artikel: In der Reihe "Frauen und Männer" verteidigt Christine Dössel die Quote: Sie "mag ein ungerechtes Instrument sein - aber eines für mehr Gerechtigkeit in nach wie vor androzentrischen Machtstrukturen". Eric-Oliver Mader berichtet über ein Kolloquium in Halle zu 350 Jahren Christian Thomasius. Gerhard Persche erzählt kurz und bündig, wie Wien das Mozartjubiläum 2006 feiern will. Thomas Steinfeld schreibt zum siebzigsten Geburtstag des Schriftstellers David Lodge. Kristina Maidt-Zinke zum Siebzigsten von Hermann Peter Piwitt. Gottfried Knapp schreibt zum Tod des amerikanischen Architekten Philip Johnson. Henning Klüver schreibt zum Tod des italienischen Verlegers Luciano Foa. Gemeldet wird, dass gestern 240 Künstler und Intellektuelle mit einer Anzeige in der FAZ gegen die Flick Kollektion protestierten (mehr hier).

Besprochen werden die Aufführung von "Kommander Kobayashi", mit dem Hamburgs opera stabile wieder eröffnet wurde, Tim Blake Nelsons Film über Auschwitz - "Die Grauzone", eine Ausstellung von Andreas Hofer im Lenbachhaus München und Bücher, darunter Per Olov Enquists Filmerzählung "Hamsun" und ein Band über Hans Blumenbergs Konzept der "Unbegrifflichkeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 28.01.2005

Mark Siemons hält im Aufmacher ein großes Plädoyer für die kulturelle Auseinandersetzung mit China: "Im Unterschied zu den heute recht detaillierten Kenntnissen über westliche Kulturen, die über Medien, Schulen, Universitäten, erst recht über die vielen Auslandsstudenten nach China dringen, gehört in Deutschland noch nicht einmal ein Mindestmaß an Wissen über chinesische Philosophie, Geschichte und Kunst zum Bildungskanon."

Weitere Artikel: In der Leitglosse kritisiert "Rh" die Willfährigkeit gegenüber der türkischen Diplomatie, die dazu führt, dass Passagen über den Völkermord an den Armeniern aus Schulbüchern getilgt werden (Der Kommentar ist nicht auf dem neuesten Stand. AFP meldet, dass Brandenburg den Genozid an den Armeniern wieder in den Lehrplan aufnimmt). Wolfgang Pehnt würdigt den Architekten Philip Johnson, der im Alter von 98 Jahren gestorben ist. Dietmar Dath gratuliert dem Schriftsteller Hermann Peter Piwitt zum Siebzigsten. Andreas Rosenfelder lauschte eine Diskussion über "Neoliberalismus, Bürgergesellschaft und soziale Verantwortung" in Essen. Felicitas von Lovenberg gratuliert dem britischen Autor David Lodge zum siebzigsten. Dokumentiert wird Arno Lustigers gestrige Rede zum 60. Jahretag der Befreiung von Auschwitz.

Auf der Medienseite würdigt Michael Seewald die Arbeit der bayerischen Filmförderung, und Michael Hanfeld porträtiert den Schauspieler Rainer Hunold aus der Praxis am Bülowbogen.

Auf der letzten Seite schildert Christian Saehrendt die Zustände an der Berliner Universität vor 1933 - bereits in der Weimarer Zweit wüteten hier Rechtsextremismus und Antisemitismus. Und Jürg Altwegg porträtiert die Autorin Irene Heidelberger-Leonard, die jüngst mit eine Biografie über Jean Amery hervorgetreten ist und jetzt mit dem Einhard-Preis ausgezeichnet wird.

Besprochen werden Maren Ades Filmdebüt "Der Wald vor lauter Bäumen" und einige Sachbücher, datunter das Buch mit dem unsäglichen Titel "Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka" des Tierrechtlers Charles Patterson.