Vorgeblättert

Leseprobe zu Martha Gellhorn: Ausgewählte Briefe. Teil 1

07.09.2009.
Die Anfänge 1908-1936

Martha Gellhorn wurde am 8. November 1908 in St. Louis, Missouri, geboren. Ihr Vater, Dr. George Gellhorn, Sohn eines Kaufmanns aus Breslau, war ein bedeutender Frauenarzt und Geburtshelfer, Spezialist für Krebs und Syphilis, der seine Ausbildung in Krankenhäusern in Berlin und Wien erhalten hatte, bevor er um die Jahrhundertwende nach Amerika auswanderte. Ihre Mutter, Edna Fischel, war eine in ihrer Geburtsstadt St. Louis sehr beliebte Frauenrechtlerin. Beide hatten einen jüdischen Elternteil. Martha hatte zwei ältere Brüder: George, 1902, und Walter, 1904 geboren. Ein dritter Sohn, Alfred, folgte 1913. Die Familie war eng verbunden, wohlhabend und glücklich - und glückliche Kinder, pflegte Martha zu sagen, haben wie glückliche Familien keine Geschichte.

Als Martha zwölf war, unterstützten die Gellhorns die Gründung einer - nach dem Naturforscher John Burroughs benannten - fortschrittlichen gemischten Ganztagsschule, um ihren beiden Jüngsten eine interessantere und modernere Erziehung angedeihen zu lassen, als die konventionelleren Schulen von St. Louis boten. Als Martha aufs College Bryn Mawr ging, schrieb sie bereits Gedichte und Kurzgeschichten für die Schülerzeitung und war sowohl Schulsprecherin wie Vorsitzende des Theaterclubs gewesen, zwei Ämter, die ihr nach eigenen Angaben Führungspositionen schmackhaft gemacht hatten. Martha fühlte sich ihrem Vater nah, sie bewunderte ihn und stritt mit ihm, ihre tiefe Liebe jedoch galt ihrer Mutter, die stets ihr "wahrer Norden" blieb, ihre feste Orientierung und bedingslose Liebe bis zu Ednas Tod im Alter von 91 im Jahre 1970. Der erste Brief in Marthas Archiv ist an ihre Mutter gerichtet, geschrieben im Alter von sechs Jahren. "Liebe Mutter. Du bist so hübsch. Mutter, ich liebe Dich. Ich finde, Du bist so nett zu mir." Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Als Martha aufs College ging, schrieb George ihr: "Sie liebt Dich so, daß es mich schmerzt."

Bryn Mawr und das Collegeleben lagen Martha nicht, und sie gab sich wenig Mühe damit. Durch Nachlässigkeit fiel sie bei einer Reihe von Prüfungen durch, und obwohl sie die folgenden ohne weiteres bestand, war ihr so langweilig, daß sie das College ohne Abschluß verließ. Dennoch hatte sie in Bryn Mawr gelernt, wie aufregend intensive Arbeit sein konnte und welche Zuflucht sie bot, und sie hängte sich François Mauriacs Maxime über den Schreibtisch: "Travail: opium unique." Ihr Leben lang beschwor sie diese Worte sich selbst und Freunden gegenüber. Arbeit war Marthas Schlupfloch und ihre Pflicht, dorthin zog sie sich in schwierigen Zeiten zurück. Außerdem hatte Bryn Mawr ihr eine Freundin beschert und - nach den Eltern - ihr zweites Vorbild für eine glückliche Ehe. Hortense Flexner, eine heute kaum noch gelesene, in den 1930er Jahren jedoch bewunderte Dichterin, war Marthas Englischlehrerin gewesen. Sie fingen an, einander zu schreiben, und führten ihren Briefwechsel fort bis zu Hortense? Tod vierzig Jahre später. Marthas Anrede für sie lautete "Leererin", und sie unterschrieb mit "Gellhorn". Sie sagte, die Leererin sei ein Sinnbild an "Ausdauer, Mut und Lebensfreude", Tugenden, an die sie glaubte.

Als Martha siebzehn war, zeigte Dr. Gellhorn seinen Kindern Deutschland, ein Besuch, der mit weiteren Familienreisen nach Europa in ihr den Wunsch weckte, dorthin zurückzukehren. Nach Bryn Mawr berichtete sie als Volontärin für die Albany Times Union über Frauenclubs und die Schutzpolizei, und als das Volontariat nach einem halben Jahr um war, wußte Martha, daß es Zeit war, Amerika zu verlassen. Sie war einundzwanzig, rastlos, ungeduldig und voller Neugier. Als sie aufbrach, überraschte es niemanden.

Kurz nach Weihnachten 1929 gab Edna ihrer Tochter das Geld für eine Fahrkarte nach New York, dort schiffte sich Martha beim Germanischen Lloyd ein, wo sie für ihre Überfahrt mit einem Artikel über dessen Europa-Verbindungen bezahlte. "Ich wußte", schrieb sie später, "daß ich nun frei war. Das war meine Show, meine Show." Dr. Gellhorns Abschiedsworte waren voller Zuneigung: "Ich liebe dich - nicht, weil du meine Tochter bist, sondern wegen deiner Grundehrlichkeit und Aufrichtigkeit und Unerschrockenheit und Reinheit."

Als Martha mit ihrer Schreibmaschine, zwei Koffern und 75 Dollar in Paris ankam, war Frankreich die führende Wirtschaftsmacht. Die Stadt war elegant, aufregend, voller Möglichkeiten. In den Kinos liefen die Filme von Buñuel, Cocteau und Man Ray; Josephine Baker war, angetan mit einer einzigen rosa Flamingofeder, die Königin der Musikrevues, freizügiger und aufsehenerregender, als je zuvor gesehen. Paris war die Antwort auf Marthas Sehnsüchte. Sie nahm mehrere Jobs an, als Assistentin in einem Schönheitssalon, als Texterin in einer Werbeagentur, und schrieb gelegentlich Beiträge für eine Nachrichtenagentur. Sie hatte sehr wenig Geld, aber sie war, wenn auch keine Schönheit, so doch außerordentlich attraktiv. Sie arbeitete außerdem an einem Roman, der später unter dem Titel What Mad Pursuit veröffentlicht und von ihr schnell als peinliche Jugendsünde abgetan und unter Verschluß gehalten wurde. Um den Roman zu schreiben, war sie an die Riviera gefahren, hatte sich in einer billigen Pension eingerichtet und sich die Miete mit Modeartikeln für amerikanische Zeitschriften verdient. Ein junger befreundeter Anwalt aus St. Louis, G. Campbell Beckett, fuhr mit ihr in den Urlaub nach Marokko und regelte später ihre Geschäfte; Beckett verliebte sich in sie. Viele Jahre später schrieb Martha über ihn: "Ich war die verwöhnte Freundin, die Empfängerin ? Er kümmerte sich um Menschen."

Im Sommer 1930, wieder in Paris, wurde Martha Bertrand de Jouvenel vorgestellt, einem linken Politikjournalisten, der kurz zuvor sein erstes Buch, L?Economie Dirigee, veröffentlicht hatte. Bertrand war der Sohn des Zeitungsherausgebers und Politikers Henri de Jouvenel, seine Mutter hatte einen Salon im Boulevard St. Germain. Er war mit der zwölf Jahre älteren Marcelle verheiratet und in ganz Frankreich bekannt als der Junge, der im Alter von sechzehn Jahren von Colette, der zweiten Frau seines Vaters, verführt worden war; Colette hatte während der Affäre ihren Roman
Cheri geschrieben, die Geschichte eines bildschönen Jungen, der von einer älteren Frau verführt wird. Bertrand war inzwischen sechsundzwanzig, ein schmaler, gutaussehender Mann mit hohen Wangenknochen und in gewissem Licht grünen Augen. Er war außerdem charmant, einfühlsam und klug. Er verliebte sich in Martha. Sie floh an den See von Annecy bei Genf; er folgte ihr.

Die Affäre stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Marthas Eltern und vor allem ihr Vater sträubten sich vehement gegen die Vorstellung, daß ihre Tochter mit einem verheirateten Mann zusammenlebte, auch wenn Bertrand beharrlich versprach und versuchte, sich scheiden zu lassen. In Paris lebten Martha und Bertrand zusammen, doch beide waren häufig unterwegs - Martha schrieb in Bertrands Haus in La Faviere an ihrem Roman, während Bertrand seinen Vater als Sekretär auf Dienstreisen begleitete -, und schrieben einander täglich, zuweilen sogar mehrmals. Nach ihrer Trennung von Betrand im Sommer 1931 überredete Martha den
St. Louis Post Dispatch, einige Artikel über Amerika herauszubringen, die sie durch Texas, Nevada, New Mexiko und Kalifornien führten; ihre Reise hielt sie in mehreren Briefen an Stanley Pennell fest, später Autor von The History of Rose Hanks, der an der John-Burroughs-Schule ihr Englischlehrer gewesen war.

Aus dieser frühen Phase sind Hunderte von Briefen von Bertrand an Martha erhalten, doch nur wenige von ihr an ihn. Während der knapp vier Jahre ihres Zusammenlebens hegte er für sie die tieferen Gefühle. Martha hatte in dieser Zeit zwei Abtreibungen.

In Frankreich tat Martha das, was sie fortan ihr ganzes Leben tun sollte: Sie machte sich Notizen über alles, was sie sah und hörte, hielt sie in kleinen, gebundenen Aufgabenheften fest und verwendete sie später als Grundlage für ihre Artikel und Kurzgeschichten. Schon damals waren es die Details, die ihre Aufmerksamkeit erregten. "Ich arbeite gern", schrieb sie, "letztlich ist es das einzige, was mich nicht langweilt, demoralisiert oder mit Zweifeln erfüllt. Das einzige, was nach meiner festen Überzeugung rundum und unwiderruflich, vom Ergebnis unabhängig gut ist."

Teil 2