9punkt - Die Debattenrundschau

Plötzlich war nicht mehr Russland der größte Feind

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2017. Auf Zeit online erklärt die polnische Journalistin Izabela Szuman, wie der Flugzeugabsturz von Smolensk und die nachfolgenden Proteste, die Spaltung in Polen entscheidend vertiefte. Die FR feiert Philipp Ruchs Mahnmal für Björn Höcke als "geradezu intime Schenkung". Die Deutschen mögen den Islam nicht, weil sie leider Gottes selbst nicht mehr religiös sind, fürchtet der Tagesspiegel.  Die SZ erklärt, warum Viktor Orban in Budapest einen teuren Museumspark bauen lässt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.12.2017 finden Sie hier

Ideen

Arno Widmann erlebt in der FR bei einem Besuch in Bornhagen das vom Zentrum für Politische Schönheit aufgestellte Mahnmal-Imitat als "geradezu intime Schenkung", für die der AfD-Politiker Björn Höcke dankbar sein solle: "Das Zentrum hat ihm einen exklusiven Blick beschert, der ihn tagtäglich daran erinnert, was er kleinreden oder gar leugnen, woran er jedenfalls aber nicht erinnert werden möchte: die millionenfache Ermordung von Juden durch Deutsche.

In Deutschland scheint man nun den Widerstand gegen das Dritte Reich nachholen zu wollen, meint in der Welt hingegen Henryk M. Broder mit Blick auf Aktionen gegen Rechts und Sprachzensur: "Wenn es so weitergeht, wird der Faschismus nicht auferstehen, dafür aber der Antifaschismus in seine Fußstapfen treten. Mit Denk- und Sprechverboten, mit dem Ausrufen von Schicksalsfragen, mit Ausgrenzungen und Denunziationen, mit Kunstaktionen, die den Tatbestand der Nötigung erfüllen - alles, damit sich die Geschichte nicht wiederholt."

Dass der amerikanische Verhaltensökonom Richard Thaler den Nobelpreis für die Erkenntnis, der Mensch sei nur "beschränkt rational", bekommen hat, kommt Befürwortern des "Nudgings" wie gerufen, meint der Philosoph und Unternehmensberater Reinhard K. Sprenger in der NZZ: "Auch die mannigfachen Forschungsanstrengungen zur sogenannten künstlichen Intelligenz leben von der These, dass Algorithmen 'besser' entscheiden als Menschen. Gesellschaftliche Sprengkraft aber gewinnt diese Sichtweise durch die Politik. Sie wittert die Chance, ihre Umerziehungsneigung 'wissenschaftlich' zu legitimieren ('nudging'). Der gemeine Bürger, er wisse ja gar nicht, was gut für ihn sei. Das wissen nur anonyme Behörden. Gütig und vor allem: ganz rational."
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Europa

Auf Zeitonline erklärt die polnische Journalistin Izabela Szuman, wie der Flugzeugabsturz von Smolensk und die nachfolgenden Proteste alter, streng katholischer Polen aus Dörfern und Kleinstädten, die fest an einen russischen Anschlag glaubten, den Riss in der polnischen Gesellschaft hervorriefen. Vor allem das Verbot der einst liberalen Regierung, weitere Trauersymbole aufzustellen, sei die Geburtsstunde neuer rechter Bewegungen gewesen, die sich im Hass gegen das liberale Bürgertum vereinten: "Heute weiß ich, dass auch wir Liberalen eine Mitschuld am Siegeszug der Rechten, an der Spaltung unseres Landes tragen. Mir scheint, dass wir die alten, verletzten, trauernden Menschen damals nicht richtig angehört und verstanden haben. Wir haben sie belächelt und nicht ernst genommen. Wir waren überheblich und wollten ihnen das Recht zum Trauern nehmen. So absurd ihre Reaktionen auch waren, wir hätten sie nicht verlachen sollen. Die älteren Menschen spürten unsere Verachtung, die Verhöhnung durch die liberalen Medien. Wir bezeichneten sie als bigotte Frömmlinge, Zurückgebliebene und Verrückte. Erst dieser Umgang machte die Trauernden wütend. Plötzlich war nicht mehr Russland der größte Feind, der vermeintliche Verursacher der Flugzeugkatastrophe, sondern es waren die zynischen, jungen, uneinsichtigen, proeuropäischen Polen. Die Besserwisser. Die Liberalen. Die Staatsfeinde. Die Wahrheitsverweigerer. Die Atheisten."
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Medien

Mit reichlich schnöder Begründung stellt Gruner + Jahr die Website des Art-Magazins (die wir im Perlentaucher gern zitiert haben) ein, meldet turi2 mit Bezug auf die Medienjournalistin Ulrike Simon. "Sie hört auf den Fluren, die Seite sei nicht profitabel, da sie Dienstleistungen teuer bei Schwesterfirmen einkaufen müsse. G+J selbst begründet, der Verlag wolle nur 'reichweitenstarke werbefinanzierte journalistische Angebote' betreiben - da reichten die 200.000 Unique User nicht aus." Von der Website soll eine bloße Abonnieranleitung bleiben, ein Rückfall in die frühen nuller Jahre des Internets.
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Stichwörter: Art, Art-Magazin, 00er Jahre

Religion

Die Deutschen fühlen deshalb eine so "tief sitzende Aversion gegen den Islam als Religionsgemeinschaft", weil sie selbst nicht mehr religiös sind, fürchtet Malte Lehming im Tagesspiegel: "Das entchristlichte Europa ist in Glaubensdingen ahnungslos geworden. Kein Wunder: Wie sollen Menschen die Welt verstehen, wenn sie in einem emphatischen Sinne gar nicht wissen, was religiöser Glaube, religiöse Frömmigkeit ist?" Traurig merkt Lehming auch an: "Nur ein Viertel der Bevölkerung sagt, dass ihr Glaube sie als Person definiere. Zum Vergleich: In Indien sind es 70 Prozent, in Südafrika 66 Prozent." Und wo läuft es allem in allem besser?
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Stichwörter: Glaube, Religiosität, Südafrika

Kulturpolitik

In der SZ kommentiert Peter Münch den in Budapest mit einem Budget von einer Milliarde Euro neu entstehenden Museumspark als einen "Ausdruck Orban'scher Bombastomanie". Auch der ungarische Kunsthistoriker Andreas Renyi halte das Projekt für kalkuliert: "Gut für die Bauwirtschaft ist das obendrein, und oft genug profitieren davon die Günstlinge der Regierung. 'Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Geld in Ungarn bei solchen Projekten verschwindet', warnt Rényi. Obendrein dient der Museumspark gleich doppelt den Interessen des Premiers. Denn oben auf der Burg möchte er ein neues Regierungsviertel errichten. Seit geraumer Zeit schon wird dort an einem neuen, repräsentativen Amtssitz für den Ministerpräsidenten gebaut. Wenn die Nationalgalerie umzieht, entsteht zusätzlich freier Platz für Ministerien. Die Macht residiert dann oben, das Volk samt Kunst und Spielen unten."
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