Efeu - Die Kulturrundschau

Das Fauchen einer Katze auf dem Bass

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24.02.2021. Als eine der wichtigsten Ausstellungen des Jahres feiert die New York Times Okwui Enwezors letzte Ausstellung "Grief and Grievance" im New Museum von New York, die eine Kavalkade von Stars versammelt und trotzdem hervorragend kuratiert ist. In der taz entwirft Milo Rau das Theater von morgen. Im Tagesspiegel setzen Margarete Rissenbeek und Carlo Chatrian vor Beginn der Berlinale auf Zuversicht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.02.2021 finden Sie hier

Kunst


Carrie Mae Weems: "The Assassination of Medgar, Malcolm and Martin" (2008). Foto: The New Museum

Für seine letzte Ausstellung "Grief and Grievance" hat der vor zwei Jahren verstorbene Kurator Okwui Enwezor im New Museum in New York die Größen afroamerikanischer Kunst versammelt. Kara Walker, Nari Ward,  Carrie Mae Weems, Jean-Michel Basquiat, Dawoud Bey, Theaster Gates, Arthur Jafa, Jack Whitten und und und. In der New York Times gibt Holland Cotter zu, dass er zunächst Vorbehalte gegen das Konzept hatte: "Die meisten der 37 schwarzen KünstlerInnen sind bekannt und ihre Werke oft aufgestellt. Ich fragte mich, ob die Schau, selbst mit ihrem schweren Thema, nicht am Ende nur den zeitgenössischen Kanon bestätigen würde, eine Kavalkade von Stars. Aber beim Kuratieren geht es nicht um Einigartigkeit, sondern im besten Fall um eine Synthese, um die Alchemie des Zusammenbringens, die Erweiterung der Vorstellung. Enwezor hatte ein geniales Auge für diese kreative Fusion, und er hat eine außergewöhnlich bewegende Ausstellung erstellt, die sicherlich zu den wichtigsten des Jahres zählen wird."

Für die SZ hat sich New-York-Korrespondent Christian Zaschke die Ausstellung angesehen: "Auf dem Gang durch die Stockwerke begegnen den Besuchern zum Beispiel die Fotografien von Carrie Mae Weem. Sie stellt unter anderem Ereignisse der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nach, auf Fotos, die aussehen, als wären sie in einem Beerdigungsinstitut aufgenommen worden. Das ist so intensiv, dass es einem die Luft abschnürt. Da sind die Wandskulpturen von Melvin Edwards. Sie heißen 'Lynch Fragments', zehn ungefähr kopfgroße Gebilde aus Metall, aus Schrauben, Ketten und Resten von Rohren. Wenn man sie betrachtet, glaubt man fast, die Ketten rasseln zu hören, in die einst die Sklaven gelegt wurden."

Weiteres: Georg Imdahl befragt in der FAZ den in New York lebenden taiwanesischen Künstler und Lockdown-Experten Tehching Hsieh, der sich 1978 für ein Jahr in Einzelhaft begab.
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Film

Das Leitungsduo der Berlinale, Margarete Rissenbeek und Carlo Chatrian, gibt sich im Tagesspiegel-Interview zuversichtlich, was die Pläne für die Publikumsberlinale im kommenden Sommer betrifft. Und dass die Berlinale nicht jetzt schon digital gestreamt wird, erklärt Chatrian so: "Sind Sie sicher, die Leute wollen noch mehr Filme online gucken? Wenn sie das Festival vermissen, dann das Gefühl, etwas gemeinsam im Kino erleben zu können. Ein Filmfest hat ja auch noch andere Aufgaben, es ist unser Job, die Branche zu unterstützen. Die Händler und Weltvertriebe wünschen sich nach bald zwölf Monaten Unterbrechung dringend einen Markt mit einem kuratierten Programm. Wenn die Pandemie-Entwicklung es zulässt, kann unser Sommer-Event ein superschönes Festival werden. Vermutlich wird es noch Reisebeschränkungen geben, aber das betrifft dann nicht das Berliner Publikum. Und zum anderen sind die Filmschaffenden entspannter als gewöhnlich im Februar, denn die Arbeit ist schon getan."

Ronald Pohl hat im Standard viel Sympathie für die Aktion #actout, bei der queere Schauspieler mehr Respekt und Achtung fordern. Aber die Sache habe einen Haken, meint Pohl: "Dieses honorige Anliegen verkennt freilich die Maximen der Industrie. Die kümmert sich schon allein deshalb nicht um Quotierungen, weil ihr die Verwertung von Kulturgütern vordringlich ist. ... Die Wahrheit in unserer Gesellschaft lautet unverändert: Auch als Künstlerin oder Künstler hast du vor allem Dienstleisterin zu sein."

Schäbig findet es Johannes Wolters im Filmdienst, wie Disney das über den Fox-Deal einverleibte und ziemlich traditionsreiche Animationsfilmstudio Blue Sky, das unter anderem die "Ice Age"-Filme produziert hat, weitgehend stillschweigend aufgelöst hat: Lediglich einer Branchenmeldung ist die Entwicklung zu entnehmen, aber "eine eigene Verlautbarung des Disney-Konzerns, eine Pressemeldung oder eine erklärende Erläuterung des weltumspannenden Medienriesen zu diesem Vorgang sucht man bislang vergebens, erst recht ein Zeichen der Anerkennung oder gar des Dankes für die geleistete Arbeit."

Weitere Artikel: Die Zeit hat Katja Nicodemus' Porträt der Schauspielerin Laura Tonke online nachgereicht. In der Welt porträtiert Elmar Krekeler den Schauspieler Jonathan Berlin, der heute im ARD-Film "Martha und Tommy" zu sehen ist.

Besprochen werden Andreas Hoesslis Essayfilm "Der nackte König" (Artechock), die auf ZDFNeo gezeigte Serie "Unbroken" (FAZ, taz), die Disney-Serie "Big Sky" (FAZ), der Netflix-Film "To All the Boys: Always and Forever" (SZ) und J. Blakesons auf Netflix gezeigter Film "I Care a Lot" (FAZ).
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Bühne

Im taz-Interview mit Andreas Fanizadeh spricht der Theaterregisseur Milo Rau über seine Inszenierung von Mozarts "Clemenza di Tito" in Genf (unser Resümee), seine instinkte Liebe zur Oper, die zugleich Dokumentarfilm, Performance und Kunstausstellung sein kann, und neue Formen für das Theater nach Corona: "Wir müssen unsere Produktionsweisen grundsätzlich ändern. Warum spielen wir immer drinnen, warum immer abends, wenn wir eh völlig fertig sind? Warum nicht morgens, warum nicht draußen? Wir planen ein 'All Greeks Festival': alle griechischen Tragödien in 32 Tagen, jeden Tag eine von 7 bis 9 Uhr. Dann Tee oder Kaffee und jeder geht seiner Wege. Auf längere Sicht wollen wir ein viertes Haus eröffnen, ein Zirkuszelt mit eigenem Ensemble, das herumzieht in der Welt. Ein neues Living Theatre." In der NZZ findet Christian Wildhagen Raus "Clemenza"-Detung nicht unbedingt schlüssig, aber aufwühlend und bedenkenswert.

Weiteres: Andreas Platthaus berichtet in der FAZ vom Augsburger Brecht-Festival, das natürlich auch nur digital stattfand. In der Nachtkritik bespricht Janis E-Bira die anti-identitätspolitische Streitschrift "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" des Dramaturgen Bernd Stegemann.
Archiv: Bühne

Literatur

Sehr zu recht wird gerade die vor 400 Jahren geborene Barockdichterin Sibylla Schwarz mit diversen Neuausgaben wiederentdeckt, freut sich Insa Wilke in der SZ: Bei Schwarzens auch heute noch modernem Drive, der einen tanzen lassen will, "sehen die 'nasenrumpfenden Klüglinge' damals wie heute alt aus, die Samuel Gerlach in seiner Vorrede zur Werkausgabe von 1650 in die Ecke stellt, darauf vertrauend, dass die Energie der Gedichte von Sibylla Schwarz sie wegpustet wie nichts. Ob man sich also im Bewusstsein der historischen Distanz in ihren Kosmos begibt oder ihre Texte identifikatorisch und emanzipatorisch liest, klar ist: Kein Stäublein, nirgends."

Außerdem: Gina Thomas erinnert in der FAZ an den Romantiker John Keats. Besprochen werden unter anderem Thea Dorns Briefroman "Trost" (54books), Jia Tolentinos Essaysammlung "Trick Mirror" (ZeitOnline), Felicitas Hoppes "Fieber 17" (FR), Mirna Funks "Zwischen Du und Ich" (FR), Martina Clavadetschers "Die Erfindung des Ungehorsams" (NZZ) und Thomas Arzts Romandebüt "Die Gegenstimme" (Standard).
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Musik

Die ersten beiden Ausgaben von Bruce Springsteens und Barack Obamas gemeinsamer Plauderstunde "Renegades: Born in the USA" - von Spotify zwar als "Podcast" vermarktet, aber ohne frei zugänglichen Feed ausgestattet, sodass zum Hören eine Anmeldung notwendig ist - sind "erstaunlich unterhaltsam, manchmal sogar rührend", schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ. Die beiden Hosts fühlen sich "staatstragend, die Zuhörer geborgen", lautet Jan Wieles Fazit in der FAZ: "Insofern ist auch dieser Podcast, so wie die Inaugurationszeremonie Joe Bidens und die Halbzeitshow beim Super Bowl, als weitere Beschwörung der Anständigkeit und der edlen amerikanischen Ziele zu verstehen, nachdem diese unter Trump verlorengegangen schienen."

Claus Lochbihler porträtiert für die NZZ den Funk-Bassisten MonoNeon, der nicht nur anarchische Outfits trägt, sondern seiner Fantasie auch in seinen Youtube-Videos freien Lauf lässt, wenn "er den Sound eines Formel-1-Boliden mit Bass unterlegt und den Autolärm so in Musik verwandelt. Einmal spiegelt er das Fauchen einer Katze auf dem Bass so, dass daraus ein Hip-Hop-Track entsteht." Und "er setzt gerne auf krasse Kontraste - wenn er etwa den Soulsänger Johnnie Taylor und John Cage zusammenbringt." Frisch ist dieses Stück:



Außerdem: In der Welt trauert Max Dax um Daft Punk (mehr zur Trennung des französischen Duos hier).

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter die Demo-Edition von PJ Harveys Album "Stories from the City, Stories from The Sea" (SZ) und Anna B Savages "A Common Turn", das laut taz-Kritiker Lars Fleischmann zwar "immer wieder in die Gefilde von Angst und Scham, von Selbstentwertung und freudianischer Libido-Destrudo-Verschränkung abtaucht", dabei aber mit "Humor und Künstlichkeit" den Cunnilingus besingt.
Archiv: Musik