Efeu - Die Kulturrundschau

G G Garnelen und G G Gehacktes

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22.11.2022. Die Welt plädiert nach der ihrer Meinung nach voreiligen Absetzung von Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" dafür, die Waffen der Kritik zu schärfen. Die Ausgrabung des etruskischen Thermalbads in San Casciano dei Bagni raubt der FAZ den Atem. Der taz lernt mit Patrick Holzapfel beim Open Mike, Politik zu gurgeln. In der FAS spricht Regisseur Luca Guadagnino über die Schönheit von Außenseitern. Und die SZ meldet die Verhaftung der beiden iranischen Schauspielerinnen Hengameh Ghaziani und Katayoun Riahi.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.11.2022 finden Sie hier

Literatur

Die FAZ dokumentiert einen Brief der ukrainischen Lyrikerin Daryna Gladun an ihre deutsche Kollegin Asal Dardan - der Brief entstand im Rahmen des Projekts "Weiterschreiben", das zahlreiche solcher Briefe initiiert und dokumentiert. "Ich klammere mich an den Krieg wie an einen Faden, der mich mit meiner Familie und meinem Zuhause verbindet", schreibt Gladun über sich, ihre Flucht und ihre Habseligkeiten - vom Rucksack, über ihre Jacke bis zu ihren Schuhen, "in denen ich am Abend des 24. Februar das Haus verlassen habe. Sie waren damals so gut wie neu. In ihnen bin ich in den wahrscheinlich letzten Vorortzug aus Butscha gestiegen und bis an die Grenze der Gebiete Kiew und Schytomyr gefahren. In ihnen habe ich die lange Fahrt zu meiner Mutter nach Chmelnyzkyj unternommen. In ihnen bin ich aus Chmelnyzkyj aufgebrochen. In ihnen habe ich in einem kalten Evakuierungszug 28,5 Stunden an der ukrainisch-polnischen Grenze gestanden. ... In diesen Schuhen kam ich nach Kolbuszowa, Rzeszów, Krakau, Warschau, Frankfurt (Oder), Berlin, Potsdam, Frankfurt (Main), Brünn, Wien, Göteborg, Stockholm, Uppsala, in ihnen bin ich in die USA geflogen . . . Meine ganze Odyssee hat sich in diesen Schuhen zugetragen. In ihnen habe ich mein Zuhause verlassen, in ihnen werde ich nach Hause zurückkehren."

Wir freuen uns und gratulieren: Unser Filmkritiker Patrick Holzapfel hat beim Open Mike Wettbewerb in Berlin mit seinem Text "Gurgelgeräusche" nicht nur den Prosa-, sondern auch den Publikumspreis gewonnen. Einen "experimentellen und trotzdem vielsagenden Text" erlebte tazlerin Susanne Messmer. Es geht um den Landwirtschaftsbeauftragten einer Stadtregierung, der sich "sich seit Jahrzehnten mit einer seltsamen Erkrankung der Kehle quält. In einem irren inneren Monolog wie bei Franz Kafka philosophiert er vor sich hin, dass er eigentlich nie wieder schlucken, aber auch nicht spucken kann, sondern eben nur noch das Dazwischen beherrscht, das Gurgeln. 'Das G G Geld floss auf die Konten derer, die auch mich zum Essen einluden, ja, das gebe ich zu, G G Garnelen und G G Gehacktes, bis ich nicht mehr schlucken konnte.' Holzapfel schubst seine Zuhörer*innen gekonnt in ein Wechselbad aus Ekel und Lachreiz. Die Politik ist ein harter Job. So sehr wie in diesem Text ist einem das noch selten im Halse stecken geblieben."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Literaturkritiker Gert Ueding zum 80. Geburtstag. Verena Roßbacher erhält für ihren Roman "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" den Österreichischen Buchpreis, meldet Michael Wurmitzer im Standard. Und die Jury hat entschieden: Der Michael-Alten-Preis geht in diesem Jahr an Adam Soboczynski für seine (leider verpaywallte) Rezension in der Zeit zu Michel Houellebecqs Roman "Vernichten".

Besprochen werden unter anderem Juri Andruchowytschs "Radio Nacht" (NZZ), Andrej Kurkows "Tagebuch einer Invasion" (Standard), Gunilla Palmstierna-Weiss' Autobiografie "Eine europäische Frau" (Jungle World), Alain Claude Sulzers "Doppelleben" über die Brüder Goncourt (Tsp), das von Simon Ganahl und Katharina Prager herausgegebene "Karl Kraus Handbuch" (SZ) und Sarah Kirschs "'Ich will nicht mehr höflich sein'. Tagebuch aus der Wendezeit" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Wajdi Mouawads "Vögel" am Metropoltheater München. Foto: Jean-Marc Turmes

Irrig findet Jakob Hayner in der Welt die Vorwürfe, die jüdische Studentenverbände gegen Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" am Münchner Metropol Theater erhoben haben. Von israelbezogenem Antisemitismus könne in dem oft gespielten Erfolgsstück des libanesisch-kanadischen Autors keine Rede sein. Theaterleiter Jochen Schölch hat das Stück dennoch schockiert abgesetzt und vergeblich um Gespräche gebeten: "Nicht nur, dass Autor und Regie in eins gesetzt werden, auch aus dem Zusammenhang gerissene Passagen, offensichtliche Fehllektüren, als politisches Statement behandelte Figurenrede sprechen für eine kunstferne Einschätzung. In keinem theater- oder literaturwissenschaftlichen Einführungsseminar an der Universität würde das Bestand haben." Aber etwas ist Hayner wichtig: "Am Vorgehen der jüdischen Studentenverbände Kritik zu üben, heißt nicht, das Anliegen abzuwehren. Es heißt, das Anliegen mit dem Gegenstand zu vermitteln, um den es hier eben auch geht: Nämlich ein trotz aller Mängel komplexes Kunstwerk, das sich eben nicht auf eine ideologische Botschaft herunterbrechen lässt. Dementsprechend sollten kulturpolitische Waffen wie Subventionskürzungen wohlverstaut bleiben, während sich die geistigen Waffen der Kritik gerne weiter schärfen dürfen."

Besprochen werden Vivaldis "Il Giustino" bei den Barocktagen an der Staatsoper in Berlin (taz, Tsp, BlZ), Tobias Kratzers Inszenierung von Rossinis "Diebischer Elster" am Theater an der Wien (FAZ), Yael Ronens "Blood Moon Blues" am Berliner Gorki-Theater (Tsp), die Uraufführung von Sidi Larbi Cherkaouis Choreographie "Ukiyo-e" und Damien Jalets "Skid" am Grand Théâtre de Genève (FAZ) und das Stück "revision. Beobachtungen aus dem Saal 165 C" im Frankfurter Mousonturm, mit dem die junge Theatertruppe Big Image Collective den Mord an Walter Lübcke in den Blick nimmt (taz).
Archiv: Bühne

Kunst

Überwältigt ist Andreas Rossmann in der FAZ von den Funden, die die Ausgrabungen eines antiken Thermalbads in San Casciano dei Bagni in der Toskana erbracht haben. Archäologisch bedeutend und im Schlamm bestens konserviert, zeugen die Hygieia- und Apollon-Figuren auch davon, wie Etrusker und Römer zusammenfanden, wie Rossmann schreibt: "Die Anlage mit ihren sprudelnden Becken, gestuften Terrassen, Brunnen und Altären wurde spätestens im dritten vorchristlichen Jahrhundert von den Etruskern errichtet, von den Römern erweitert und erst im fünften Jahrhundert nach Christus aufgegeben. 'Die Zeit vergeht, die Sprache ändert sich, auch die Namen der Gottheiten ändern sich', sagt (Grabungsleiter Jacopo) Tabolli, 'aber die Art des Kultes und die therapeutische Anwendung bleiben dieselben'. Die Schließung in der christlichen Ära sicherte den Schatz, ohne ihn zu beschädigen. Die Becken wurden mit schweren Steinsäulen versiegelt und die Götter respektvoll dem Wasser anvertraut, das erneut seine heilende Wirkung bewies: Luftdicht eingeschlossen, blieben die Statuen unversehrt."

Weiteres: Ingeborg Ruthe schüttelt in der FR den Kopf über die Entscheidung der Unesco, dass aus dem Naumburger Dom das moderne Altarbild entfernt werden müsse. Der Erfurter Maler Michael Triegel hatte mit einem Mittelbild in Lucas Cranachs dreiflügeligem Altar jenen Teil ersetzt, der einst von Bilderstürmern zerstört worden war.
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Architektur

Dass jetzt auch die Bundesstiftung Baukultur für Umbauten anstatt für Neubauten wirbt, versetzt Gerhard Matzig in der SZ in Hochstimmung. Als dürfte er jetzt wieder einen Aston Martin fahren, statt sich einen Tesla kaufen zu müssen. Oder im Bunker wohnen! Aber ökologisch macht Retro-Futurismus einfach Sinn, versichert er: "Dazu kommt, dass Länder wie Deutschland im Grunde zu Ende gebaut sind. Weshalb es absurd ist, dass neugebaut wird in aller Regel auch dort, wo der Umbau nicht nur volkswirtschaftlich günstiger, sondern ökologisch viel effizienter wäre. Wenn man die Bauten ganzheitlich bilanziert, ist ein ertüchtigter Altbau einem auch noch so energieeffizienten Neubau vorzuziehen."

Die Idee des zirkulären Bauens ist allerdings nicht ganz neu, wirft in der FAZ Laura Helena Wurth ein, die gerade das Privathaus des Gestalters Jean Prouvé besichtigte, eines Pioniers der Nachhaltigkeit.
Archiv: Architektur

Film

Die SZ meldet, dass die iranischen Schauspielerinnen Hengameh Ghaziani und Katayoun Riahi verhaftet wurden, weil sie in der Öffentlichkeit ihr Kopftuch ablegten. Ghaziani hat ihr "Vergehen" auf Instagram öffentlich gemacht und dazu geschrieben: "Vielleicht wird das mein letzter Post sein. Von diesem Moment an, was auch immer mit mir passiert, wisst ihr, dass ich wie immer bis zum letzten Atemzug bei den iranischen Menschen bin."

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Die FAS hat ihr Gespräch mit dem italienischen Autorenfilmer Luca Guadagnino online nachgereicht, dessen in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnete Kannibalen-Teenieromanze "Bones and All" diese Woche bei uns in den Kinos startet. Guadagnino spricht über sein Kino der Außenseiter und den Begriff der Schönheit, der für seine Filme zentral ist. Und dann all dies Blut? "Ich sehe darin keinen Widerspruch." Denn "Blut ist Teil unserer Natur, eine ultimative, intime Basis unserer Existenz. Das Kino beschäftigt sich ja nicht nur mit dem Sichtbaren, sondern auch dem Unsichtbaren. Im Film trage ich eine Sache, die innen ist, nach außen. Auch Schönheit ist die Möglichkeit, etwas zu sehen, das von vielen nicht gesehen wird." Denn "das Kino beschäftigt sich mit unserem Unterbewusstsein. Wenn jemand, der von jeder Seite hört, er müsse perfekt sein, Billy Wilders Meisterwerk 'Manche mögen's heiß' sieht und lernt, dass niemand perfekt ist, ist das genauso mächtig, wie wenn man sich auf einem Platz mit vielen Leuten in die Luft sprengt. Das Kino hat diese Sprengkraft."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel empfiehlt Till Kadritzke dem Berliner Publikum die Werkschau Alice Diop im Kino Arsenal. Daniel Kothenschulte (FR), Didier Péron (Tsp) und Patrick Straumann (NZZ) schreiben zum Tod des Autorenfilmers Jean-Marie Straub (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden die Satire "The Menu" mit Ralph Fiennes (NZZ) und der Disney-Animationsfilm "Strange World" (Presse).
Archiv: Film

Musik

In der FAZ kommt Lotte Thaler dem für sein Schweigen in Sachen Russlandkrieg schwer kritisierten Teodor Currentzis zu Hilfe, mit einem allerdings gleich doppelt geschmack- und maßstabslosen Vergleich: "In Russland kommt man ins Gefängnis, wenn man den Überfall auf die Ukraine 'Krieg' nennt. In Deutschland geraten russische Künstler in Gesinnungshaft, wenn sie sich nicht öffentlich von Putin distanzieren. Einfach schweigen ist nicht erlaubt. Dabei sollten gerade Deutsche aus doppelter Erfahrung in diktatorischen Systemen mit erpressten Bekenntnissen besonders vorsichtig sein. Als wäre die Erinnerung an die eigene Geschichte ausgelöscht, bestimmt moralische Selbstgerechtigkeit den Diskurs." Anlass ihrer Verteidigungsrede ist im übrigen ein von Currentzis in Baden-Baden dirigiertes Konzert.

Außerdem: Michael Haefliger beendet seine Intendanz am Lucerne Festival, meldet Christian Wildhagen in der NZZ. Besprochen werden die zwei Abschiedsalben des texanischen Hiphop-Kollektivs Brockhampton (ZeitOnline), ein Berliner Konzert von Phoenix (Tsp), ein Konzert des Oslo Philharmonic unter Klaus Mäkelä und mit der Cellistin Sol Gabetta (Standard) und die Jubiläumsausgabe von Michael Jacksons Pop-Blockbuster "Thriller" (SZ). Eine gute Gelegenheit, sich mal wieder John Landis' episches Musikvideo zum Titelstück zu Gemüte zu führen:

Archiv: Musik