Magazinrundschau

Die Bandbreite unserer Akzente

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.02.2021. Alternative Wahrheiten? Das klingt sehr nach den Wissenschaften, meint der tschechische Soziologe Zdeněk Konopásek in Novinky. Belarus heute, das ist wie Prag 1968, meint Viktor Martinowitsch in Eurozine. Klimaschutz aus Eigennutz - warum nicht, meint das New York Magazine. Elet es Irodalom betrachtet das Denkmal der Mörder, das nicht zwischen Tätern und Opfern des Holocaust unterscheiden will. Trauma statt Transgression ist der neue Trend der Kunst, behauptet Liberties.

Novinky.cz (Tschechien), 09.02.2021

Štěpán Kučera unterhält sich mit dem tschechischen Soziologen Zdeněk Konopásek über das gewandelte Verhältnis von Wissenschaft und Politik. "Die politische Kraft der Wissenschaft", so Konopásek, "beruhte paradoxerweise lange Zeit in ihrer Apolitizität. Wissenschaftler mischten sich in unsere Kontroversen wie Schiedsrichter aus einer anderen Welt. Sie legten uns nackte, neutrale Fakten vor, die von jeglichem politischen Charakter bereinigt waren. Man glaubte allgemein, über eine wissenschaftliche Wahrheit könne man nicht abstimmen. Die Logik der Politik hingegen funktionierte völlig anders. Die Politik, dachte man, stütze sich nicht auf objektive Fakten, sondern auf eine mächtige Mehrheit subjektiver Meinungen. Aus diesem Grund wird noch heute eine Regierung aus Fachleuten als Ausnahmezustand empfunden, als Überbrückungsmaßnahme, bevor wieder die eigentliche Politik beginnt. Heute allerdings, wenn ich da als Forscher mit Fakten ankomme, komme ich nolens volens auch mit einem politischen Standpunkt. Eine wissenschaftliche Intervention ist immer auch ein Eingriff in Politik." Kein Wissenschaftler sei freilich im Besitz der absoluten Wahrheit. "Die Wissenschaft steckt im Grunde voller 'alternativen Wahrheiten' - man nennt sie Hypothesen, Theorien, Modelle und Tatsachen." Wenn wir den Experten in der Coronakrise vorwerfen, dass sie sich untereinander nicht einig sind, so Konopáselk, und von ihnen erwarten, mit einer Stimme zu sprechen, dann sei das ein Missverständnis, denn vollkommene Einmütigkeit unter Wissenschaftlern sei selbst im Rahmen ihres jeweiligen Fachgebiets eher die Ausnahme. "Mit einer Stimme über Covid sprechen sollte die Regierung, nicht die Wissenschaftler."
Archiv: Novinky.cz
Stichwörter: Coronakrise

Eurozine (Österreich), 08.02.2021

Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch, spricht im Interview, das Serge Sakharau für das Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien geführt hat, über die Lage in Belarus, wo sich die Menschen dagegen wehren müssen, durch den permanenten Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung erschöpft zu werden. Die historische Dramatik könnte höchstens mit Prag 1968 verglichen werden. Aber: "Die Nachrichten verfolgen und im Tagebuch notieren - das erscheint mir im Moment wichtiger als sie schon zu analysieren. Was gerade geschieht, hat sich nirgendwo zuvor ereignet. Diese Dinge haben sich seit 1968 nicht in Osteuropa zugetragen. Ich habe mir auch angesehen, was in Polen während der Solidarnosc passierte, sie steckten damals 10.000 Menschen ins Gefängnis. In unserem Land sprechen wir von 25.000, die zu dem einen oder anderen Zeitpunkt bisher verhaftet wurden. Im Moment ist davon jeder betroffen. Man kann die Nachrichten ausschalten, aber wenn jemand, der einem nahesteht, verschwindet, dann muss man einfach die Listen der Verhafteten durchsehen. Wenn man jeden Sonntag diese Listen durchgehen muss, dann kann niemand in Ruhe leben."

Weiteres: Wenn Europa auch nach dem Brexit nicht auf Englisch als lingua franca verzichten kann, dann sollte es sich die Sprache wenigstens selbstbewusst aneignen, findet Philippe Van Parijs in einem ursprünglich im Wespennest veröffentlichten Text: "Wir müssen uns trauen, die Sprache zu sprechen, die auch unsere ist, ohne Hemmung und mit der ganzen Bandbreite unserer Akzente. Wir müssen uns selbst erlauben, alle Erneuerungen hinzuzufügen, die wir wollen." Hicham Khalidi und Rolando Vázquez stören sich daran, dass die EU-Kommission für ihren Green Deal auch auf das Bauhaus rekurriert, das sie aus ihrer heutigen Sicht viel zu inegalitär, eurozentrisch und nicht-inklusiv finden. Ganz abgesehen davon, dass die Moderne ganz generell für die beiden untrennbar mit Kolonialismus und industriellem Kapitalismus verbunden und deshalb unakzeptabel ist.
Archiv: Eurozine

Magyar Narancs (Ungarn), 27.01.2021

Vor kurzem erschien der erste Band über das Lebenswerk des Regisseurs und Schauspielers Tamás Fodor, der ab den 1960er Jahren ein Gründungsmitglied und prägende Figur des ungarischen Underground-Theaters war. Fodor zieht in der Wochenzeitschrift Magyar Narancs Parallelen zwischen den Zeiten damals und den Ereignissen an den Hochschulen heute in einer Situation, in der die gegenwärtige Regierung die Autonomie der ungarischen Universitäten abwickelt: "Die Situation damals war auch nicht anders: man konnte wissen, dass sich die Macht mit allen erdenklichen Mitteln eine unabhängige Institution, eine autonome Form stemmen würde. Und trotzdem mussten wir für die entsprechenden Aktivitäten Verantwortung übernehmen. Später musste man dann auch politisch Farbe bekennen, denn wir mussten anerkennen, dass es nicht ausreicht, aus dem Sessel heraus für die Freiheit die Daumen zu drücken, man musste dafür auch etwas tun. Dies ist auch die große Frage der heutigen Generation: bleibt sie 'zivil' oder findet sie jene Aktionsformen, die sich nicht nur mit partikularen Angelegenheiten befassen. (...) Auch im Falle der Schauspieluni sehe ich, dass es ausgehend von einer technisch-spezifischen Forderung doch um die essentiellste und immanenteste politische Frage geht, nämlich um Unabhängigkeit und Autonomie. Jene Studenten und Hochschullehrer die sich hier zu Wort gemeldet haben, versuchten zunächst im Eigeninteresse aufzustehen und sich aufzurichten."
Archiv: Magyar Narancs

Guardian (UK), 09.02.2021

Fara Dabhoiwala empfiehlt zwei Bücher, die ziemlich rigoros mit der Geschichte des British Empires ins Gericht gehen. Der Journalist und Autor Sathnam Sanghera beschreibt in "Empireland", wie der Kolonialismus bis heute die britische Gesellschaft präge, vom immensen privaten Reichtum über die Dominanz der City of London bis zu Großmäuligkeit betrunkener Briten im Ausland. Der Wirtschaftshistoriker Padraic Scanlan betont in seinem "Slave Empire" unter anderem, dass sich mit der Abschaffung der Sklaverei die Lage der Schwarzen nicht unbedingt verbesserte: "Die Abschaffung der Sklaverei beendete nicht das gigantische System aus Handel und Ausbeutung, das sie hervorgebracht hat. Im Gegenteil, es sollte sich perfektionieren. Die britische Regierung bezahlte kolossale Summen, um Sklavenbesitzer zu entschädigen - aber nichts an die verklavten Menschen selbst. Diese wurden stattdessen von dem Gesetz, das die Sklaverei abschaffte, gezwungen, weiterhin etliche Jahre auf den Plantagen zu arbeiten, als unbezahlte 'Lehrlinge'. Die Abolitionisten glaubten, dass befreite Sklaven härter arbeiteten und die Plantagen profitabler machen würden. Als der Preis für karibisches Zuckerrohr fiel, wurde ihrer Faulheit die Schuld gegeben. Als sie die Frechheit besaßen, eine bessere Bezahlung zu fordern, wurde Tausende von dunkelhäutigen Vertragsarbeiter aus China, Indien und Afrika eingeschifft, um ihren Platz einzunehmen - wie auch zu zahllosen anderen neuen Plantagen in aller Welt. Freie Arbeit und freier Handel waren mit Sklaverei nicht vereinbar, sehr wohl aber mit fortgesetzter Ausbeutung und dem globalem Verschieben schlechtbezahlter Arbeiter."
Archiv: Guardian

New York Magazine (USA), 19.01.2021

Im aktuellen Heft erinnert David Wallace-Wells daran, dass die Erneuerbaren immer noch erst zehn Prozent der Weltenergieproduktion ausmachen. Doch es gibt Hoffnung: "Dank Wetterextremen, der Wissenschaft und Aktivisten wie Extinction Rebellion ist die Ära der Klimaleugner erst einmal vorüber. Exxon wurde aus dem Dow Jones Industrial Average Index geworfen, und Tesla machte Elon Musk zum reichsten Mann der Erde. Der Ruf der Ölindustrie sinkt auf den der Tabakindustrie. Abgesehen von Brasiliens Bolsonaro fühlt sich quasi jeder politisch oder wirtschaftlich Verantwortliche aufgrund der ökonomischen Realitäten, der Proteste, des sozialen Drucks und der kulturellen Erwartungen dazu verpflichtet, für das Klima aktiv zu werden. Es wäre schön, dass nicht als Fortschritt verbuchen zu müssen, aber genau das ist es. Die Fragen lauten: Was bringt es? Und was kommt danach? Desinformation und Missachtung sind nicht allein verantwortlich für die Verzögerung, und es ist anzunehmen, dass die Ära des Leugnens nicht von einer der Erlösung abgelöst wird, sondern von einer der Klima-Heuchelei, des Grünwaschens und des Klima-Missbrauchs. Doch das gab es immer … Der zweite Quell guter Nachrichten ist die Ankunft des Eigennutzes in diesem Zusammenhang. Damit meine ich nicht die Logik von BlackRock und ihrer halbherzigen Klimaverpflichtung, sondern den wachsenden weltweiten, gesellschaftsübergreifenden Konsens, dass die Welt durch Dekarbonisierung eine bessere wird. Noch vor zehn Jahren schien es zu teuer, heute ist es ein guter Deal, sogar für McKinsey. Am deutlichsten wird das bei der Luftverschmutzung, die jährlich etwa neun Millionen Menschen umbringt … Was besonders erstaunlich ist an den neuen Klimaversprechen: Sie sind nicht nur ohne US-Führung entstanden, sondern auch außerhalb des Rahmens des Pariser Klimaabkommens. Sie sind nicht das Ergebnis geopolitischer Gewaltakte, sondern stiller Entwicklungen. Erstaunlich vor allem für jene Skeptiker, die seit Jahrzehnten das Problem kollektiver Klimaaktion wälzen."

Elet es Irodalom (Ungarn), 05.02.2021

Im vornehmen Budapester 12. Bezirk steht ein Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Gestalt eines sogenannten Turulvogels. Das Mahnmal war wiederholt Gegenstand kontroverser Debatten, weil der Turulvogel als Symbol u.a. von den ungarischen Nazis verwendet wurde, weil das Mahnmal ohne Genehmigungen errichtet wurde und auch, weil bei den Namen der aufgeführten Bezirksbewohnern mehrere Täter aufgeführt werden, die an Massenmorden an Juden beteiligt und später von den Sowjets hingerichtet wurden (So auch der Großvater eines prominenten Politikers der Regierungspartei Fidesz.). Ein in der vergangenen Woche präsentierter Dokumentarfilm des Regisseuren Dániel Ács mit dem Titel "Das Denkmal der Mörder" (A gyilkosok emlékműve) brachte das Mahnmal erneut in den Fokus von Debatten, nachdem absurderweise verkündet worden war, dass das Mahnmal doch bleiben und lediglich als eine 'Vogel-Statue' fungieren solle. Der Historiker László Karsai fasst die Debatte aber auch die Stärken sowie Schwächen des Dokumentarfilms zusammen: "Es ist ein Eckpfeiler des ungarischen Holocaust-Gedenkens, wer die Täter waren, ob wir sie benennen, wer die Opfer waren und ob wir sie auch benennen. Auf den Weltkriegsmahnmalen werden aber 'Verfolgte' aufgeführt und nicht Juden. Auch die Täter werden nicht benannt, der Täter ist der namenslose und unpersönliche zweite Weltkrieg.  (...) Die Verwaltung des 12. Bezirks hätte auch entscheiden können, dass das Mahnmal abgebaut wird, doch in diesem 'herrschaftlichen' Bezirk wäre das politischer Selbstmord gewesen. So bleibt die Turulstatue und die erste Idee war, dass sie 'kastriert' wird, sprich, die Namen der zivilen Opfer, die Namen der Juden und die Namen ihrer Mörder entfernt werden. (...) Dann wollte man die Statue umtaufen zu einem Mahnmal für den Ersten Weltkrieg, aber auch daraus wurde nichts. Gleichzeitig möchte man aber ein neues Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs errichten. Die Frage bleibt nur: wozu?"

Tablet (USA), 09.02.2021

Das Jahr 2020 hat einen massiven Anstieg an antisemitischen Hassverbrechen in den USA gebracht, schreibt die Sicherheitsexpertin Hannah Elka Meyers, die fürchtet, dass sich das 2021 noch  steigern wird. Am beunruhigendsten findet sie dabei, wie stark rechte und linke Extreme dabei zusammenspielen. "Am Sturm auf das Kapitol nahmen zahlreiche, offen antijüdische Propagandisten teil, darunter ein Mann, der ein 'Camp Auschwitz'-Sweatshirt trug, und einem anderen, dessen Pro-Holocaust-Shirt '6MWE' erklärte, Kurzschrift für '6 Million Wasn't Enough'. Genauso alarmierend ist, dass die Verschwörergruppe QAnon, die auf klassischen antisemitischen Tropen aufgebaut ist und die viele der Randalierer inspiriert hat, zunehmend Apologeten in der Hauptströmung der Republikanischen Partei und Unterstützer an deren Rand gefunden hat. ... Georgias republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, eine QAnon-Anhängerin, hat Videos auf Facebook verbreitet, die behaupten, dass 'zionistische Suprematisten' sich vorschworen hätten, Europa mit muslimischen Einwanderern zu überwältigen, um weiße Menschen zu 'ersetzen'." Gleichzeitig wurde bei der Linken der Vorwurf des "weißen Privilegs" benutzt, antisemitische Ressentiments zu schüren, so Meyers. "Der Hashtag #JewishPrivilege, der sich vom White-Privilege-Diskurs ableitet, tauchte Mitte Juni in den sozialen Medien auf und versuchte, Juden als die mächtigsten und unterdrückerischsten aller Völker darzustellen. Der Hashtag mag von rechtsextremen Gruppen stammen, aber er hat sich schnell in der extremen Linken eingenistet, was auf eine ideologieübergreifende Besessenheit mit Juden als allmächtige Agenten der Ungerechtigkeit und schattenhafte Manipulatoren globaler Angelegenheiten hinweist."
Archiv: Tablet

The Atlantic (USA), 01.02.2021

Samantha Culp untersucht in einem Artikel, was uns das spekulative Sachbuch nach Art von Alvin Tofflers "Future Shock" von 1970 noch zu sagen vermag. Toffler etwa glaubte, viele gesellschaftliche Probleme auf das hohe Tempo des technologischen Wandels zurückführen zu können: "Das Versprechen solcher Bücher lautet, dass wir mit der richtigen Ein- und Voraussicht gut auf das Kommende vorbereitet sind und sogar davon profitieren können. Dieses 'Insiderwissen' stellt die Zukunft als Rohstoff dar, von dessen Wert wir mit dem Wissen um neue Entwicklungen profitieren können … Dieser kaufmännische Ansatz hat den Pop-Futurismus dominiert, obwohl er sich möglicherweise verändert. Im letzten Jahr gab es eine erstaunliche Anzahl von Neuansätzen auf dem Gebiet, seltsamerweise ausgerechnet in einer Zeit massiver Zukunftsunsicherheit. Kann das historisch prahlerische Genre weiterhin Trost bieten bzw. echte Einsichten? … Bestimmt von den Vorgaben ihrer Klienten fokussiert sich das Zukunftsbusiness auf genau das Problem, das es zu lösen bezahlt wird. Aus dem Humus der Unternehmensberatung und überhitzter Start-ups kommend, sind diese Arbeiten, selbst, wenn sie sich thematisch öffnen, stärker interessiert an Sternenkolonien und ewigem Leben denn an der Abschaffung der Haftstrafen, einfach weil es Profit bedeutet. (Ein neuer Ableger Tofflers, aber ohne die Sorge wegen des Tempos, ist 'The Future Is Faster Than You Think' von Peter Diamandis und Steven Kotler. Es beschreibt, wie Technologien wie KI der Menschheit 'mehr Umbrüche und mehr Reichtum als jemals zuvor' bescheren werden. Leicht zu erraten, wer die Umbrüche und wer den Reichtum bekommt. Probleme wie Klimawandel, so wird da behauptet, ließen sich mit neuen Geräten in den Griff kriegen: billigeren Solaranlagen und Buschfeuer-Drohnen.)"
Archiv: The Atlantic

Wired (USA), 04.02.2021

Dank avanciertester Überwachungstechnologien im Netz, in den Behörden und im öffentlichen Raum sind die Datensilos zum Bersten gefüllt. Längst hat sich aus Analystenperspektive ein Informations Overload eingestellt, der dazu führt, dass man in einer hochauflösenden Datenlage die Nadel im Heuhaufen schon wieder nicht findet, erklärt Arthur Holland Michel in einer großen Reportage. Abhilfe schaffen nun automatisierte Fusionsstrategien, also die zentrale Synchronisierung, Abgleichung und Auswertung riesiger Datenmengen unter Hochgeschwindigkeitsbedingungen, die Muster und Abweichungen davon quasi in Echtzeit erkennen und damit - etwa in militärischen oder in polizeilichen Situationen - schnelles und zielgerichtetes Handeln gestatten sollen. Dystopisch ist die Sache obendrein natürlich auch und selbstredend verdient Microsoft an der Sache mit: "Ein Beamter der NYPD zeigte mir, wie er sich jedes Führungszeugnis jedes Bürgers der Stadt aufs Telefon holen kann, dazu Listen ihrer bekannten Kontakte, Fälle, in denen sie als Opfer eines Verbrechens oder als Zeuge genannt werden und, sofern sie ein Auto besitzen, eine Karte mit ihren gängigen Fahrtwegen, sowie eine komplette Liste, wann sie falsch geparkt haben. Dann reichte er mir das Telefon. Machen Sie mal, sagte er, suchen Sie einen Namen. Zig Leute kamen mir in den Sinn. Freunde, Geliebte, Feinde. Letztendlich entschied ich mich für das Opfer einer Schießerei, deren Zeuge ich in Brooklyn vor ein paar Jahren war. Sofort tauchte es auf, mit einer ganzen Menge weiterer persönlicher Informationen, bei denen mich der Eindruck beschlich, dass weder ich noch ein neugieriger Polizeibeamter ein Recht auf ihre Kenntnis besaßen, sofern kein Gerichtsbeschluss vorlag. Mit einem leichten Schwindelgefühl reichte ich das Telefon zurück."
Archiv: Wired

Liberties (USA), 01.02.2021

Die Überschreitung, das "Epater le bourgeois", die Transgression waren eine lange Zeit der Hauptgestus der Kunst. Das ging von Edouard Manet und seinem "Déjeneur sur l'herbe", der das Bürgertum erzürnte, bis zu den Performance-Künstlern gegen Ende des 20. Jahrhunderts wie Vito Acconci, der mit seiner intelligent inszenierten Masturbationskunst schockierte. Heute undenkbar, schreibt Laura Kipnis in einem elegischen, aber durchaus nicht einfach nostalgischen Essay. "Wenn in den Manet-bis-Acconci-Jahren das 'ob's dir gefällt oder nicht' der Leitsatz war, dann ist es heute der beklagte Übergriff. Transgression wurde vom Trauma als künstlerisches Konzept ersetzt: Regeln setzen statt brechen ist der ästhetische Gestus der Stunde, so ist es nun mal, es gibt kein Zurück. Neue historische Akteure haben die Bühne betreten, streben kulturelle Hegemonie an und schicken die alten ins Umerziehungslager. Die Opfer der Transgression sind die Protagonisten des Moments: die Beleidigten, Leute, die sich sehr aufregen, ihre Interventionen sind ein Trommelwirbel in den sozialen Medien, ihr Tremolo ist durchdringend. (Online-Kulturkommissar ist ein neues Karrierekonzept.)"
Archiv: Liberties

Bloomberg Businessweek (USA), 04.02.2021

Die Geschichte über die Gamestop-Aktie, die eigentlich darniederlag (wer kauft noch Videospiele im Laden?) aber von kleinen Tradern hochgepusht wurde, irrlichterte auch durch deutsche Medien. Die einfache Version der Geschichte geht so, dass Hedgefonds-Manager, die gegen die Aktie gewettet hatten, Riesenverluste erlitten. Die Kleinaktionäre, die sich auf dem Reddit-Forum Wallstreetbets versammelt hatten, hatten sie reingelegt. Das war wohl auch so, schreibt Pat Regnier, aber allzu romantisch sollte man es auch nicht sehen. Profitiert hatte vor allem auch das Tradinghaus Robinhood, das von Provisionen auf Käufe und Verkäufe lebt. "Diese kleinen Gewinne summieren sich, wenn Geschäfte in Millionenhöhe getätigt werden, und je mehr Handel es gibt, desto besser ist es für diese Market Maker. Es ist ihnen eigentlich egal, ob es nach oben oder unten geht. Der Kampf um GameStop war also teilweise nur ein Kampf zwischen verschiedenen Teilen des Wall Street Establishments. Short-Seller wurden gedrückt, aber einige gigantische Hochgeschwindigkeits-Handelsfirmen hinter den Kulissen haben zweifelsohne ziemlich gut verdient, an all diesem Handeln und der Volatilität. 'Es ist nicht David gegen Goliath' schreib Alexis Goldstein in ihrem Markets Weekly Newsletter, 'es ist Goliath gegen Goliath' mit David als Feigenblatt.'"
Stichwörter: Aktien, Börsen, Gamestop, Das Irrlicht