9punkt - Die Debattenrundschau

Eine zu große Herausforderung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2022. In Desk Russie staunt Françoise Thom über die Schläfrigkeit des Westens angesichts der brutalen Forderungen Wladimir Putins. In Atlantic erklärt Anne Applebaum, warum Putin eine blühende Ukraine nicht verkraften könnte. In der FAZ porträtiert der Afrikanist Andreas Eckert den afroamerikanischen Historiker und Verfechter des "Black Marxism" Robin Kelley.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.01.2022 finden Sie hier

Europa

Sehr großes Aufsehen erregt auf Twitter der Artikel "Que signifie l'ultimatum russe aux occidentaux" der französischen Russlandexpertin Françoise Thom, zumindest seit er auf dem sehr interessanten, Russland gewidmetem Online-Magazin Desk Russie auch auf Englisch publiziert wurde. Thom beginnt ihren Artikel mit eine Reihe von russischen Zitaten zum Ultimatum, das Wladimir Putin der Nato, den USA und der EU stellte: Die Zitate lassen kaum einen zweifel zu, dass Russland konkret mit Krieg droht, falls sich die Nato nicht aus der von Putin ersehnten russischen Sphäre zurückzieht. Und das schließt Nato-Mitglieder in der jetzigen EU ein. Seltsam die Reaktion im Westen, die Thom so skizziert: "Wenn man die westliche Presse liest, hat man den Eindruck, dass gar nichts passiert. Die Menschen im Westen scheinen nicht zu verstehen, was auf dem Spiel steht. Sie glauben, dass es nur um das Schicksal der Ukraine geht, das sie weniger interessiert als das Armeniens, wenn man nach den Pilgerreisen unserer Präsidentschaftskandidaten urteilt. In Frankreich halten es viele Politiker für normal, dass Russland nach einer Einflusssphäre verlangt. Sie ähneln jenen, die 1939 glaubten, dass Hitlers Forderungen sich auf Danzig beschränkten. Ein Blick auf die von Moskau vorgeschlagenen Texte genügt, um zu verstehen, dass es um etwas ganz anderes geht."

Als Ergänzung ist der Artikel von Anne Applebaum zu empfehlen, die für den Atlantic nach Kiew gereist ist: "Putins Interesse ist auch ideologischer Natur. Mit jedem Jahr wird die Ukraine selbstbewusster, geeinter und europäischer. Jedes Jahr kommt die Ukraine der Demokratie und dem Wohlstand ein Stückchen näher. Was ist, wenn sie dort ankommt? Der Gedanke an eine blühende, demokratische Ukraine direkt vor der Haustür Russlands ist für Putin persönlich unerträglich. So wie die ukrainische Unabhängigkeit für Stalin einst eine ernste Bedrohung für sein bolschewistisches Regime darstellte, so würde auch eine erfolgreiche moderne Ukraine eine zu große Herausforderung für Putins autokratisches, sklerotisches, kleptokratisches und immer brutaleres politisches System bedeuten."

Werden die Niederlande in hundert oder 200 Jahren noch existieren oder werden sie überflutet sein? Der Aktivist Rutger Bregman hat ein Buch über die Folgen des Klimawandels in seiner Heimat geschrieben und dafür auch mit Experten gesprochen, wie er im Interview mit dem Tagesspiegel erklärt: Diese haben ihm gesagt, "dass wir in den Niederlanden einen Anstieg von zwei Metern wohl noch verkraften könnten. Bei drei, vier oder sogar fünf Metern würde die Lage prekär. Dann müssten wir anfangen, Städte aufzugeben. Eine schockierende Erkenntnis. An dem Ort, den wir Niederlande nennen, leben schon sehr lange Menschen. Es gibt so viel Kultur, so viel Tradition, die wir zurücklassen müssten. ... Schon bei zwei Grad Erwärmung könnte der Meeresspiegel um mehrere Meter wachsen. Dabei steht nicht einmal fest, dass die Menschheit das 2-Grad-Ziel überhaupt erreichen wird."
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Überwachung

Die Landesmedienanstalten drohen, eine Reihe von Pornoseiten in Deutschland sperren zu lassen, die keine Alterskontrollen installiert haben. Was als nächstes, fragt Philipp Bovermann in der SZ. Telegram? Portale mit Links zu raubkopierten Filmen? Jeder, der sich nicht benimmt? Und natürlich machen Alterskontrollen per Ausweis das anonyme Surfen unmöglich. Von Kollateralschäden für das Netz insgesamt ganz zu schweigen: "Das Internet, das scheinen viele Menschen immer noch nicht begriffen zu haben, ist kein lineares Medium, mit Kanälen, die man einfach abschalten kann, und dann sind sie weg. Es ist, sofern man es nicht radikal umzubauen gewillt ist, ein dezentrales Netzwerk. Ein Weltgehirn. Man kriegt Erinnerungen nicht weg, indem man sich einen Teil des Kopfes abschneidet."
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Internet

Es braucht dringend internationale Vereinbarungen für ein sicheres Internet, schreibt Wolfgang Kleinwächter, emeritierter Professor für Internetpolitik und Regulierung an der Universität Aarhus, in der FAZ. Als Vorsitzende der G7-Konferenz habe die  Ampel hier große Verantwortung. Vier Baustellen benennt Kleinwächter, eine Art Kriegsrecht im Cyberspace,  Kriminalität im Cyberspace, autonome Waffensysteme und Schutz des öffentlichen Kerns des Internets. Es sei allein schon sehr schwierig, wie bei digitaler Kriegsführung ein Cyberangriff zu definieren ist: "Das Problem ist, dass nicht nur umstritten ist, was genau ein Cyberangriff ist, in vielen Fällen lässt sich auch der Angreifer schwer ermitteln. Wenn eine Schadsoftware in einem Kraftwerk installiert ist und erst nach einem halben Jahr aktiviert wird, ist es für den angegriffenen Staat nicht einfach, hundertprozentig zu belegen, woher der Angriff kam."
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Gesellschaft

Thomas Thiel greift für die FAZ die Diskussion über "konfrontative Religionsbekundung" an Neuköllner Schulen auf. Politiker der Grünen und der Linkspartei hatten sich gegen die Untersuchung religiösen Mobbings ausgesprochen (unsere Resümees): "Entweder will man das Problem nicht sehen, oder man schiebt es unter dem Vorwurf 'muslimfeindlich' vom Tisch. Kein Muslim wird jedoch stigmatisiert, wenn über derartige Vorkommnisse sachgerecht berichtet wird. Vielmehr sind moderate Muslime selbst den Angriffen ihrer orthodoxen Mitschüler ausgesetzt. Besonders betroffen sind muslimische Schülerinnen, die schon im Kindesalter in eine unterwürfige Rolle gedrängt werden."

"Noch immer gilt Equal Pay in Deutschland eher als Nice-to-have denn als Grundrecht", ärgert sich ZDF-Redakteurin Birte Meier in der SZ. "Fast nirgendwo sonst in Europa verdienen Frauen so viel weniger. In Kalifornien herrscht stattdessen eine andere Kultur - eine, die auf das Recht setzt. So sank die Lohnlücke auf zwölf Prozent, in Deutschland sind es 18 Prozent." Immerhin haben die Deutschen jetzt etwas nachgezogen und es gilt endlich, "was in Großbritannien und den USA seit Jahrzehnten Usus ist: Verdient eine Frau in einem vergleichbaren Job weniger als ein Mann, muss der Arbeitgeber das gut begründen. Die Beweislast ist umgekehrt, Kanzleien und Hausjuristen raten nun Unternehmen, dringend ihre Bezahlpraxis zu überprüfen. Die bislang 'oftmals zum Scheitern verurteilten' Equal-Pay-Klagen werden wahrscheinlich bald zu 'hohen Nachzahlungen und Gehaltsanpassungen' führen", hofft Meier, die ihren Arbeitgeber schon verklagt hat.
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Kulturpolitik

In der SZ schwärmen die Autoren Simone Buchholz, Dmitrij Kapitelman und Mithu Sanyal von der kanadischen Buchmessendelegation die so schön bunt und divers war. Und eine Parlamentarische Poetin hat Kanada auch! Das hätten die drei hier auch gern. Der Posten soll divers vergeben werden - allerdings in Grenzen: Links soll die Poetin sein und irgendwie exotisch. "Allein die Idee, Deutschland hätte eine junge, türkischstämmige Parlamentspoetin, für die nächsten zwei Jahre. Danach würde rotiert, die Position würde neu vergeben, und dann wäre vielleicht ein jüdischer Autor im Amt. Zwei Jahre später eine Schriftstellerin aus Ruanda. Wieder zwei Jahre später ein syrischer Dichter, Musiker, Maler. (Die Kommission, die diese Poetinnen und Poeten wählt, würde natürlich so besetzt werden, dass sie unser Land wirklich repräsentiert: so divers wie nur irgend möglich.)"
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Ideen

Der Afrikanist Andreas Eckert porträtiert in der FAZ den afroamerikanischen Historiker Robin Kelley, der mit seinen Bücher über schwarze Kommunisten in Alabama, über "Black Marxism", aber auch über Theolonius Monk und Jazz für ihn zu den besten Theoretikern des Rassismus in den USA gehört. Ursache des Rassismus sei für Kelley ein "racial capitalism": "Darunter versteht er Landenteignung, Vertreibung, räuberische Kreditvergabe, Wahlrechtsentzug und die lange Geschichte niedriger Löhne für Schwarze und ihren weitgehenden Ausschluss von besseren Bildungseinrichtungen. Zugleich sei es ihm um eine Geschichte des Widerstands zu tun, die aufzeige, dass die politische Erblinie der gegenwärtigen 'neuen Abolitionisten' bis in die Zeiten der Sklaverei und des Siedlerkolonialismus zurückgeführt werden könne."
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Medien

In Hongkong haben die regierungskritischen Online-Medien Stand News und Citizen News aufgegeben, berichtet Christina Braun in netzpolitik. "Vor nicht einmal einer Woche, am 29. Dezember, hatten Hongkonger Behörden mit mehr als 200 Polizist:innen die Büros des Online-Mediums Stand News durchsucht und laut Berichten sechs ehemalige und aktuelle Mitarbeitende festgenommen. Daraufhin hatte das Online-Medium angekündigt, seine Arbeit einzustellen. Noch am selben Tag ging die Webseite des Medienunternehmens offline. Das Schicksal von Stand News habe letztlich den Ausschlag dafür gegeben, dass auch Citizen News ihre Arbeit einstellen, so der Chefredakteur und ehemalige Präsident der Hongkonger Journalistenvereinigung Chris Yeung. Gegenüber Hong Kong Free Press erklärte der Leiter des Ostasienbüros von Reporter ohne Grenzen, Cédric Alviani, dass die Pressefreiheit in Hongkong einmal mehr unter Beschuss stehe: 'Nach Apple Daily und Stand News ist Citizen News das dritte unabhängige Medienunternehmen, das der Einschüchterungs- und Polizeischikanen-Kampagne von Hongkongs Chief Executive Carrie Lam zum Opfer gefallen ist, deren Ziel die totale Unterdrückung der Pressefreiheit in dem Gebiet zu sein scheint."
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