Im Kino

Feuer in den Händen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Silvia Szymanski
17.05.2018. Lukas Feigelfelds ungewöhnlich tiefer, weiblicher und mutiger Debütfilm "Hagazussa" erzählt von einem Mädchen, das sich davor gruselt, zu existieren. (Wer Angst vor Spoilern hat, sollte unseren Text erst nach dem Kinobesuch lesen. Nimród Antal entwirft in "The Whiskey Bandit" eine Räuberpistole aus den Flegeljahren des Kapitalismus.


Hexen, Pest, Verrohung, Totenschädel, Ziegengott: Mit seinem düsteren Rahmen und dem morbiden Dekor zählt "Hagazussa" sicherlich mit einigem Recht zu den Mittelalter- und Alpenhorrorfilmen. Doch Genrekonventionen scheinen mir bei ihm nicht das Wichtigste zu sein. Vor allem sehe ich in ihm eine Studie über das kurze Leben und die inneren Zustände eines armen Mädchens.

Albrun wächst allein mit seiner Mutter in einer Bauernkate im kühlen, von Missernten und Hunger gequälten 15. Jahrhundert auf. Isolation und Angst und eine anwachsend traumatisierende Lieblosigkeit machen ihr das Leben zur Hölle. Von dem Gebirgsdorf, an dessen Rande sie lebt, ist nichts zu erwarten als Schmähung, Angiften, Aberglaube, manipulative Übergriffe.

Das langsame Erzähltempo und der monotone bäuerliche Alltag… anfangs machte mich das ungeduldig. Doch dann gerät, fast unsichtbar, unter der Oberfläche etwas ins Gleiten, Schweben. Der Schwerpunkt verlagert sich weg von dem eintönigen Draußen hinein in das vage, eingeschüchterte, angstvoll lebendige Innere des Mädchens und in die zunehmende Verwahrlosung, Verzweiflung und Verrücktheit, mit der sie auf die Zumutungen ihres unglücklichen Lebens reagiert. Besonders in der zweiten Hälfte hat mich das immer mehr interessiert und gerührt. Wie allein sie ist. Mit den bedrohlichen Geräuschen nachts im Wald. Den Kränkungen und Drohungen der Leute aus dem Dorf (sie halten sie und ihre Mutter für Hexen). Und mit dem rätselhaften und geächteten Körper (dem ihrer Mutter und dem eigenen), der sexuelle Gefühle, Blut, Kinder und Krankheiten hervorbringt.

Die Geschichte beginnt in Albruns winterlicher Kindheit. Als kleines Mädchen schaut sie vertrauensvoll aus der Geborgenheit ihres Mantels in die Welt, arglos und interessiert, und wird von ihrer Mutter angelächelt. Das wird, nachdem die Mutter trotz Albruns Pflege an der Pest gestorben ist, etwas ganz Seltenes für Albrun werden: Zuneigung und Freundlichkeit. Nachts tanzen und johlen drei als Tiere verkleidete, wilde Männer im Schnee vor ihrem Häuschen, Feuer in den Händen, Schellen an den Füßen: "Wir kriegen euch schon noch"



Den ganzen Film lang ist Albrun umgeben von einem Gewebe aus Geräuschen. Manchmal an der Grenze zur Wahrnehmbarkeit, manchmal dunkel dröhnend. Ein Brausen wie von fernen Zügen, Stürmen und dystopischen Maschinen, winzig leisem Pferdewiehern, Muhen, Fliegenschwirren, Kinderstimmen. Mein Kollege Eckhard Heck schreibt bei hardsensations, dass diese Musik wie aus den Eingeweiden des Films aufsteigt und sich um die Bilder windet. Wie ein Albdruck, der nicht weggeht, frisst sie sich immer tiefer, verrücktmachend, in die Psyche. "So etwas kann innere Blutungen verursachen", schreibt er, und so kommt mir der Film überhaupt vor.

Im Frühling, viele Jahre später, sehen wir Albrun als junge Frau. Sie hat ein Baby, man weiß nicht woher, und sie ist immer noch allein. Sie hat ein sehr privates, etwas wunderliches Sexualleben, nur für sich, erregt vom Melken ihrer Ziegen, dem rhythmischen Spritzen aus penisartigen Zitzen. Auch die sich sanft im Wind bewegenden jungen, weichen Triebe der Nadelbäume sehen sexuell aus. Nachts sind die tagsüber so schmalen Pupillen der Ziege weit geöffnet, rund und ausdrucksvoll.

Es gibt eine junge Frau aus dem Dorf, Swinda, die sich an Albrun heranmacht. Sie hat ein interessantes, hintergründiges Gesicht. Und etwas Schlangenartiges. Ihr gewinnendes Lächeln bringt Albrun in Verlegenheit. Die beiden sitzen vor einer schönen Aussicht auf der Wiese, und Swinda lobt den Platz "in unseren Bergen": Hier brauche man sich nicht zu fürchten vor den Juden und den Heiden, die nicht Gottes Licht im Herzen tragen. "Sie kommen in der Nacht, und wie Viecher fallen sie über einen her. Und ein paar Monate später kriegt man dann ein Kind." An der Viehtränke schöpft ein Bauer Wasser. Auf Swindas Geheiß lässt sich Albrun auf den Sex mit ihm ein, voller Unbehagen, aber brav und regungslos.

Das gibt es alles heute noch, dachte ich: Ein ausgegrenztes Mädchen schließt sich einer manipulativen Freundin an. Die ist ihr an gesellschaftlicher und sexueller Erfahrung überlegen und nützt sie aus für ihre Spiele, Gelüste und Gehässigkeiten. Das Mädchen schläft ihr zuliebe mit einem Typ. Versucht, abzutreiben. Versucht Drogen. Hört Stimmen. Macht Selbstmordversuche. Albrun ist eine Schwester heutiger depressiver und gemobbter Mädchen. Zu existieren wird für sie immer fremder und gruseliger. Sie wird selber eine gruselige Person, doch sie zeigt keine Reaktionen auf die Bosheiten der anderen. Und als sie sich am Ende doch wehrt, ist sie nicht mehr unmittelbar zu verstehen. Bis auf eine Ausnahme sind alle Handlungen Albruns Versuche, zu verschwinden.



In einem schönen, stillen Kamerabild steht Albrun im sonntäglichen Glockengeläut mit ihrem Kind im Wald. Sie wirkt bei sich, entspannt, verwundert. Doch dieser Moment ist der Beginn der akuten Phase ihres Verrücktwerdens. Ein Pilz, den sie gegessen hat, verändert ihren Blick. Der Wald macht sie staunen, beinah schweben. Das reiche Spiel von Licht und Schatten. Sie geht wie eine Tänzerin mit nackten Füßen in den schlammigen Waldteich. Das wehe und verzweifelte Gesicht des Babys. Als wäre es ein alter Mensch mit schrecklichen Erfahrungen, der nur durch ein Versehen wiedergeboren wurde. Mutter und Kind gleiten ins Wasser. Unter der Oberfläche, wohin die Kamera nun mit ihnen taucht, ist es, als wäre man noch nicht geboren. Der milchig faule Schleim sterbender Wasserpflanzen und diffuser Fasern vermischt sich mit Blut, wie in einer Fruchtblase. Eins fließt ins andere.

Von da an bleibt alles wie unter Wasser. Auch als sie zurück in ihrem Häuschen ist, behalten ihre Bewegungen diese tänzerische Langsamkeit: über-bewusst, über-vorsichtig. Japanisch sieht sie aus im Feuerschein ihres Herdes, auf dem in einem Kessel etwas brodelt. Ganz kurz verhärtet sich das Licht und gibt ihr fast das Aussehen ihrer Mutter. Bedeuten die Bilder, dass sie ihr Kind isst? Wenn ja, dann ist das in ihrer Albtraumlogik ihr Weg, aus all dem Gruseligen, Falschen wieder herauszukommen: indem man sein Kind in den Bauch zurückzwingt und seine eigene Existenz zurücknimmt. Ich hatte mit einer Gewaltorgie gegen sie oder gegen das Dorf gerechnet. Doch sie bringt nur noch ihre eigenen Angelegenheiten in Ordnung. Nimmt sich und ihre Spuren aus dem Leben. Beendet das unselige Hervorbringen unglücklicher Frauen aus den Körpern unglücklicher Frauen ihrer Ahnenreihe. Ein schrecklicher Schrei kommt aus ihr und bringt die Welt zum Wanken und Zerbrechen. Die Wahrnehmung zerreißt, Filmton und Filmbilder dröhnen und beben.

Ein Bündel verbrennt vor dem Alpenpanorama, im frühen Licht, vor Sonnenaufgang. Das Feuer knistert schön hell in diesem zarten, kühlen Blau.

Wenn man ihn von seinem Ende her liest, ist "Hagazussa" ein ungewöhnlicher, tiefer, sehr weiblicher und - in seiner Gleichgültigkeit gegenüber etwaigen Zuschauererwartungen - mutiger Film. Es ist mit ihm wie mit dem diffusen Dämmerlicht am Abend: Es sensibilisiert. Die Dinge sehen darin anders aus, und man vermutet mehr als man sieht. Es gibt viel nachzudenken über diesen Film.

Silvia Szymanski

Hagazussa - Deutschland 2017 - Rege: Lukas Feigelfeld - Darsteller: Celina Peter, Aleksandra Cwen, Tanja Petrovsky - Laufzeit: 102 Minuten.

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Heute verdient Attila Ambrus sein Geld mit Töpferarbeiten. Das Handwerk hat der inzwischen 50-jährige im Gefängnis gelernt, während einer 12-jährigen Haftstrafe. Die hatte er angetreten, nachdem er nach einer langen Serie erfolgreicher Bank- und Postüberfälle im Jahr 1999 verhaftet worden war. Genauer gesagt: erst wurde er verhaftet, dann konnte er aus der Untersuchungshaft fliehen, dann wurde er, nach drei Monaten und weiteren Überfällen, ein weiteres Mal geschnappt. Die Dreistigkeit seiner Raubzüge, sowie seine Vorliebe für harten Alkohol machten ihn zu einer Art Volkshelden und verschafften ihm den Spitznamen "Whiskey-Räuber".

Noch ein paar Schritte weiter zurück: Kindheit und Jugend verbringt der Whiskey-Räuber, so wollen es einige Rückblenden zu Beginn dieses seinem Leben und Werk gewidmeten Biopics, im Gefängnis realsozialistischer Symmetrien; der kleine Attila in der Bildmitte, um ihn herum die spiegelbildlich arrangierte Inneneinrichtung eines Kinderheims, später die eines rumänischen Militärstützpunkts - Attila gehört zur Gruppe der in Rumänien lebenden Ungarn, was ihn zu einem doppelten Außenseiter macht. Ceaucescu und seine Schergen halten nicht viel von der ethnischen Minderheit im eigenen Land, aber wenn er dann nach Ungarn flieht, ist er dort erst einmal ein Illegaler unter vielen.

Nach seiner Flucht kommt außerdem der Kapitalismus über Osteuropa. Allerdings ist das neue Wirtschaftssystem noch jung und ein wenig naiv und genau diese Situation des Umbruchs, des Einübens in eine neue Vermögens- und Wertschöpfungsordnung kann vermutlich auch die Erfolge des Whiskey-Räubers erklären. Es spricht schließlich nicht unbedingt für die durchschlagende Professionalität eines Räubers, wenn sein Markenzeichen eine Schnapsfahne ist. Aber solange auf Postämtern das Geld ohne irgendwelche Schutzmechanismen bündelweise in Schreibtischschubladen herumliegt, muss man kein kriminelles Mastermind sein, um unbeschadet mit der Beute davon zu kommen. Ein wenig gesundes Draufgängertum und körperliche Fitness (Hauptdarsteller Bence Szalay dürfte vor allem für seinen durchtrainierten, geschmeidigen Körper gecastet worden sein) ist völlig ausreichend. Auch die Popularität Attilas hat möglicherweise etwas mit der Akklimatisierung der ungarischen Gesellschaft an den Kapitalimus zu tun: Da lebt einfach einer vor, was alles möglich ist im neuen System.



Nimród Antal, für diesen Film nach einem längeren Hollywoodausflug erstmals wieder in sein Heimatland zurückgekehrt, bedient die Konventionen des Biopics routiniert, aber nicht unbedingt enthusiastisch. Das betrifft auch die obligatorische Liebesgeschichte: Ein Blick auf den Lockenschopf von Kata (Piroska Móga), und Attila hat sein Herz verloren. Weil sie bei der ersten Begegnung, ohne ihm auch nur ihren Namen zu nennen, in die U-Bahn steigt, rennt er oben auf der Straße zur nächsten Station und schafft es tatsächlich, den Zug zu überholen. Besonders plausibel ist die Szene nicht, aber der an eine Szene in Leos Carax' "Mauvais Sangue" erinnernde Tracking-Shot, der dem an einer Häuserwand entlang gleitenden Attila folgt, ist ziemlich toll. Sehr schön ist auch eine Szene, in der Attila Kata ins Kino ausführt. Er schämt sich, weil er nicht genug Geld hat, um ihr Popcorn und Cola zu bezahlen. Aber noch mehr geht ihm der völlig grundlos unfreundliche Popcornverkäufer auf den Geist. Fast könnte man meinen, dass der Whiskey-Räuber seine wenig später einsetzende kriminelle Karriere nur wegen dieser persönlichen Kränkung an der Snacktheke startet.

Insgesamt ist "The Whiskey Bandit" kein ganz ideales Projekt für Antal. Die Epik des Biografischen liegt ihm offensichtlich nicht, weshalb Attilas Lebenslauf auch nach zwei Stunden Filmlaufzeit seltsam unmöbliert wirkt. Insbesondere der euphorisch-beschwingte Tonfall der zweiten Hälfte wirkt bemüht, das Dolce-Vita, das sich die Hauptfigur mithilfe ihrer Beute gönnt, wird in ein paar lauen Montagesequenzen abgehandelt. Antals Spezialität sind kleine, dynamische, stilisierte Genrefilme mit einer existenzialistischen Note, wie etwa "Armored" (2009). Auch "The Whiskey Bandit" ist am stärksten in den Actionszenen, die hauptsächlich aus einer Reihe von Verfolgungsjagden durch Budapest bestehen. Flüssige Kamerafahrten durch den öffentlichen Raum, die sich an der Sogkraft der Zentralperspektive ausrichten und von einem dichten, oft leicht verschleppt anmutenden Soundteppich unterlegt sind; die jedoch auch immer wieder durch plötzliche Richtungsänderungen oder harte Karambolagen aus der Bahn geworfen werden. Kleinode des Bewegungskinos, die Antal beim nächsten Mal hoffentlich wieder in einen etwas interessanteren Film einbaut.

Lukas Foerster

The Whiskey Bandit - Ungarn 2017 - OT: A Viszkis - Regie: Nimród Antal - Darsteller: Bence Szalay, Piroska Móga, Zoltán Schneider, Viktor Klem, György Gazsó - Laufzeit: 126 Minuten.