Außer Atem: Das Berlinale Blog

Nicht nur untergründig bösartig: Emir Baigazins 'Harmony Lessons' (Wettbewerb)

Von Lukas Foerster
14.02.2013.


Vorletzter Wettbewerbstag, die Pressevorstellung liegt auf der Frühschiene, um neun Uhr morgens, der Film ist ein fast zwei Stunden langes Debüt aus Kasachstan: Dass der Berlinalepalast auch bei "Harmony Lessons" gut gefüllt ist, spricht für die Ausdauer der akkreditierten Festivalgänger. Als dann gleich in den ersten drei Minuten ein Schaf direkt vor der Kamera erst eingefangen, dann geschlachtet und ausgeweidet wird, geht zwar ein hörbares Stöhnen durchs Publikum (nebenbei bemerkt: Das ist bei weitem nicht die erste derartige Szene des Festivals; im Gegenteil sind derartige, von der Kamera beglaubigte Tiertötungen eines der quintessentiellen Motive des Festivalkinos, fast könnte man meinen, dass die Schlachtung im Weltkino wieder eine rituelle Bedeutung zurückgewinnt, ein Band über Raum und Zeit hinweg zum Zuschauer knüpft). Es dauert dann allerdings nicht lang, bis man erkennt, dass der junge Regisseur Emir Baigazin einen der interessantesten Filme des diesjährigen Wettbewerbs gedreht hat.

Geschlachtet wird das Tier von Aslan, einem Jugendlichen mit eher schmalem Körperbau und einem blassen, schwer lesbaren Gesicht. Aslan lebt auf einem Bauernhof, wird von seiner Großmutter aufgezogen und geht zur Schule. Dort spielt der Großteil des Films. Gleich zu Beginn gibt es eine medizinische Untersuchung, die den Ton vorgibt für das, was folgt: Bösartige Jungenstreiche, Schläge mit dem Lineal auf erigierte Penisse.

Die Schule ist ein erstaunlich komplexer Raum, der sich allerdings fast durchweg abseits der offiziellen Hierarchien der Lehrerschaft und des Direktoriats konstituiert. Die eigentlichen Chefs sind andere. Die Schüler in Aslans Klasse müssen ihr mickriges Taschengeld an Bolat abgeben, einen Rüpel, der mit seiner Entourage über den Schulhof flaniert. Wenn die Schüler kein eigenes Geld haben, sagt Bolat ihnen, dann müssen sie eben welches eintreiben, bei den Jüngeren. Bald erkennt man allerdings, dass Bolat selbst nur zum mittleren Management gehört, dass er das Geld, das er einnimmt, an andere weiterreicht.

Die Schule ist durchsetzt von einem kriminellen Syndikat (genauer gesagt: von mehreren miteinander konkurrierenden Syndikaten), das sich, nach dem Abschluss, direkt ins Gefängnis fortzusetzen scheint. Schritt für Schritt, exakt komponierte Einstellung für exakt komponierte Einstellung fügt sich "Harmony Lessons" zum finsteren, mit einiger Extravaganz (und durchaus ein wenig Gangster-Glamour) ausgestalteten Gesellschaftsbild. Eine Szene, in der erfolglose Geldeintreiber von ihren Vorgesetzten vermöbelt werden, wird unterbrochen von zwei Unterrichtsstunden: In der ersten lernen die Schüler über Ghandi und gewaltlosen Widerstand, danach steht Waffenkunde auf dem Lehrplan. Später im Film folgt, wie, um dem indischen Unabhängigkeitskämpfer gleich noch eine reinzuwürgen, eine Darwin-Lektion.



Aslan gerät dann allerdings nicht (oder: nicht nur) in die Mühlen dieser Ökonomie - weder ist er ein passives Opfer, noch ein aufstiegswilliger Mitläufer. Aslan hat einen eigenen Kopf, richtet zuhause Kakerlaken auf einem winzigen elektrischen Stuhl hin, hält sich eine Echse in einem Glas und passt in der Schule besonders gut auf, wenn es um Chemie und - eben - Waffenkunde geht. Mit einigem Geschick baut der Film um Aslan herum mehrere, miteinander mal parallel laufende, mal konkurrierende Bedeutungssysteme auf: Die Tierwelt, die kriminelle Schulhierarchie, aber auch ein weniger brutales Beziehungsgeflecht, das ihn mit zwei anderen Außenseitern in der Klasse sowie mit einem Mädchen verbindet, das sich weigert, im Unterricht ihr Kopftuch abzunehmen.

"Harmony Lessons" ist ein zumindest phasenweise brillanter, nicht nur untergründig bösartiger Film. Kein perfekter Film, zugegeben; aber seine Fehler sind von einer Art, die man gerade einem Debüt gerne verzeiht: Ein wenig zu viele Ideen drängen sich in den knapp zwei Stunden, nicht alle bekommen angemessen Raum, sich zu entfalten. Gefasst sind die Ideen in sozusagen maximal sprechende Bilder: nicht nur hat Baigazin einen Hang zum Symbolismus, vor allem begnügt sich keine einzige Einstellung seines Films damit, einen Zufallsblick aufs Dargestellte zu simulieren; das Komponierte am Bild drängt sich nicht auf, bleibt aber stets präsent, in Form von Rahmungen, Aus- und Einschließungen, geometrischen Mustern, gebildet von Türen, Fenstern, Fahnenstangen, Körpern. Die Form, die sich daraus ergibt, ist durchaus ein Gefängnis, das die anderen Gefängnisse, von denen der Film handelt, spiegelt, verdoppelt, ergänzt, aber nicht unbedingt ein tristes. Ihr Regime ist vielgestaltig, lässt sich vom Gegenstand ein wenig verformen. Wenn Aslan zum Beispiel in einer frühen Szene einige Kinder beobachtet, die auf dem Eis mit ihren Schlitten herumrutschen, gleitet die vorher fast durchweg starre Kamera plötzlich mit.

Der Film findet selbst das beste Bild für seine hintergründige Ästhetik: Aslan malt mit Kreide ein sonderbares, abstraktes Symbolbild auf einen Fußboden im großmütterlichen Haus, in mehreren Schritten, über den gesamten Film verteilt: Ein Kreis, in den sich ein Quadrat einschreibt, in dem wiederum ein neuer Kreis Platz findet, darin ein Dreieck - und so weiter; ergänzt wird das Muster durch eine tote Kakerlake. Wie dieses Kreidebild hat auch "Harmony Lessons" eine formale Struktur, die sich nicht zur Welt hin öffnen kann, die sich aber in immer neuen Wendungen und immer morbider werdenden Windungen nach Innen ausdifferenziert.

Lukas Foerster

"Uroki Garmonii" (Harmony Lessons). Regie: Emir Baigazin. Mit Timur Aidarbekov, Aslan Anarbayev, Mukhtar Anadassov, Anelya Adilbekova, Beibitzhan Muslimov u.a., Kasachstan, Deutschland, Frankreich 2013, 115 Minuten (alle Vorführtermine)