Im Kino

Leben, die wir nicht gelebt haben

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
01.06.2022. Joachim Trier erzählt in "Der schlimmste Mensch der Welt" am Beispiel eines Paares von Entscheidungen,  bei denen es kein richtig oder falsch gibt, und dem Mut, den es kostet, sie zu treffen. In ihrem ersten Langfilm 1970, "Dark Spring", suchte Ingemo Engström nach feministischen Wegen, die Vereinzelung zu überwinden. Der Film eröffnet am 2. Juni im Berliner Arsenal Kino eine Engström-Retrospektive.


Der neue Film von Joachim Trier beginnt mit einem so schlichten wie prägnanten Bild. Eine junge Frau in einem schwarzen Abendkleid, im Hintergrund das Osloer Stadtpanorama, dazwischen der in der Abendsonne funkelnde Fluss Akerselva. Julie (Renate Reinsve) raucht gelangweilt, tippt ein wenig auf dem Smartphone herum, blickt zunächst vage in unsere Richtung und anschließend auf die golden leuchtende Stadt. Dann der Titel: "Der schlimmste Mensch der Welt". Mehr nicht. Das genügt.

Danach wird erst einmal sehr rasch sehr viel erzählt, in Sekundenschnelle scheucht uns eine Off-Erzählerin durch eine Reihe recht kurzer Episoden im jungen Leben der Protagonistin, an dem wir fortan in "12 Kapiteln, einem Prolog und einem Epilog" teilhaben dürfen, dazu läuft "Ride like the wind" von Christopher Cross. Der Duktus dieses Prologs weckt zunächst ungute Erinnerungen an Joachim Triers Debüt "Reprise", eine etwas zu schlaumeiernd herumliterarisierende, nicht gut gealterte postmoderne Beziehungskiste. Aber das ist 15 Jahre her, und Joachim Trier ist längst ein gereifter, lebenskluger Filmemacher geworden, der inzwischen um die poetische Kraft der Einfachheit weiß.

Der Handlungsstrang, der sich durch die 12 Kapitel von "Der schlimmste Mensch der Welt" zieht, ist linear und schlicht. Julie ist in einer glücklichen Beziehung mit dem älteren Comicautoren Aksel (Anders Danielsen Lie), in der es durch den Altersunterschied zwischen beiden sowie unterschiedliche Standpunkte zum Thema Familienplanung gleichwohl immer wieder zu Reibereien kommt. Auf einem spontanen nächtlichen Abweg auf eine fremde Party lernt Julie den im Gegensatz zum intellektuellen Aksel unverkopften Eivind (Herbert Nordrum) kennen und verbringt eine lange, intime Nacht mit ihm - ohne jedoch Aksel sexuell zu betrügen. Dabei soll es bleiben, als sich die beiden im Morgengrauen verabschieden, ohne Namen oder Telefonnummern auszutauschen. Aber natürlich kommt es anders, beide laufen sich zufällig erneut über den Weg, und Julie muss eine schwere Entscheidung treffen.



Der Film endet noch längst nicht, als Julie sich, nach einer magischen und im Wortsinne zeitlosen Sequenz, in der sich ihr und uns der ganze Zauber und die Versprechen einer möglichen Zukunft offenbaren dazu durchringt, mit Aksel Schluss zu machen. Wie all diese Geschichten nicht enden, sondern beginnen mit den Entscheidungen, die wir treffen. Überhaupt ist das das Hauptthema dieses an der narrativen Oberfläche so schlichten, emotional aber subtilen und komplexen Films, der seine Protagonistin durch einen Zeitraum von mehreren Jahren und Lebensphasen begleitet: wie sich, je länger wir leben, die Anzahl der Leben, die wir nicht gelebt haben, immer höher hinter uns auftürmt.

Für Julie, die irgendwann im Film ihren 30. Geburtstag feiert, offenbart sich dies als eine erste, vage schmerzvolle Ahnung, Aksel trifft es weit härter - nicht nur, weil ihm am Ende, von unheilbarem Krebs gezeichnet (wie überhaupt Anders Danielsen Lie in Joachim Triers Filmen stets der mit den Krankheiten zum Tode hin ringende Schmerzensmann ist), die Zukunft unter den Fingern zerrinnt und nur noch die Vergangenheit bleibt. Bereits im Moment der Trennung, den Trier lang und quälerisch auserzählt, ist ihm viel bewusster als Julie, was beide unwiederbringlich verlieren - nicht weil er klüger oder reflektierter wäre als seine jüngere Partnerin, sondern durch die eigenen Erfahrungen in Verlust und Scheitern, die Julie noch nicht gemacht haben kann.

Es wäre leicht, hier einen falschen Ton zu treffen und Aksels Schmerz zu nutzen, um Julies Entscheidung als einen jener naiven oder leichtsinnigen Fehler zu kategorisieren, die man ein Leben oder doch zumindest einen abendfüllenden Film lang bereuen und betrauern kann. Aber darum geht es nicht, es ist weitaus komplexer und schmerzvoller. "Der schlimmste Mensch der Welt" - eine Zuschreibung, die der Film nicht auf Julie münzt, sondern die Eivinds Minderwertigkeitskomplex gegenüber seiner spirituell erleuchteten, das Klima und diverse Minderheiten schützenden Ex beschreibt - handelt von den Entscheidungen, bei denen es kein richtig oder falsch gibt und mit denen wir uns für ein mögliches Leben und gegen eines oder unzählige andere entscheiden. Davon, dass wir mit jeder Tür, durch die wir mutig gehen, andere Türen, andere Wege hinter uns lassen. Dass der Mut, den wir dabei aufbringen, notwendig ist, und dass der Verlustschmerz und die Trauer, die er mit sich bringt, unvermeidlich sind.

Julie wird auch am Ende des Films nicht angekommen sein, wird aber um etliche Erfahrungen, Erkenntnisse, Narben reicher in eine Zukunft gehen, die ihr noch viele offene Türen anbieten wird. Für Aksel bleiben nur Erinnerungen und eine Nostalgie, die ihm selbst nicht geheuer ist, auch wenn er sich ihr nicht zu entziehen vermag. Eine seltsame Balance aus Hoffnung und einer nicht auslöschbaren Trauer, mit der uns Joachim Trier aus diesem Film, seinem besten, entlässt und zurück in unsere eigenen Leben schickt.

Jochen Werner

Der schlimmste Mensch der Welt - Norwegen 2021 - OT: Verdens verste menneske - Regie: Joachim Trier - Darsteller: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, Hans Olav Brenner, Helene Bjørneby - Laufzeit: 128 Minuten.

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Eine Frau und ein Mann, beide in weißen Laborkitteln, setzen sich vor einen Fernseher. Auf dem Bildschirm sind zwei andere Leute in Laborkitteln zu sehen, die ihrerseits wieder anderen Leuten, zwei Frauen, Anweisungen geben, für ein Rollenspiel vermutlich: die eine Frau soll darstellen, wie sie der anderen ein Kleid verkauft. Was sehen wir hier, in dieser frühen Szene aus Ingemo Engströms "Dark Spring"? Die Beobachtung einer Simulation? Die Beobachtung der Beobachtung einer Simulation? Jedenfalls etwas vielfach Vermitteltes, eine Situation, die definiert, überformt ist durch Rahmungen: visuelle, technische, institutionelle, soziale, vermutlich auch geschlechtsbezogene. Die Stimme, die die Anweisungen gibt, ist die eines Mannes, die Frauen führen aus, was ihnen aufgetragen wird.

Der Film verhält sich zu den Rahmungen, indem er sie schnell wieder los wird und später nicht mehr auf sie zurückkommt. Wir sehen die Frau und den Mann in den Laborkitteln noch einmal, während sie sich voneinander verabschieden. "Ich möchte wegfahren", antwortet die Frau auf die Frage des Mannes, warum sie nach ihrer Scheidung nicht mehr arbeiten wolle. Das ist die bestimmende Bewegung: weg von hier, nicht hin zu etwas.

"Dark Spring" entsteht im Jahr 1970 und ist der erste Langfilm Engströms, ihre Abschlussarbeit an der Hochschule für Fernsehen und Film München, zu deren erstem Jahrgang die gebürtige Finnin gehört. In manchen Seminaren ist sie die einzige Frau und "Dark Spring" ist längst nicht nur, aber sicherlich auch ein Versuch, auf diese Situation zu reagieren. Der Versuch, die Vereinzelung zu überwinden: Das ist ein wiederkehrendes Motiv im Film, und vielleicht auch sein Strukturprinzip. In seinem Zentrum stehen Frauen, die von etwas berichten, von ihren Erlebnissen, von ihren Gedanken, von Büchern, die sie gelesen haben; und die, während sie - man kann das wohl so verallgemeinern: - von sich berichten, mal die Kamera, mal eine andere Frau, mal beide gleichzeitig adressieren.



Es kommt mir vor, als sei dies, der Modus des Adressierens, das Entscheidende. Und zwar eben weil die übrigen Rahmungen, die die meisten anderen Filme um die Sätze, die in ihnen gesprochen werden, installieren, bei Engström fehlen oder jedenfalls opak sind. So haben die Berichte der Frauen zwar zweifellos etwas Dokumentarisches, das sich aber nie zu einer klassischen Authentizitätsbehauptung verhärtet. Die Fiktion, die der Film um einige der Frauen spinnt, bleibt erst recht fragmentarisch. Was zählt, sind die Sätze der Frauen, und die Insistenz darauf, dass sie an jemanden gerichtet sind; auch wenn vorläufig nicht immer oder vielleicht überhaupt noch nicht klar ist, an wen.

Es geht um vieles in diesen Sätzen. Es geht um die materiellen Bedingungen des Filmemachens in einer Situation, in denen Filme von Frauen noch bestenfalls als Anhängsel oder Nachsatz des Männerkinos vorgesehen sind; es geht um mögliche Auswege aus dieser Situation: Aneignung der Produktionsmittel ja bitte, Karriere machen um jeden Preis eher nein; es geht um den Warhol-Solanas-Komplex - das SCUM-Manifesto wird zitiert und auch effektbewusst ins Bild gerückt, dessen Radikalismus übernimmt der Film zwar keinesfalls ungebrochen, möchte ihn jedoch offensichtlich als Möglichkeit präsent halten, buchstäblich bis zum letzten Bild; es geht auch immer noch um den Kapitalismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, wobei von den Arbeitern, die neben den Frauen als zweites mögliches Subjekt eines neuen Kinos erwähnt werden, vorläufig noch nichts zu sehen ist. Besonders oft geht es um die "Zweierbeziehung" (gedacht als das Zusammenleben mit einem Mann), um das Leiden an ihr, um Möglichkeiten ihrer Überwindung oder auch ihrer Wiederbelebung unter anderen, besseren Umständen.

Kaum möglich, "Dark Spring" von heute aus nicht auch als einen frühen Nachhall auf 1968 zu sehen. Eine der Frauen spricht in einem sonderbaren Satz über "die Revolutionen, von denen man geträumt hat, als man ganz klein war" und die für sie in einer Linie stehen mit dem Märchen von Rotkäppchen und der Begeisterung von Kindern für Indianer. Folgt daraus, dass die Revolution selbst schon nur noch ein Märchen und ein Kindertraum ist? Oder vielleicht eher, dass es gilt, auch die nachrevolutionären Kämpfe mit einem Bewusstsein für das Märchenhafte und das Traumartige anzureichern?

"Dark Spring" ist wunderschön fotografiert und sieht in seinen souveränen Widescreen-Kompositionen, die sich der Dominanz häuslicher Settings zum Trotz nicht in Innenräumen verschließen, immer wieder nach draußen, zur Natur hin drängen, keine Sekunde nach einem Studentenfilm aus. Manchmal weht Musik in die Bilder hinein, oft nur ein paar Takte, zumeist aus dem zweiten, majestätisch-langsamen Satz von Vivaldis Konzert für Piccoloflöte in C-Dur. Auch ein von einer durchaus ähnlichen Elegik getragener Song von Crosby, Stilly, Nash & Young taucht mehrmals auf. Er endet mit den ins Unendliche fortgesetzten Worten: "helpless, helpless, helpless…".

Lukas Foerster

Dark Spring - BRD 1970 - Regie: Ingemo Engström - Darsteller: u.a. Edda Köchl, Ilona Schmit, Irene Witter, Klara Zet, Stefan Agathos, Ingemo Engström - Laufzeit: 89 Minuten.

"Dark Spring" läuft am 02.06. um 19:00 Uhr im Berliner Kino Arsenal als Eröffnungsfilm der Retrospektive Ingemo Engström, die neben Engströms eigenem Regiewerk auch Filme von Mitstreitern sowie von der Filmemacherin selbst ausgesuchte filmhistorische Referenzen umfasst.