Efeu - Die Kulturrundschau

Der Zorn dieser Generation

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2023. Der Tagesspiegel bewundert Talent, Wahnsinn und großartige Frisuren wie den ghanaischen Mehrfachdutt in Thomas Hardimans Whodunit "Medusa Deluxe". Die NZZ amüsiert sich mit Sylvie Fleury, die im Kunstmuseum Winterthur die großen Meister der Nachkriegskunst persifliert. Die Welt unterhält sich mit Diogenes-Chef Philipp Keel. Die taz fragt mit Daniel Goldhabers Film "How to Blow Up a Pipeline", ob so eine kleine Explosion den Kampf gegen den Klimawandel nicht weiterbringen würde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2023 finden Sie hier

Film

Medusa Deluxe

Wunderbar witzig findet im Tagesspiegel Katrin Hillgruber den Whodunit "Medusa Deluxe" des britischen Regisseurs Thomas Hardiman, der in einem Friseursalon spielt. Das Ensemble seines Spielfilmdebüts "umschwebt ebenfalls den schmalen Grat zwischen Talent und Wahnsinn, es würde aber niemals die Arbeit verweigern oder die Kundschaft bewusst malträtieren. Dafür lieben die Friseurinnen Divine, Cleve und Kendra ihren Beruf zu sehr. An den Köpfen duldsamer Modelle laufen sie zu Höchstleistungen auf, erschaffen Haarskulpturen wie 'Inverted Pear' (umgedrehte Birne) oder einen ghanaischen Mehrfachdutt. Es gilt einen regionalen Friseurwettbewerb zu gewinnen", würde da nicht ein skalpierter Friseur entdeckt. Auch taz-Kritiker Tim Caspar Boehme erliegt den "optischen Exzessen" des Films: "Sämtliche Haarkreationen stammen von Eugene Souleiman, der unter anderem schon Frisuren für Lady Gaga entwarf."

"How to blow up a pipeline?"


Würde Gewalt mehr Tempo bei Maßnahmen gegen den Klimawandel machen? Interessante Fragen werden in Daniel Goldhabers "How to Blow Up a Pipeline" diskutiert, meint ein faszinierter Michael Meyns in der taz: Es geht um eine handvoll linker Aktivisten, die sich darauf vorbereitet, eine Pipeline in die Luft zu sprengen. "Ein naiver Plan? Vielleicht. Aber angesichts einer Extremsituation wie dem Klimawandel möglicherweise der einzige Weg, die Trägheit des Systems in den Grundfesten zu erschüttern. Oder würden solche Anschläge eher das Gegenteil bewirken und die hehren Ziele diskreditieren? Immer wieder lässt Goldhaber die Figuren diese Fragen diskutieren, werden Zweifel angedeutet, ohne dass es schließlich zu einem um Ausgleich bemühten, oberflächlich betrachtet 'vernünftigen' Ende kommt." Der Kritiker hat jedenfalls durchaus Sympathien für die Aktivisten, in deren Radikalisierung "tatsächlich die einzige Hoffnung liegen" könnte. Im Perlentaucher bleibt Karsten Munt distanzierter: "'How to Blow Up a Pipeline' weiß den Zorn dieser Generation geschickt in seine Genre-Mechanik zu bündeln. Gleichzeitig ist er als Film über die große Frage unserer Zeit nicht frei von den dazugehörigen Ärgernissen: Betont beiläufig finden die Klimakatastrophen der jüngsten Jahre in den Film. Der brennende Regenwald beim Doomscrolling auf dem Laptop-Bildschirm, die Flutkatastrophe in Pakistan auf dem Fernsehbildschirm: Die Gegenwart schreit sich leise in den Film hinein."

In der Türkei wird die Kritik Konservativer an der Dankesrede der Schauspielerin Merve Dizdar für die Goldene Palme in Cannes lauter, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel: Dizdar hatte sich dabei mit den Frauen in der Türkei solidarisiert, die unter der frauenfeindlichen Politik Erdogans leiden. Beispielhaft für die Kritik "steht Serdar Cam, ein hoher Angestellter im Kulturministerium, der Dizdar vorwarf, ihr Heimatland zu "verfluchen" und ihre Haltung mit der einer "Terroristin" verglich, die die Türkei zu zerstören versuche. Als die Frau des Kulturministers Mehmet Nuri Ersoy Dizdar zu gratulieren wagte, wurde prompt der Ehemann zur Ordnung gerufen. Die patriarchalen Strukturen in der Türkei erleben schon seit einigen Jahren eine Renaissance. Diese Politik ist inzwischen existenzgefährdend."

Besprochen werden Mario Martones "Nostalgia" über einen Emigranten, der in seine Heimatstadt Neapel zurückkehrt ("ein echtes Stück Kino, mit atmosphärischen Bildern und einer sich prozesshaft entwickelnden Geschichte, die fast ohne Plot auskommt" und einem wunderbaren Hauptdarsteller, schwärmt Barbara Schweizerhof in der taz), Steven Caples neues Transformers-Prequel "Aufstieg der Bestien" (Perlentaucher, Tsp), Dustin Guy Defas melancholischer Slacker-Komödie "The Adults" (Tsp) und die Dokuserie "Familiy of Choice" auf RTL+ (Zeit online).
Archiv: Film

Musik

Jonathan Fischer unterhält sich für die Welt mit dem amerikanischen Rapper Michael Santiago Render alias Killer Mike über dessen neues Album, über Politik und Black Power: "Was ich predige: Baut euer eigenes Essen an. Macht eigene Betriebe auf. Meine Schwester betreibt heute eine Farm, die über ein halbes Dutzend Familien ernährt. Ich weiß, wie Black Power funktioniert. Deswegen habe ich es nicht nötig, in einer Opferhaltung zu verharren. Um es mit einem meiner Raps zu sagen: 'Sie haben uns besessen, aber nun besitzen wir uns selbst.'"

Die annoncierten Rammstein-Konzerte finden statt. Für ein Verbot gibt es keine rechtliche Handhabe, hat sich der Tagesspiegel von Berlins Kultursenator Joe Chialo erklären lassen. Aftershowpartys wird es aber nicht geben, meldet die Welt. Inzwischen hat die Band die "Casting-Direktorin" Alena Makeeva entlassen, die Lindemann Mädchen zugeführt haben soll, berichtet in der taz Fabian Schroer, der auch auf ein Reddit-Forum gestoßen ist, in dem manche Userinnen ganz verzweifelt reagiert haben, wenn sie abgelehnt wurden. In der Berliner Zeitung fragt Jesko zu Dohna, ob es wirklich sein kann, dass die übrigen Bandmitglieder nichts von Lindemanns Darkroom mitbekommen haben.

Außerdem: Robert Miessner kündigt in der taz das "Klangteppich V" an, das Festival für Musik der iranischen Diaspora. Im Tagesspiegel stellt Frederik Hanssen das Programm von Joana Mallwitz, der neuen Chefdirigentin des Berliner Konzerthausorchesters, für die kommende Saison vor. Detlef Diederichsen schreibt in der taz zum Tod Astrud Gilbertos. Besprochen werden ein Konzert von Lang Lang in der Berliner Philharmonie (Tsp), ein Konzert von Christophe Monniot beim französisch-deutschen Festival Jazzdor im Kesselhaus (Tsp) und ein Konzert von Turnstile in Berlin (BlZ).
Archiv: Musik

Literatur

Elmar Krekeler trifft für die Welt Philipp Keel, Chef von Diogenes und Künstler, in der Villa Griesebach, wo Keel gerade eine Ausstellung seiner Bilder vorbereitet. "Ohne Kunst und Film geht Leben nicht. Und ohne Diogenes auch nicht. Obwohl das Geschäft mit Literatur nicht einfacher geworden ist. Aber nicht schlimm, sagt er. Es war schon immer schwierig, darüber habe schon sein Vater geklagt. Jetzt mit all den Krisen - Papierkrise, Ukraine-Krise, Corona-Spätfolgen -, in einem Mehrfrontenkrieg um mediale Aufmerksamkeit, ist es das allerdings erst recht. Und es wird auch so bleiben, denkt er, mit diesem merkwürdigen Metier. Aber er hat die Hoffnung auf einen kulturellen Umschlag. Darauf, dass die Menschheit im Banne der elektronischen Ablenkungsgeräte und kurz bevor sie von ihnen zu Tode ermüdet und unterhalten ist, von einer Sehnsucht überfallen wird, nach dem Buch, einem analogen Leben, Ruhe und Einfachheit."

Rezensionen gibt es heute kaum, weil wegen Fronleichnam FAZ, FR und SZ nicht erscheinen. Besprochen wird aber Peter Frankopans Klimageschichte "Zwischen Erde und Himmel" (NZZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden die Komödie "Einszweiundzwanzig vor dem Ende" von Matthieu Delaporte am Renaissance-Theater Berlin in der Inszenierung von Sebastian Sommer (BlZ) und die Adaption von Delphine de Vigans Autofiktion "Nichts widersetzt sich der Nacht" am Deutschen Theater Göttingen in der Inszenierung von Schirin Khodadadian (taz).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Autofiktion

Kunst

Patrick & Piet & Josef (II), 1996. Foto: Kunstmuseum Winterthur

Sylvie Fleury gilt als "Ärgernis" in der Kunstwelt: "Denn der Kunstklau ist bei ihr Programm", schreibt Philipp Meier, der in der NZZ daran erinnert, dass Fleurys "schamloser" Mix aus "Kunst und Kommerz" lange Zeit als "anrüchig" galt. Das hat sich inzwischen geändert, wie Meier in der aktuellen Ausstellung "Shoplifters from Venus" im Kunstmuseum Winterthur feststellt, die ihm zeigt, mit wie viel Witz Fleury den Konsum zur Kunstform erhoben hat: "Sie hat der Mode den Zugang zur Kunst ermöglicht. Sie kauft aber nicht nur ein in den Shopping-Malls der Modewelt, sondern bedient sich auch in den Museen, als wären es Warenhäuser. Dort entwendet sie ihre Bildfindungen aus dem reichen Fundus der Kunst der Moderne. Das sieht dann so aus: ein paar Pumps, weiß, rot, blau, gestaltet im Rechteck-Look à la Piet Mondrian, auf einem Sockel. Und dieser - ein Gebrauchsgegenstand, den es braucht, damit ein Kunstobjekt ein Kunstobjekt wird - wird bei Fleury ebenfalls zur Kunst...Fleury persifliert die großen Meister der Nachkriegskunst und fegt ironisch und lustvoll über Geschlechterklischees hinweg."

Ebenfalls in der NZZ wirft Marion Löhndorf einen begeisterten Blick ins Innere des diesjährigen, von Lina Ghothmeh gestalteten Pavillons der Serpentine Gallery in den Londoner Kensington Gardens: "Von ausgestanztem Blattwerk durchbrochene Außenwände schirmen den Innenraum ab und lassen das Grün des Parks durchschimmern. (...) Die ornamental fließenden Linien der Blätter erinnern an Sommerkleider braver Mädchen. Innen riecht es intensiv nach Holz, das ist in diesem Jahr das Schönste an diesem Pavillon, denn alles ist aus diesem Material: die sternfömig ausgerichteten Dielen am Boden, die Wände, das Dach und ein Säulengang, der rund ums Gebäude führt."

Weitere Artikel: Im monopol-Interview mit Katharina Cichosch schildert die Leiterin des Nassauischen Kunstvereins Wiesbaden, Elke Gruhn, die Lage für Kunstschaffende in Afghanistan. Weil diese dort in Lebensgefahr schweben, zeigt die Ausstellung "Hidden Statement: Art in Afghanistan" die Werke der Beteiligten anonym: "Sie haben de facto null Einkommen, keinerlei Ausstellungsmöglichkeit, kommen an ihre Besitztümer nicht mehr heran." In der Welt erinnert Henryk M. Broder an den wenig bekannten Künstler Wilhelm Ernst Beckmann, der vor den Nazis nach Island floh. Über sein Leben und Werk ist nun der Dokumentarfilm "Island: Zuflucht und Erfüllung - Der Exilkünstler Wilhelm Beckmann"  erschienen. Ebenfalls in der Welt schreibt Marcus Woeller einen Nachruf auf Françoise Gilot. Die NZZ berichtet über den Raubkunst-Streit zwischen den Nachfahren des Kunstsammlers Paul von Mendelssohn-Bartholdy und der bayerischen Regierung.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Isa Genzken in der Galerie neugerriemschneider Berlin (tsp), die Ausstellung "Anna Bogouchevskaia. Shouldn't be gone" in der Werkstattgalerie Hermann Noack Berlin (tsp), die Ausstellung "Eintauchen in die Kunst" im Museum unter Tage in Bochum (monopol) und die Installation "Down to earth" von Francelle Cane und Marija Marić im Luxemburg- Pavillon der Venedig-Biennale (taz).
Archiv: Kunst