Im Kino

Tastende Berührungen

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Jochen Werner
17.04.2014. Zwei dunkle Geheimnisse überkreuzen sich in Pelin Esmers schönem zweiten Spielfilm "Watchtower" vor atemberaubender Naturkulisse. Srdan Golubovics Traumafilm "Circles" läuft auf die Erkenntnis heraus, dass kein Tod sinnlos ist.


Am Ende der Welt, so lernen wir früh im zweiten Spielfilm der türkischen Regisseurin Pelin Esmer, kann man immer noch einen weiteren Schritt Richtung Einsamkeit gehen. Das Ende der Welt trägt in "Watchtower" den Namen Tosya und die Gestalt eines kleinen Gebirgsdörfchens in der nördlichen Türkei. Nihat (Olgun Simsek), der anfangs noch mit einem Fernbus durch die Nacht gefahren wurde - man muss eine lange, tiefe Nacht durchqueren, um an einem Ort wie Tosya anzukommen -, steigt dort zwar aus, aber auch dies wird nur eine Zwischenstation für ihn sein auf dem Weg in die Abgeschiedenheit, in den Wachturm. Denn Nihat ist ein Wächter des Waldes - keine mythische Gestalt, sondern ein einsamer, eigenbrötlerischer Mensch, der Tag und Nacht allein über der Waldeinsamkeit trohnt, um von dort aus nach Waldbränden Ausschau zu halten.

Was für Menschen sind das, die ihr Leben freiwillig in diesen Türmen fristen, jenseits von Gesellschaft und menschlichem Kontakt - solchem jedenfalls, der über die knisternden, körperlosen Stimmen der anderen Wächter hinausreichen würde, die in anderen Landstrichen ein ähnliches Dasein fristen? Nihat ist ein Flüchtender, einer, der vermeintlich mit der Welt abgeschlossen hat - ein Mann, der ein dunkles Geheimnis, eine unaufgearbeitete Schuld mit sich trägt und mit dieser Schuld und der daraus resultierenden Selbstzermarterung allein sein will. Dennoch lässt ihn das Leben nicht völlig los: Bei einem seiner seltenen Besuche im Dorf trifft er auf die junge Seher (Nilay Erdönmez), die gegen den Willen ihrer konservativen Eltern ihr Studium unterbrochen hat, um als Reisebegleiterin bei dem Busunternehmen zu arbeiten, das auch Nihat nach Tosya brachte. Auch die junge Frau trägt ein Geheimnis mit sich, das sie in dieses Leben trieb.



Ein Geheimnis, das spätestens nach einem nicht genau definierten Zeitsprung in der Erzählung - markiert nur durch den plötzlich beachtlichen Bartwuchs Nihats - kaum noch zu übersehen ist: "Eure Sicherheit hat mich gefickt", wirft Seher ihrer geschockten Mutter an den Kopf, als sie dieser den schwangeren Bauch präsentiert. Vom Onkel, bei dem sie während ihres Studiums leben sollte, vergewaltigert und geschwängert, flüchtet sich Seher in ein immerhin selbstbestimmtes Leben, wenn dies auch am Rande der Gesellschaft stattfinden muss. Für ihr ungewolltes Kind aber Sorge zu tragen, dazu ist die traumatisierte junge Frau nicht bereit - doch gegen ihren Plan, das Kind auszusetzen und in der Natur sterben zu lassen, interveniert Nihat, der sie zufällig beim Zurücklassen des Neugeborenen beobachtet hat. Er nimmt Mutter und Kind mit in seinen Wachturm, und aus der Notgemeinschaft zweier beschädigter Menschen und eines hilflosen Kindes entsteht ein Spannungsverhältnis aus Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung.

Ein Mann, eine Frau, ein Kind, zwei dunkle Geheimnisse und schlussendlich ein (reinigendes?) Gewitter - der Stoff von Pelin Esmers Film verfügt über viel Potenzial, zum Guten wie zum allerschlimmsten Arthouse-Mainstream. "Watchtower" ist erfreulicherweise ein guter Film, mitunter ein sehr guter. Das liegt an der Behutsamkeit, die seine Inszenierung über weite Strecken prägt: Esmer nähert sich dem Plot, den Figuren, dem Setting in sachten, tastenden Berührungen an, statt mit dem symbolischen Holzhammer darauf einzuschlagen. Das heißt nicht, dass die Himmel nicht trotzdem bedeutungsschwer dräuen und die Nebel ganz metaphernfrei wallen würden, aber "Watchtower" erschöpft sich nicht darin. Es ist ein sanfter Film, der seine fragilen Figuren nicht zu Bedeutungsträgern degradiert, sondern sie sein und atmen lässt im Rahmen einer mächtigen Landschaft, die selbst sprechend, flüsternd, raunend wird. Manchmal weiß man nicht so genau, was sie sagt, aber das ist sehr, sehr gut so.

Jochen Werner

Watchtower - Türkei 2012 - Originaltitel: Gözetleme kulesi - Regie: Pelin Esmer - Darsteller: Olgun Simsek, Nilay Erdonmez, Laçin Ceylan, Menderes Samancilar, Riza Akin - Laufzeit: 96 Minuten.

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Obwohl es einem die serbisch-deutsch-französisch-slowenisch-kroatische Koproduktion "Circles" eigentlich sehr einfach macht, hatte ich mich, ehe mir klar wurde, welches Spiel hier gespielt wird, geschätzte dreißig Minuten auf der falschen Fährte befunden. Gleich zu Beginn ereignet sich ein Zeitsprung. Auch weil die zunächst auf jung geschminkten Darsteller in der rahmenden Rückblende so sonderbar aussahen, konnte ich sie in der Erzählgegenwart, auf alt geschminkt und darin kaum weniger sonderbar, erst nicht richtig zuordnen. So legte sich, für geschätzte dreißig Minuten, auf in Wirklichkeit sehr überschaubare Vorgänge ein Nimbus des Rätselhaften; der fade Förderfilm, der "Circles" recht eigentlich ist, ward seltsam und fremd. Waren Täter- und Opferrollen in den dazwischen liegenden Jahren neu verteilt worden? Sind das aufgesetzte Makeup und das historisch ungenaue Kostümbild zuletzt beabsichtigte V-Effekte? Als es Licht wurde in meinem Kopf, begann der Film sich einzutrüben: Manchmal ist Begriffsstutzigkeit ein Segen.
 
Drei Episoden - ins emphatische Idiom des Films übertragen: "drei Leben" - entfaltet Regisseur Srdan Golubovic, laut Einblendung ausgehend von einer "wahren Begebenheit" aus dem Bosnienkrieg, als ein serbischer Soldat einen muslimischen Zivilisten in Schutz nahm und dafür mit dem Leben bezahlte. Am Küchentisch erklärt der Vater des Soldaten den Titel des Films: Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, breiten sich im Kreis Wellen aus. Hat der Opfertod seines Sohnes Wellen geworfen? Oder ist er stumm und unerlöst untergegangen? "Circles" weiß die Antwort von Anfang an ("Kein Tod ist sinnlos"), nimmt sich aber trotzdem 112 Minuten, um diese so souverän wie einfallslos heimzubringen. Oft wähnt man sich in einem Fernsehfilm: Auf arte oder bei der ARD, die beide als Geldgeber fungieren, würde "Circles" wenn nicht angenehm, so doch nicht unangenehm auffallen.
 


Zwei der drei Geschichten handeln vom Vergeben. Einmal werden ein Arzt, der mit dem Toten befreundet war, und ein Patient, der sich als einer der Mörder entpuppt, in ein existenzielles Dilemma verstrickt: Der Arzt ist der einzige, der die lebensrettende Operation durchführen kann. Dann ist es der sture Vater des Soldaten, der den Sohn des anderen Täters als seinen eigenen annehmen soll, weil das Drehbuch es so will. Der dritte Erzählstrang folgt dem muslimischen Zivilisten nach Halle, wo er mit deutscher Frau und zwei kleinen Töchtern lebt. Haris arbeitet bei BMW, ist leicht entfremdet (wie geometrisch kadrierte Wohnblockbilder penetrant zu erkennen geben), dabei aber auch irgendwie glücklich. Doch bevor "Circles" ihn in Ruhe lässt, muss Haris beweisen, dass sein Leben das Opfer des mutigen Serben wert war, und zwar indem er es - Achtung Spoiler - aufs Spiel setzt, um der ehemaligen Verlobten des Toten, dafür eigens nach Halle angereist, in einer akuten Gefahrensituation zur Seite stehen zu können.
 
"Circles" ist durchgehend und aufdringlich gescriptet, im Kleinen wie im Großen. So wie der Todesfall, um den alles kreist, darf auch das Leben nicht sinnlos vergehen. Jede einzelne Geste trägt ihre Bedeutung, auch das Erzählganze ist, wie es sich im esoterischen Titel schon andeutet, von höherer Vorsehung durchwaltet. Der Begriff, den sich "Circles" vom historischen Trauma macht, ist auch nicht eben unesoterisch: Wenn es den Menschen nur gelänge, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, die Fensterläden zu öffnen und das Licht hereinzulassen ­- dann fiele das Vergangene endlich ab von den Überlebenden, auf denen es eben noch wie ein Alb lastete.

Unter anderen Umständen wäre gegen all das gar nichts einzuwenden. In der populären Kunstform Kino, sofern sie ihre billigen Effekte selbstbewusst zu instrumentieren versteht, kann auch ein kitschiger Humanismus wie der von "Circles" noch seine innere Richtigkeit haben. Leider hält der Film sich für etwas Besseres und ist gerade darum unerträgliches Mittelmaß - wo Figuren, Gesten, erzählerische Einsätze weder zu klein noch zu groß sein dürfen.

Nikolaus Perneczky

Circles - Serbien, Deutschland, Frankreich, Slowenien, Kroatien 2013 - Originaltitel: Grogovi - Regie: Srdan Golubovic - Darsteller: Aleksandar Bercek, Leon Lucev, Nebojsa Glogovac, Nikola Rakocevic, Hristina Popovic - Laufzeit: 112 Minuten.