Heute in den Feuilletons

So sehr haben die Chefs Angst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2013. Die NZZ hat herausgefunden, warum deutsche Journalisten sich ungern kritisieren lassen: Niemand weiß besser, wie weh das tut. Anlässlich des NSU-Prozesses erinnert Götz Aly in der Berliner Zeitung an die Urszene des Terrorismus in Deutschland: die Ermordung August von Kotzebues. Wolf Lepenies kann in der Welt mit Giorgio Agambens Plan eines "Empire Latin" nicht d'accord gehen. Der Tagesspiegel erklärt, wie ein Datenjournalist die öffentlich-rechtlichen Anstalten transparent machen will. In der FAZ verteidigt die dänische Fernsehredakteurin Sofia Fromberg die als sexistisch kritisierte Talkshow "Blachman".

NZZ, 07.05.2013

Die Untersuchung über mangelnde Rechenschaft und Selbstkritik der Medien hat hierzulande kein großes Aufsehen erregt. Zumindest die NZZ lässt auf ihrer Medienseite Stephan Russ-Mohl, einen der Autoren der europaweiten Studie (hier als pdf), über die Ursachen nachdenken, zum Beispiel den "Interessenkonflikt zwischen institutionellen und persönlichen Interessen" der Beteiligten: "So wichtig für das Medienunternehmen mehr Rechenschaft und Transparenz wären, so sehr haben die Chefs Angst, von Presseräten, Ombudsleuten oder Medienjournalisten an den Pranger gestellt zu werden. Weil alle Medienverantwortlichen wissen, was sie Politikern, Wirtschaftsführern und anderen Prominenten antun, wenn sie diese medial skandalisieren, möchten sie selbst auf keinen Fall Skandalisierungsopfer werden."

Weitere Artikel: Andrea Köhler sitzt fasziniert vor der Dove-Werbung. Sieglinde Geisel stöbert im im Depot des Berliner Alliierten-Museums. Hans Jörg Jans bilanziert zur Halbzeit die Verdi und Wagner gewidmete Spielzeit.

Besprochen werden Hartmut Langes Novellenband "Das Haus in der Dorotheenstraße", Deborah Levys Roman "Heimschwimmen" sowie Robert und Edward Skidelskys Buch "Wie viel ist genug?" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Levy, Deborah

Welt, 07.05.2013

Die französische Zeitung Liberation hat ein Papier von Giorgio Agamben veröffentlicht, das - an einen alten Plan des Philosophen Alexandre Kojève angelehnt - die Bildung eines "Empire latin" aus Frankreich, Spanien und Italien vorschlägt. "Agamben präsentiert den Text Kojèves wie ein politisches Gedankenspiel", erklärt dazu Wolf Lepenies. Doch handle es sich bei diesem Tex um "ein Dokument des Zorns. Hassobjekt ist Deutschland. Kojève propagiert einen 'lateinischen' Morgenthau-Plan. Deutschland soll in erheblichem Maße entindustrialisiert werden. Die deutsche Landwirtschaft muss in Zukunft ihre Düngemittel aus Frankreich importieren. Jede Stahlproduktion wird verboten. Deutschland, die 'Kohlengrube des Lateinischen Reiches', wird die Existenz der französischen Stahlindustrie sichern." Das war unmittelbar nach dem Krieg und in seinem Hass nicht unverständlich. Wie aber Liberation heute an diesen Text erinnern kann, "als ob es sich bei der Errichtung eines lateinischen Imperiums um eine politische Strategie für die Gegenwart handelte", ist Lepenies unverständlich.

Weitere Artikel: In Kairo wartet der ägyptische Comickünstler Magdy El Shafee ("Metro") auf seinen Prozess: Er soll bei einer Demonstration angeblich versucht haben, drei Polizisten zu töten, berichtet Anna Gabai. Claus Lochbihler unterhält sich mit dem Gitarristen Larry Coryell über Buddhismus, Jazz-Rock, Jimmy Hendrix und den Vibraphonisten Gary Burton. Eckhard Fuhr freut sich über das glänzend renovierte Jagdschloss Hubertusburg in Sachsen. Einige Rechtsradikale aus Schleswig-Holstein haben sich den Slogan "Wir sind das Volk" lassen, meldet Thomas Schmid und rät zu Gelassenheit.

Weitere Medien, 07.05.2013

Anlässlich des NSU-Prozesses erzählt Götz Aly in der Berliner Zeitung eine Urszene des Terrorismus in Deutschland: die Ermordung August von Kotzebues durch den Jenaer Studenten Karl Ludwig Sand. Die Reaktionen waren zwiespältig und lassen bis heute tief blicken: "Den führenden Demokraten Ernst Moritz Arndt und Joseph Görres erschien 'die Tat Sands als etwas Großes', wie sie dem höchst befremdeten Ludwig Börne im September 1819 erklärten. Ein Jahr später sah dieser bei dem gleichfalls fortschrittlichen Verleger Johann Friedrich Cotta ein Ölbild hängen, das Sand mit gezücktem Dolch als heldischen Märtyrer zeigte. Hingegen verurteilte Börne den Mord als 'freche' Dummheit und als 'demokratische Ausschweifung'. Ihm war die 'Schwärmerei des Täters' zuwider: 'Sands Tat ist abscheulich; Sands Zweck ist ganz unvernünftig.'"

TAZ, 07.05.2013

Ausführlich widmet sich Katrin Bettina Müller Christoph Winklers Choreografie "RechtsRadikal" über neonazistische Frauen: "Was man sieht? Vier junge Frauen auf einer recht leeren Bühne, hübsch, schmal, langhaarig, unauffällig in Hosen und Röcke gekleidet. Was zuerst irritiert, sind ihre Blicke; ihre Augen wollen etwas von uns, sie kontrollieren das Publikum. Siehst du mich?, fragen sie. Die Augen provozieren uns, sie genießen die Konfrontation, aber erklären wollen sie sich nicht. Im Gegenteil. Unzugänglich zu sein, bedrohlich in dem, was sie an Auskunft verweigern, das viel eher. Unerreichbar zu sein, das ist ihre Stärke."

Weiteres: Ralf Leonhard erlebte, wie sich Viktor Orban vor dem Jüdischen Weltkongress in Budapest zu empfehlen versuchte: "Juden und Nichtjuden profitieren am meisten, wenn wir uns bemühen, gute Patrioten und Kinder Gottes zu sein." Aram Lintzel wünscht Reinhard Mohr nach dessen Bekenntnissen eines Altlinken viel Spaß im Club der Altherren-Renegaten.

Besprochen werden außerdem Armin Petras' Inszenierung von Franz Xaver Kroetz' Fragment "Bauern sterben" in München und das Album "Some Say I So I Say Light" des Londoner Musikers Ghostpoet.

Und Tom.

Aus den Blogs, 07.05.2013

Designboom besucht unser pied-à-terre in Paris.

Margaret Atwood stellt im NYRBlog folgende Frage: "Why, for instance, did I dream I had surged up through the lawn of Toronto's Victoria College and clomped into the library, decomposing and covered with mud?"
Stichwörter: Atwood, Margaret, Dreamer

Tagesspiegel, 07.05.2013

Kurt Sagatz stellt auf der Medienseite des Datenjournalisten Lorenz Matzat vor, der auf interaktiven Grafiken die Kosten der öffentlich-rechtlichen Sender transparent machen möchte - so dass der Nutzer sehen kann, ws etwa eine Minute Jauch kostet: "Von jetzt auf gleich ist das allerdings nicht zu machen. Die aktuellen Verträge zwischen den Sendern und den Produktionsfirmen lassen dies derzeit nicht zu, das ist dem Datenjournalisten durchaus klar. 'Doch die öffentlich-rechtlichen Sender könnten solche Klauseln in künftige Verträge einfügen', hofft Matzat."

FAZ, 07.05.2013

Auf der Medienseite unterhält sich Matthias Hannemann mit der dänischen Fernsehredakteurin Sofia Fromberg über die von Thomas Blachman ersonnene Talkshow "Blachman", in der sich zwei Männer über den Körper einer vor ihnen stehenden nackten Frau unterhalten. Sie verteidigt die Idee: "Wir leben in einer Gesellschaft, die für Gender-Fragen sehr sensibilisiert ist. In dieser Gesellschaft wagen es Männer kaum noch, im öffentlichen Raum über den weiblichen Körper zu reden. Es gibt nur noch Puritanismus und Pornografie, und Blachman wollte untersuchen, was das für das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bedeutet. Das fand ich spannend."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg sieht in Zürich ein von Milo Rau verantwortetes Spektaktel, in dem der Zürcher Weltwoche mit echten Akteuren der Prozess gemacht wurde (am Ende wurde sie trotz mangelnder politischer Korrektheit freigesprochen). Patrick Bahners folgte an der Yale School of Architecture einer Tagung über das neue Berlin. Peter Bäumler und Matthias Lienert erinnern an die Bücherverbrennungen vor achtzig Jahren. Arnold Bartetzky nimmt das neu verfertigte Leipziger Paulinum unter die Lupe. Der Historiker Thomas Weber beleuchtet anhand jüngst gefundener Akten die Frage des Befehlsnotstands in der Wehrmacht neu.

Besprochen werden ein neuer "Star Trek"-Film, eine CD-Box mit den gesdammelten Werken des Gitarristen und Allman Brothers Duane Allman, Ereignisse des Klavier-Festivals Ruhr, eine Ausstellung über Bildung im Barock auf Schloss Friedenstein, eine Choregrafie des "Bolero" von Ravel, unter Sidi Larbi Cherkaoui, Damien Jalet, Marina Abramovic und Riccardo Tisci (dem heutigen Designer bei Givenchy), ein Dokumentarfilm über B.B. King (mehr hier) und das Stück "Bauern sterben" von Franz-Xaver Kroetz in München.

SZ, 07.05.2013

"Merkwürdig einseitig" findet Willi Winkler den gerade veröffentlichten Briefwechsel zwischen Willy Brandt und Günther Grass: "Der ehemals anarchistische Barockdichter Grass müht sich mit dem ganzen Politikkleinkram", jedoch: "Der Geist weht zwar, wo und wie er will, aber an der Macht geht er seit je vorbei und das meist auch noch spurlos. ... Grass schreibt seitenlange Eingaben, dokumentiert, beweist, zählt auf, referiert, aber es sind alles Eingaben fürs Archiv."

Weiteres: Franz Himpsl und Christoph Schmidt-Petri plädieren (ähnlich wie bereits vor einem Jahr) in Sachen Organspende für "ein System, in dem umfassend informierte Bürger nach reiflicher Überlegung eine Entscheidung für oder gegen eine Spende ihrer Organe und ihres Gewebes treffen und nur diese Entscheidung im Todesfall respektiert wird."

Besprochen werden Milo Raus Stück "Zürcher Prozesse" am Theater Neumarkt in Zürich, Heiner Müllers "Zement" am Münchner Residenztheater, J.J. Abrams' neuer "Star Trek"-Film, die neue Sammlungsausstellung im Lenbachhaus in München (Catrin Lorch freut sich über den "Vorgeschmack auf wirklich zeitgemäße Museumsarbeit", in einem weiteren Artikel kommt Gottfried Knapp zu dem Befund, dass die 17 ausgestellten Beuys-Werke "bestens zur Wirkung" kommen) und Bücher, darunter neben einem Bildband über die Wohnungen von Architekten, in die man auch hier einen Blick werfen kann (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).