Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2006. Die chilenischen Schriftsteller Ariel Dorfman und Antonio Skarmeta kritisieren in FAZ und FR, dass Caudillo Augusto Pinochet am Ende unbehelligt sterben konnte. Die FAZ schildert außerdem die verzwickte rechtliche Lage im Streit zwischen dem Suhrkamp Verlag und den neuen Miteigentümern. In der NZZ freut sich Richard Wagner über die Kulturhauptstadtehre für Hermannstadt/Sibiu. In der SZ erklärt Jaron Lanier, was ihn am Hype um das Web 2.0 so stört.

FAZ, 13.12.2006

Der chilenische Dichter Ariel Dorfman knüpft Hoffnungen an den Tod Pinochets, kann sich aber ein paar bittere Bemerkungen über die offiziellen Ehren, mit denen der Caudillo verabschiedet wurde, nicht ersparen. Ihn empört zumal, dass "der Verteidigungsminister der demokratischen Regierung Chiles die Trauerfeier für den Tyrannen besuchte, und dies, so unglaublich es klingt, im Auftrag der Präsidentin Michelle Bachelet, einer Frau, die selbst im Gefängnis saß und von der Geheimpolizei des Mannes, den sie nun ehrt, gefoltert wurde; einer Frau, deren Vater, Alberto Bachelet, von Pinochets Leuten ermordet wurde. Militärische Ehren - paradierende Kadetten, Salutschüsse - für einen Mann, der als internationaler Terrorist gebrandmarkt worden ist... Nur ein Land, das noch voller Furcht steckt, kann sich so tief erniedrigen und solch einem Despoten öffentlich die Ehre erweisen."

Hubert Spiegel stellt die komplizierte rechtliche Lage im Streit zwischen dem Suhrkamp Verlag und den neuen Minderheiteneigentümern dar und rät vor einem Prozess ab: "Gespräche mit Fachleuten in Deutschland und der Schweiz lassen deutlich erkennen, dass ein Gerichtsstreit sich über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte hinziehen könnte. Nicht einmal die Frage nach dem Gerichtsstand sei ohne weiteres zu beantworten. Die angesehene Kanzlei Hengeler Mueller sieht in derartigen Auseinandersetzungen zwischen Gesellschaftern ein 'umfangreiches Betätigungsfeld' für Juristen. 'Zum Nutzen der Gesellschaft sind derartige Streitigkeiten allerdings fast nie.'"

Weitere Artikel: Heinrich Wefing verfolgte ein Symposion über jüdische Sammler, deren Stiftungen die Berliner Museen einen Großteil ihrer Schätze verdanken. Lorenz Jäger singt in der Leitglosse eine kleine Hymne auf B.K. Tragelehns Neuübersetzung von Shakespeares "Sturm". Gemeldet wird, dass die Internationale Stifung Mozarteum die Noten von Mozarts Sämtlichen Werken ins Netz gestellt hat. Jordan Mejias begutachtet neue Museumsbauten von Daniel Libeskind und dem Büro Scofidio & Renfro in Denver und Boston. Ernst Horst hörte einer Vorlesung Julian Nida-Rümelins in München zu. Martin Halter berichtet über Stuttgarter Vorträge, Aufführungen und Ausgaben, die das dichterische Werk Theodor Heuss' ins Licht stellten.

Auf der Medienseite fragen Michael Hanfeld und Kerstin Holm, warum "Christiansen" für die Sendung am Sonntag die Putin-Kritiker Garri Kasparow und Klaus Bednarz ausluden und statt dessen lieber den russischen Botschafter und die Putin-Verteidigerin Gabriele Krone-Schmalz einluden. Und Jochen Hieber verbrachte in selbstlosem Selbstversuch einen Tag mit dem Sender Dmax.

Für die letzte Seite begleitete Andreas Kilb eine Gruppe gemäßigt islamistischer Politiker aus Südostasien auf Berlin-Reise. Andreas Rossmann fragt, was aus dem Heine-Preis werden soll, der heute an Peter Handke hätte verliehen werden sollen, wenn es da nicht einen gewissen Skandal gegeben hätte. Und Sven Beckstette porträtiert den Soulsänger John Legend.

Besprochen werden Mel Gibsons neuer Film "Apocalypto", eine "Ring des Nibelungen"-Choreografie Johann Kresniks in Bonn (von Wiebke Hüster kunstgerecht zerlegt), Katharina Thalbachs Inszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" in Dresden und ein Auftritt der Mittelalter-Rockband (was immer das sein mag) In Extremo.

Welt, 13.12.2006

Auf den Forumsseiten sieht Wolf Lepenies die USA in der Konsensfalle: "Das Desaster der amerikanischen Irak-Strategie ist auch ein Debakel für die Opposition: Der Demokratischen Partei ist es nicht gelungen, eine kohärente und überzeugende Alternative zur Politik des Präsidenten zu formulieren. Die Neocons und die meisten Republikaner tragen die Hauptschuld am weltweiten Ansehensverlust der amerikanischen Republik. Aber sind nicht die Demokraten verantwortlich dafür, dass Amerika heute als eine Demokratie ohne Opposition erscheint?"

Richard Herzinger konstatiert in Europa eine zunehmende Angst vor Russland: "Die Angst entsteht aus der Ungewissheit, wohin das Land unter Putins Herrschaft geht - und nach dem Ende seiner Amtszeit 2008 treiben wird. Die große Lebenslüge, nach der sich Russland, wenn auch auf verschlungenen Wegen, immer weiter Europa nähere, ist zerplatzt. Angst macht dem Westen vor allem, dass er ohne Rezept dasteht, wie die rasante Rückentwicklung des Landes in eine vom Geheimdienst kontrollierte, von Korruption und Einschüchterung beherrschte Despotie noch aufgehalten werden kann. "

Im Feuilleton berichtet Manfred Quiring, dass der FSB ganz in alter Tradition wieder einen Kulturpreis vergeben hat, mit dem Werke prämiert werden, denen, wie Quiring zitiert, "auf hohem künstlerischen Niveau das Bild eines Mitarbeiters der Sicherheitsorgane geschaffen und höchst objektiv ihre Tätigkeit dargestellt wurde". Peter Zander preist Mel Gibsons Maya-Drama "Apocalypto" als "cineastische Offenbarung". Berthold Seewald stellt die verschiedenen Theorien vor, die zum Untergang der Mayas unter Historikern kursieren. Uwe Sauerwein weist auf die einst große Bedeutung jüdischer Mäzene für die deutschen Museen. Und Rolf Schneider erinnert an die "Friedenskonferenz" deutsch-deutscher Intellektueller in Ost-Berlin 1981, bei der Günter Grass einige deutliche Worte über den von der SED propagierten "bewaffneten Frieden" verlor.

Besprochen werden die Ausstellung zu Dan Flavin in Münchens Pinakothek der Moderne und Edgar Reitz' dem Heimat-Stoff entnommene "Fragmente.

FR, 13.12.2006

Pinochets Tod besiegelt eine Niederlage der chilenischen Demokratie, fürchtet der Schriftsteller Antonio Skarmeta: "Die chilenische Demokratie wollte Pinochet nie hinter Gitter bringen. Vielleicht ist diese Zweideutigkeit auf paradoxe Weise die erhabenste Strategie bei der Konsolidierung einer nationalen Einheit, auf der die herausragende und übermäßig gefeierte Stabilität und das Wohlsein des heutigen Chiles aufbauen. Obwohl selbst das Militär auf Distanz gegangen ist, blieb Pinochet selbst stets unberührbar, unantastbar - angekratzt, aber souverän. Ich weiß, dass viele Politiker, die mehr vermochten und weniger getan haben, bittere Pillen zu schlucken hatten. In ihrem Bewusstsein gibt es ein Unbehagen, das mit dem Hinweis auf die mächtige 'Staatsraison' nicht gelindert werden kann. Hier und da geben sie freiheitliche Parolen von singulärer Rhetorik aus, aber sie helfen nicht hinweg über die Melancholie einer Entscheidung, die nicht getroffen werden konnte."

Weitere Artikel: Harry Nutt berichtet über die Berliner Tagung "Der Holocaust im transnationalen Gedächtnis" der Bundeszentrale für politische Bildung und des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. Petra Kohse porträtiert den Theaterregisseur Robert Lepage und seine aktuelle Inszenierung "The Andersen Project" im Haus der Berliner Festspiele. Und in Times mager resümiert Peter Michalzik den überraschungsfreien Auftritt von Angela Merkel bei Beckmann.

Besprochen werden eine Ausstellung der "handgemachten Zukunftsentwürfe" des dänischen Künstlers Tommy Stockel im Frankfurter Kunstverein und Bücher darunter der Band "Antoine und Consuelo de Saint Exupery. Eine legendäre Liebe" und eine Studie über "Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 13.12.2006

Das rumänische Hermannstadt (Sibiu) in Siebenbürgen, zusammen mit Luxemburg die europäische Kulturhauptstadt 2007, ist für den Schriftsteller Richard Wagner die perfekte, weil westkompatible Wahl. "Hermannstadt markiert einen Ort des Gleichgewichts. Es eignet sich bestens, um das gefürchtete Neumitglied der EU, Rumänien, von einer überraschenden Seite zu zeigen, ohne Vampirismus und Balkanschmäh, Pferdefuhrwerk und Straßenkinder. Und das mit Hilfe einer aus dem Mittelalter heraufgewachsenen Stadt, mit einem architektonischen Kern, der abendländischer nicht sein könnte."

Weitere Beiträge: Georges Waser berichtet über Plagiatsvorwürfe an Ian McEwan, wegen Passagen im Roman "Abbitte". Besprochen werden eine Aufführung von Richard Strauss' "Arabella" in der Wiener Staatsoper unter der Regie von Sven-Eric Bechtolf und zwei Bücher über die Zeit Bertold Brechts in Zürich sowie eine Studie von Claudia Opitz-Belakhal über den Absolutismusdenker Jean Bodin (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 13.12.2006

Ivaylo Ditchev, Professor für Kulturanthropologie in Sofia, beschreibt den zunehmenden Nationalismus in Bulgarien, der eine weitere Schattierung der anti-europäischen Färbung Osteuropas darstellt. "Wir haben hier gegenwärtig also den Nationalismus von rechts, der sich gegen Russland als vermeintlich noch immer irgendwie kommunistisches Land richtet, und wir haben den Nationalismus von links, der den Feind in den USA sieht. Zusätzlich findet sich eine fremdenfeindliche Variante, basierend auf dem Rassismus gegen die Roma, und die Kulturschaffenden spinnen weiter an ihren Geschichten über glorreiche Sagen der Thraker oder der protobulgarischen Khans. All diese Stränge laufen in einem allgemeinen Lifestyle-Nationalismus zusammen - kurz bevor Bulgarien nächstes Jahr EU-Mitglied werden soll."

Brigitte Werneburg resümiert ein Symposium in Berlin zum Thema Raubkunst und Provenienzforschung. Warum letztere in Deutschland so vernachlässigt wurde, entnahm sie einer "verräterischen Bemerkung aus dem Auditorium. Denn sofort war mit der kleinen, ungeschickten Bemerkung von der Provenienzforschung als einem reinen Frauenjob klar, dass diese Aufgabe für absolut vernachlässigbar gehalten wurde."

Weitere Artikel: Der ehemalige Herausgeber der Beute und Buchautor Andreas Fanizadeh ("Chile International. Kunst, Existenz, Multitude", zusammen mit Eva-Christina Meier) glaubt, dass in Chile eine neue Bürgerrechtsbewegung der Oberschicht an den Kragen gehen könnte. Und in tazzwei kündigt Martin Reichert für 2007 das von Bildungsministerin Annette Schavan initiierte "Jahr der Geisteswissenschaften" an - "ganz so, als ob es sich dabei um aussterbende Orchideen handelte."

Und auf der Meinungsseite spricht der israelische Historiker Moshe Zuckermann im Interview mit Robert Misik über die Kriegsmüdigkeit im Nahen Osten, das Fehlen einer konstruktiven Friedenspolitik und die rigide Haltung der europäischen Gemeinden: "Was ich nicht ertragen kann, ist, dass die jüdischen Gemeinden in Europa ihren Kampf bis zum letzten Blutstropfen auskämpfen - und zwar bis zu unserem letzten Blutstropfen, dem der Juden in Israel."

Besprochen wird Mel Gibsons Film "Apocalypto", dessen "zivilisationskritischen Ansatz" man laut Barbara Schweizerhof getrost "übergehen" könne, weil er als "altmodisches Actionkino" bestens funktioniere.

Und Tom.

SZ, 13.12.2006

Schwarmintelligenz? Nein, danke! Der Internet-Pionier Jaron Lanier hält nichts vom Web 2.0, "denn die dahinter steckende Idee suggeriert, es müssten nur möglichst viele Leute das Gleiche tun, und schon käme etwas Tolles raus. In Wahrheit sind es immer Individuen oder kleine Gruppen, die Kreatives hervorbringen. Das einzig Positive am Internet in diesem Zusammenhang besteht darin, dass es möglichst viele kreative Individuen schnell und unkompliziert zusammenbringen kann. Aber dann müssen die Leute außerdem noch eine gute Idee haben und anschließend hart arbeiten, um die Idee zu einem marktfähigen Produkt oder gar zu einer für den Menschen tatsächlich hilfreichen Organisation aufzubauen. Und genau das passiert viel zu selten."

Eine wunderbare Schallplattenseite widmet sich heute der arabischen Musik. Reinhard J. Brembeck schreibt über die ursprüngliche Kraft, die sich die "Gesänge der Einsamkeit" erhalten habe. Zu lesen ist ein Interview mit dem ägyptischen Musikethnologen Issam El-Mallah über die heutige Relevanz arabischer Musik. Und ein kleines Lexikon informiert über typische Instrumente, Liedformen und Literatur zum Thema.

Weitere Artikel: Cornelius Wüllenkemper resümiert die Berliner Tagung "Der Holocaust im transnationalen Gedächtnis". Jens Bisky informiert über die Gründung eines Zentrums "Alte Welt" der Berliner Akademie der Künste und kommentiert das bevorstehende "Jahr der Geisteswissenschaften". Jens Schneider berichtet, dass die Enquete-Kommission des Bundestags zur "Kultur in Deutschland" sich Sorgen um die Kulturförderung im Osten macht. Zu lesen ist schließlich ein Nachruf auf die Musiktheater-Regisseurin Anouk Nicklisch von Frieder Reininghaus.

Besprochen werden ein Konzert des Emerson String Quartett im Münchner Herkules-Saal (Joachim Kaiser zeigt sich völlig überwältigt), Mel Gibsons Film "Apocalypto" und Bücher, darunter der neue Hannibal-Lecter-Roman "Hannibal Rising" von Thomas Harris und Petra Werners Recherche zum "Fall Feininger" (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).