Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 7. Tag

Von Thekla Dannenberg, Lukas Foerster, Thomas Groh, Ekkehard Knörer
12.02.2009. Claudia Llosas "Milk of Sorrow" sucht die Emanzipation in Lima. Cong Fengs Dokumentation "Dr. Ma..." über einen chinesischen Landarzt gehört zu den eindrücklichsten Filmen dieses Festivals. Der im Vorfeld der Berlinale umstrittene Film "Letters to the President" von Petr Lom ist kein Propagandafilm für Ahmadinedschad, sondern wirft einen unheimlichen Blick auf ein Pulverfass vor der Explosion. Und Hans-Christian Schmids "Die wundersame Welt der Waschkraft". Und Rudolf Thomes "Pink"!
Aufdringliche Kartoffelsymbolik: Claudia Llosas "Milk of Sorrow" (Wettbewerb) überzeugt vor allem in seinen Stadtszenen aus Lima

Zum Schwarzbild, mit dem der Film beginnt, singt eine Frauenstimme ein Klagelied über abgeschnittene Penisse und Vergewaltigung. Die Stimme gehört einer alten Frau, die in der peruanischen Hauptstadt Lima im Krankenhaus und im Sterben liegt. Bald darauf wird ihre Tochter Fausta, eine junge Frau mit ausdruckslosem Gesicht und flachen langen Haaren, ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat sich eine Kartoffel in die Vagina gesteckt. Nicht, wie der Arzt vermutet, als primitives Verhütungsmittel, sondern als Abschreckungsmaßnahme gegenüber potenzielle Vergewaltiger. Und Fausta, die Hauptfigur des Films, weigert sich, den Fremdkörper entfernen zu lassen.


Der Film ist deutlich interessanter als dieser Auftakt vermuten lässt. Dennoch bekommt Claudia Llosas "Milk of Sorrow" immer dann Probleme, wenn er sich auf seine Prämisse besinnt. Und wenn er sich in aufdringlicher Kartoffelsymbolik ergeht. Manch einer wird sich gefragt haben, warum Llosa sich für ihre eigentlich sympathische Emanzipationserzählung ausgerechnet diesen Aufhänger ausgesucht hat.

Fausta lebt in ärmlichen Verhältnissen bei ihrem Onkel, dessen Tochter den ganzen Film über damit beschäftigt ist zu heiraten. Immerzu den gleichen Mann, aber die Zeremonien brauchen Zeit. Fausta selbst ist bei einer reichen Dame als Haushälterin beschäftigt. Wie ihre Mutter singt sie gerne und bearbeitet in den Liedern ihre eigene Lebensgeschichte. Ihr Gesang scheint für einen Moment eine Brücke über die Klassenschranke zwischen ihr und ihrer Brotherrin schlagen zu können. Aber das erweist sich als Illusion. Die Konflikte zwischen den beiden Frauen bleiben im Film dann am Ende auf halbem Wege stecken und man weiß nicht wirklich, ob das genau der Punkt sein soll.

Am stärksten ist "Milk of Sorrow" dann, wenn Llosa sich auf den Ort einlässt, an dem ihre Geschichte spielt. Lima ist eine Stadt, die im Kino selten zu sehen ist und Faustas Passagen durch die Armenviertel erkunden diesen Raum auf unaufdringliche Weise, fern vom Elendstourismus. Einige hervorragende Beobachtungen gelingen dem Film hier: zum Beispiel die verschiedenen Hochzeitszeremonien, die einen naiven Pomp in die ärmlichen Behausungen importieren, oder der improvisierte Swimming Pool im Schlamm, in dem Kinder wie Erwachsene plantschen.

So wie er ist, ist der Film leider nicht mehr als ein interessant gescheiterter Versuch, Erzählgestus und Bildästhetik des world cinema nach Peru zu importieren. Das eigentlich Ärgerliche an der Sache ist, dass aus "Milk of Sorrow" mit einer Kartoffel weniger ein richtig guter Film hätte werden können.
Lukas Foerster
Claudia Llosa: "La teta asustada - The Milk Of Sorrow". Mit Magaly Solier, Susi Sanchez, Efrain Solis, Marino Ballon, Delci Heredia. Peru 2008, 94 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Die Praxis als Bühne: Cong Fengs Dokumentation "Dr. Ma..." über einen chinesischen Landarzt gehört zu den eindrücklichsten Filmen dieses Festivals

Zwischen 2005 und 2007 reiste Cong Feng immer wieder in ein abgelegenes Bergdorf in der chinesischen Provinz, das er schon Jahre vorher als ein potenzielles Sujet für einen Dokumentarfilm ausfindig gemacht hatte. Zunächst filmte er, so erzählt er nach der Kinovorstellung, einfach wahllos alles, was ihm vor die Linse lief. Zufällig stieß er bei seinen Erkundungsgängen auf Dr. Ma und seine Landarztpraxis. Aus dem, was er in dieser Praxis vorgefunden hat, ist ein vierstündiger Dokumentarfilm entstanden, der vielleicht das eindrücklichste ist, was es auf der diesjährigen Berlinale zu sehen gibt.

Die Arztpraxis interessiert Cong Feng zuerst als Raum, der in einer fast absurden Konstruktion gerade im - hierzulande strikt privat gedachten - Arzt-Patienten-Verhältnis Öffentlichkeit konzentriert und sichtbar macht. Cong Feng selbst bezeichnet diesen Raum als Bühne. Es ist aber, wenn überhaupt, eine absolut integrative Bühne, die keinen Unterschied macht zwischen Schauspielern und Zuschauern. Die Kamera richtet sich öfter auf die Wartebänke als auf den Behandlungsstuhl. Entscheidend ist aber, dass erstere von letzterem bei Dr. Ma nicht räumlich getrennt sind. Die Patientengespräche gehen fließend über in Dorftratsch, in Erinnerungsgespräche, in bittere Beschwerden über soziale und politische Schwierigkeiten.


Wenn die Dorfbewohner, fast ausschließlich bitterarme Bauern und Wanderarbeiter ihre Gedanken oder Lebensgeschichten erzählen, läuft gleichzeitig der Alltag des Dorfes im Hintergrund und außerhalb des Bildkaders weiter. Nicht selten drängt er sich in letzteren hinein. Oft sind in der Arbeitspraxis zehn, fünfzehn Menschen gleichzeitig versammelt. Die Kamera wechselt dann manchmal zwischen den einzelnen Gesprächsgruppen hin und her, je nachdem, wie sich die Situation entwickelt. Die Aufgenommenen sind sich der Anwesenheit der Kamera in unterschiedlichem Ausmaß bewusst. Die meisten denken, Cong Feng sei lediglich an den außerordentlichen Heilkräften Mas interessiert. Cong Fengs agile Digitalkamera kann dynamisch, quasi in Echtzeit, auf neue Konstellationen reagieren. Einmal fängt sie ein Streitgespräch ein, das mitten auf der Straße zwischen einem Wanderarbeiter und seinem Chef, der sich weigert, ihn zu bezahlen, losbricht.

Cong Feng wendet den Blick seiner Kamera auf die Landarbeiter, die genau wissen, dass sie in der chinesischen Geschichte nie mehr waren als Verfügungsmasse. Gleichzeitig sind sie, auch in der eigenen Wahrnehmung, das Salz der chinesischen Erde, stolz auf die harte Arbeit, die sie leisten und glücklich über deren noch so bescheidenen Ertrag.

Cong Fengs Film gelingen ergreifende Porträts. Zum Beispiel filmt er einen knapp siebzigjährigen, Mann mit faltigem Gesicht, der früher im örtlichen Kohlebergwerk beschäftigt war und jetzt das lebende Gedächtnis des Dorfes ist (beziehungsweise war, ebenso wie mindestens eine andere Porträtierte ist er inzwischen verstorben). Der Alte ist, trotz schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen aus der Zeit im Bergwerk, äußerst geistesgegenwärtig, rattert Biografien seiner ehemaligen Kollegen herunter (fast alle sind sie gestorben, bevor sie 50 Jahre alt wurden) und schwärmt von den drei wirklich guten Erntejahren, die er erlebt hat. Am besten war es 1965. Bedrückend ist eine Szene, in der eine uralte, fast blinde Frau den Arzt aufsucht. Sie kann sich kaum noch artikulieren und beschwert sich in Gebärdensprache darüber, dass niemand sich um sie kümmert. Ma packt ihr ihre Medikamentenrationen einzeln ab, weil sie nicht mehr in der Lage ist, selber zu rationieren. Eine andere alte Frau blickt zufriedener auf ihr Leben. Sie ist mehrfache Großmutter und musste ihre Töchter nicht sterilisieren lassen. Dennoch ist auch sie der Meinung, dass ihre Generation Pech gehabt hat bei der Reinkarnation.

Die meisten Personen, für die sich Cong Feng interessiert, stehen am Ende ihres Lebens. Was in "Dr. Ma's Country Clinic" dennoch nicht vorkommt ist Nostalgie. Fast alle sind sich einig: So schwierig die aktuelle Lage auch ist, früher war alles noch schlimmer. Heute verfügen die Bauern über ein gewisses Maß an Freiheit, sie haben keine Angst mehr vor dem Hungertod und müssen den Pflug nicht mehr mit der eigenen Körperkraft über die Felder schleppen.

Eines ist aber doch schlechter an der neuen Zeit, meint eine Frau: Die Ehefreiheit. Einer der interessantesten Abschnitte des Films beschäftigt sich mit der neuen Heiratsökonomie in einem Land, dem die Frauen ausgehen. Die Ein-Kind-Politik sorgt, auch wenn sie in solch abgelegenen Gegenden nicht voll durchsetzungsfähig ist, in Verbindung mit der erhöhten Mobilität für einen Männerüberschuss. Damit junge Landarbeiter überhaupt eine Gattin finden, müssen ihre Familien heiratswillige Mädchen von Frauenhändlern abkaufen. Manchmal steckt die Ware, das behaupten zumindest einige ältere Damen, mit den Händlern unter einer Decke. Die Frauen laufen bei der ersten Gelegenheit ihrer neuen Familie davon und lassen sich in einer anderen Provinz wieder aufs Neue verkaufen. In diesem Zusammenhang bewährt sich Cong Fengs außergewöhnliche dokumentarische Ästhetik auf besonders eindrückliche Weise: Eine dieser gekauften Bräute taucht bei Dr. Ma auf, und die zufällig anwesende Kamera fängt eine bis aufs äußerste angespannte Situation ein. Die Frau wurde von ihren Schwiegereltern geschlagen, weil diese Fluchtpläne vermuteten, und sie beklagt sich bei dem Arzt lauthals über ihr Schicksal. Die Schwiegermutter steht daneben und versucht vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen. Auch dank Filmen wie "Dr. Ma's Country Clinic" könnte es künftig schwieriger werden, Menschen wie diese Frau zum Schweigen zu bringen.
Lukas Foerster
Cong Feng: "Doctor Ma's Country Clinic", Dokumentarfilm, China 2009, 215 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Offene Widersprüche: Petr Loms "Letters to the President" ist kein Propagandafilm für Ahmadinedschad (Forum)

Zugegeben, der ziemlich unglückliche Katalogtext zu "Letters to the President" des Tschechen Petr Lom stellt Schlimmstes in Aussicht: Ein Film, der den iranischen Präsident Mahmud Ahmadinedschad, gewiss kein Menschenfreund und Pazifist, als nachdenklich-sorgsamen Politiker im Alltagsgeschäft zu zeigen ankündigt und sich um Verständnis für seine Politik bemüht, würde den Protest, der sich im Vorfeld des Festivals geregt hatte, sicher rechtfertigen. Die Boykott-Aufrufe jedoch, Propaganda-Unterstellungen und Diskussionsveranstaltungen, die den roten Teppich für das Oberhaupt des iranischen Regimes bereits ausgerollt sehen, lassen sich nach Sichtung des Dokumentarfilms nur durch blanke Unkenntnis des Films erklären.

Von einem verständnisvollen Blick über die Schulter eines arbeitsamen Ahmadinedschad kann schlicht keine Rede sein. Loms Arbeitsweise rückt einen zwar ganz dicht an die Menschen im Iran heran; doch ist der Blick, der dabei entsteht, nicht verständnisheischend. Was in den Blick rückt, sind vielmehr die eklatanten, teils schmerzhaften Widersprüche, unter denen die iranische Gesellschaft sich formiert. Propagandafilme gehen anders; Sozialkritik, zugestanden, auch.

"Letters to the President" beginnt mit gruseligen Massenszenen. Ahmadinedschads Anhänger im frenetischen Jubel, immer wieder skandierte Parolen: "Tod den USA, Tod Israel". Tausende Briefe werden eingesammelt: Rund 10 Millionen solcher oft nur schnell beschriebenen Zettel sollen bei den Behörden schon eingegangen sein. Denn Ahmadinedschad sorgt sich um nichts mehr als um sein Ansehen beim Volk: Weil er sich volksnah geben will, werden rote Teppiche eingerollt, stets betont er, nur Diener des Volkes zu sein, badet in der Menge und gibt vor, sich in ganz besonderer Weise den Sorgen und dem Kummer, die in den Briefen an den Präsidenten zum Ausdruck kommen, zu widmen.

Vieles, was in der ersten halben Stunde des Films gezeigt wird, wird später wenn nicht revidiert, so doch erheblich kontrastiert, sobald Lom mit seiner Kamera durchs Land zieht, erstaunlich offenherzige Bewohner nach ihren persönlichen, oft sehr widerständigen Ansichten befragt und die behauptete Volksnähe des Präsidenten durch genaue Beobachtungen wenigstens in Zweifel zieht. Etwa, wenn ein Mann in existenzieller Not verzweifelt versucht, bei der zuständigen Behörde den in seinem Präsidentenbrief erbetenen Kredit zu bekommen und dabei auf sehr taube Ohren stößt; wenn eine fanatische Anhängerin des Präsidenten zu Beginn mit den sagenhaft gefüllten Speisekammern in iranischen Haushalten prahlt und zwei Frauen später beim vergeblichen Warten auf eine persönliche Audienz unter bitteren Tränen einander wehklagen, wie schwierig es ist, eine Mahlzeit auf den Tisch zu bekommen; wenn zunehmend kritische Äußerungen zumal von deutlich westlich denkenden Metropolenbewohner laut werden, die die Inflation, Ahmadineschads Politik und das Vorgehen der Sittlichkeitspolizei gegenüber offener bekleideten Frauen anprangern. Oder wenn ein alter Herr die Offenheit des Irans damit begründet, dass hier kein Medienvertreter bei der Ausübung seiner Tätigkeit gehindert werde und nach einem weiteren Schnitt zu sehen ist, wie Petr Lom eben doch genau dies geschieht.


Die Liste ließe sich fortsetzen: Der Hippie am Ende, der sich ein Ende der Präsidentenschaft wünscht, die jungen Biertrinker, die ein Ende der Zensur herbeisehnen, die wütenden Frauen am Gatter, die zum Präsidenten nicht vorgelassen werden wollen. Noch fast jede staatstragende These findet in "Letters to the President" eine anti-thetische Entsprechung, auch wenn einem diese im Duktus des Films selten dick aufs Brot geschmiert wird. Lom leistet sich den, vielleicht wirklich fragwürdigen, Luxus, sich selbst aus dem Film weitgehend herauszuhalten. Ein Kommentar fehlt, Einblendungen beschränken sich auf notwendigste Informationen zum Verständnis. Entsprechend unpositioniert wirkt der Film mitunter, dies aber nur, da er auf marktschreierische Rhetorik verzichtet und allein sorgfältig gedrehtes Material sprechen lässt. Wie man "Letters to the President" letzten Endes einschätzt, entscheiden daher in erster Linie die Grundansichten, die man im eigenen Gepäck mit in den Kinosaal bringt.

Eine Apologie der iranischen Politik ist "Letters to the President" gerade nicht, genauso wenig eine Anklage. Gezeigt wird eine Gesellschaft der Extreme - von Friedensrhetorik zu Einforderung nuklearer Waffen liegen nur wenige Sekunden. Dem zu folgen, ist so intensiv und unbehaglich, als würde man eine brennende Lunte kurz vor Erreichen des Pulverfasses beobachten. Wie dies für Propagandisten und Bellizisten verwertbar sein soll, ist unbegreiflich.
Thomas Groh
Petr Lom: "Letters to the President". Dokumentarfilm. Kanada, Iran, 2009, 74 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Wie hässlich Armut ist, zeigt Jose Padilhas "Garapa" (Panorama)

Im vorigen Jahr wurde Jose Padilha für seinen drastischen Film "Tropa de Elite" (mehr hier) über den Anti-Drogenkampf der Polizei von Rio de Janeiro mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, in diesem Jahr ist Padilha im Panorama mit einer Dokumentation über Hunger oder Unterversorgung in Brasilien vertreten. Die ersten Bilder lassen Schlimmes: Im grobkörnigen Schwarzweiß, als hätte Sebastiao Salgado persönlich die Kamera geführt, sehen wir die Bilder brasilianischer Armut, die in Farbe definitiv zu banal und einfach nicht archaisch genug wirken würde: Frauen gehen stundenlang durch die staubige Einöde, um Milch für ihre Kinder zu besorgen. Ein Vater führt einen mit zwei Kindern und Fässern beladenen Esel, um Wasser aus einem Tümpel zu schöpfen.

Doch die Befürchtung, dass hier jemand mit abgedroschenen Mitteln eine sattsam bekannte Anklage führt, erweisen sich bald als unbegründet. Padilha zeigt in Nah- und Großaufnahme, ohne zu denunzieren, eine Armut, für man nicht leicht Mitgefühl entwickelt. Diese Armut ist abstoßend, hässlich und gemein. Die unterernährten Kinder sind nicht niedlich, sie haben keine großen Augen, sondern die Krätze. Die Väter hängen an der Flasche, und oft genug verkaufen sie die Lebensmittelspenden für die Kinder, um sich von dem Geld Schnaps zu kaufen. Sie betrügen und schlagen ihre Frauen und denken nicht im Traum daran, sich Arbeit zu suchen. Die Frauen sind lebensuntüchtig, sie lügen sich und anderen in die Tasche, um sich selbst oder den Kerl zu verteidigen, der gerade auch noch den Wasserfilter verhökert hat. Manchmal können sie auch einfach nicht lesen und nicht schreiben, wissen nicht einmal, wie alt sie sind. Bis elf können sie zählen, denn so viele Kinder haben sie.

Meist liegen diese Kinder apathisch auf dem Boden der einfachen Steinhütte herum, aus der nur notdürftig der Kot weggefegt wurde, Toiletten oder fließendes Wasser gibt es nicht. Ruhig gestellt wurden sie mit Garapa - mit Zuckerwasser. An dem nuckeln sie, wenn sie am Nachmittag oder Abend hungrig werden. Zucker ist billig, und am Tag gibt es nur eine Mahlzeit. "Wenn ich ihnen am Abend etwas gebe, kan ich ihnen ja morgen nichts zu Mittag geben", erklärt eine Frau dies, lehnt ihren Kopf müde an die Wand und sieht tatsächlich aus wie Dorothea Langes "Migrant Mother".

In einer sehr eindrücklichen Szene folgt der Film einer Frau in ein Hilfszentrum, wo ihr unterernährtes Kind versorgt werden soll. Geradezu verzweifelt versucht die Sozialarbeiterin dieser Frau klarzumachen, dass es nichts bringt, den stehlenden, saufenden Ehemann nur zu beschimpfen, wenn sie nachts dann doch wieder mit ihm schläft, und zwar ungeschützt. Der Mann hat Syphilis.

Im Abspann heißt es, dass weltweit 920 Millionen Kinder eins solch trostloses Dasein fristen, und dass nach UN-Angaben 30 Milliarden Dollar ausreichen würden, um den Hunger und die Unterernährung weltweit zu bekämpfen. Aber eigentlich weiß man es da schon besser, denn Padilha hat sehr eindrücklich gezeigt, dass den Menschen nicht nur Nahrung fehlt, sondern Bildung, Wissen, Selbstachtung und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Thekla Dannenberg
Jose Padilha: "Garapa". Dokumentarfilm. Brasilien 2008, 110 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Mitchell Lichtensteins "Happy Tears" (Wettbewerb)

Mitchell Lichtensteins "Freudentränen" scheint auf den ersten Blick ein ganz moderner Film über eine ganz modern dysfunktionale Familie zu sein. Der Vater ist demenzkrank und seine beiden Töchter streiten darum, wer sich um ihn kümmern muss: Die eine, Jayne (mit bissigem Lächeln und tadellosem Outfit: Parker Posey), lebt in San Francisco von dem Geld, das ihr psychisch schwer angeschlagener Mann mit den Bildern seines verstorbenen Künstler-Vaters verdient (der Regisseur ist der Sohn des Pop-Art-Malers Roy Lichtenstein). Ihren unerfüllten Kinderwunsch kompensiert sie beim Shoppen, die neue Stiefel dürfen schon mal 2.800 Dollar plus Steuern kosten. Die andere, Laura (sehr bescheiden: Demi Moore), hat ihre Hippiephase noch nicht hinter sich gelassen und lebt mit ihrem schwulen Mann und zwei Kindern zusammen.


Daddy lebt mit der etwas auf den Hund gekommenen Shelley (sehr derangiert: Jane Birkin) in einer Beziehung gefunden, in der beide voneinander profitieren. Hin und wieder sieht man wirklich unappetitliche Bilder von einem dementen Mann, der sich und seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hat. Und wenn es hart auf hart kommt, zieht sich jeder die Droge seiner Wahl rein: Daddy das Bier, die Töchter das Marihuana und der Nachbarssohn das Speed. Fast wie im europäischen Autorenkino.

Aber im Grunde ist "Happy Tears" ein Rührstück nach dem Muster der "Desperate Housewives" oder anderer Serien aus dem konservativen Fox-Fernsehreich. Hauptsache am Ende des Films sitzt die Familie einhellig zusammen, und sei es auch um den Preis, dass sich Jayne auf dem gemeinsamen Trip mit dem Nachbarsjungen schwängern lässt und Laura - wegen der Kinder - mit einem schwulen Mann zusammenlebt. Wenn die Werte stimmen, braucht es keine weiteren Vorstellungen vom Leben.

Ernst nimmt der Film seine Figuren dabei nicht, anstelle eines Charakters hat er ihnen einfach Pointen auf den Leib geschrieben. Sie sind Abziehbilder aus den Witzen, die derzeit über kaufsüchtige Alphafrauen im Umlauf sind. Aber selbst für Jaynes tatsächlich komische Visionen, bei denen sich etwa der habgierige Schuh-Verkäufer in einen Geier verwandelt, kann Lichtenstein kein Copyright in Anspruch nehmen, das gab es schon bei "Ally McBeal".
Thekla Dannenberg
Mitchell Lichtenstein: "Happy Tears". Mit Demi Moore, Parker Posey, Rip Torn und Ellen Barkin. USA 2009, 95 Minuten (Alle Vorführtermine)


Ozeanübergreifend: Jeffrey Levy-Hintes Dokumentarfilm "Soul Power" (Forum)

Vorspann: Bevor Sie diesen Artikel lesen, klicken Sie hier zu Youtube, das Video muss Sie nicht kümmern, es gibt keins, nur ein Bild. Und die Musik. James Brown in Zaire!

Als "Rumble in the Jungle" ging der Boxkampf zwischen George Foreman und Muhammad Ali im Jahr 1974 in die Sportgeschichte ein. Zum einen, weil Ali sich überraschend seinen drei Jahre zuvor an Foreman verlorenen Weltmeistertitel zurückerobern konnte; zum anderen weil der Kampf unter viel Mediengetöse in Zaire stattfinden, vom dreitägigen Musikfestival "Zaire '74" mit amerikanischen Soul- und traditionellen afrikanischen Musikern gerahmt werden und beide Ereignisse - mit Cinema-Verite-Meister Albert Maysles an einer von vier Kameras - in einem Film festgehalten werden sollten. Zur Rahmung kam es nicht, der Kampf musste verletzungsbedingt verschoben werden; gedreht wurde dennoch: Nach vielen Jahren Rechtsunsicherheit konnte 1997 "When we were Kings" fertiggestellt werden, der jedoch nur den Boxkampf fokussierte. Dessen Cutter Jeffre Levy-Hinte hat sich nun der Unmengen an Restmaterial von "Zaire '74" angenommen und "Soul Power" als Filmdokument zusammengestellt.


Und was für ein mitreißendes Dokument es geworden ist, von der ersten Minute an. James Brown lässt den Song "Soul Power" im nassgeschwitzten Catsuit auf der Bühne vom Gospelchor zum Besten geben und verleiht dem Film damit schon seinen Titel. Und die Kameras sind auf der Bühne, im Publikum, hinter den Kulissen, überall, immer im hektischen Kampf mit der Bildschärfe angesichts herumwirbelnder, in ihrer Musik ganz aufgehender Künstler.

Doch dann der Sprung zurück. Wir sehen die hektischen Vorbereitungen, Presse-Statements, immer wieder: Muhammad Ali mit markigen Sprüchen. Über den Kampf, über Black Awareness, über Afrika, den Dschungel New York, das friedliche Zaire. Und dann der Kampf mit der Logistik, mit dem Investorenvertreter. Angespannte Momente, nicht selten sind die Nerven sichtbar zum Zerreißen gespannt. Dazwischen lakonische Momente, wenn der CB-Funk mal wieder nicht so tut, wie er soll. Großartige Szene: Der Flug nach Afrika, in einem Flugzeug voller Musiker, die das Konzert nicht abwarten können.


Wir kehren zurück in die Heimat, hört man von allen Beteiligten. Drei-, vierhundert Jahre Getrenntseins würden jetzt überwunden werden, im gemeinsamen Musizieren mit den Künstlers des "Motherlands". Zwei musikalische Linien, die sich, einst getrennt, nun wieder annähern würden, sagt einer der Musiker enthusiastisch. Von Verbrüderung ist indes nur wenig zu spüren, viel deutlicher ist da ein vorsichtiger "Culture Clash" zu spüren: In der Sprache sowieso, auch in der Musik, vom Habitus ganz zu schweigen. Keine "Black Nation", die sich hier ozeanübergreifend formuliert, US-Amerikaner hier, Afrikaner dort, im Enthusiasmus aber bestens vereint.


Und dann das Konzert. Was soll man viel sagen, außer: Wow. Bei Tanzmusik kommt's einem in die Beine, sagte schon Hegel, und der Körper lässt sich bei soviel geballter, ja, "Soul Power" lässt sich im gefüllten Saal der Pressevorführung kaum noch disziplinieren. Die Gesten und Posen, denen die vier Kameramänner atemlos hinterhechten, die Levy-Hinte im Schnitt in Form und Kontinuität brachte, sind nichts weniger als begeisternd. "Soul Power" ist, wie "Variety" zurecht bemerkte, ein Klassiker seines Genres, gleich neben "Gimme Shelter" und "Dave Chappelle's Block Party", der vor wenigen Jahren sein Berlinale-Publikum ähnlich euphorisierte.

Allein, angesichts der Unmengen von gedrehtem Filmmaterial sind die 90 Minuten des Films nur die Spitze des Eisbergs. Unweigerlich entstehen da Begehrlichkeiten nach "Soul Power". Eine freudige Nachricht kann hier verkündet werden: Eine Internet-Veröffentlichung dieses wertvollen popkulturellen Archivs stellt Cutter/Regisseur Levy-Hinte zumindest vorsichtig in Aussicht.
Thomas Groh
Jeffrey Levy-Hinte: "Soul Power". USA 2008, 93 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Kein Schonprogramm: Hans-Christian Schmids Dokumentarfilm "Wundersame Welt der Waschkraft" (Forum)

Als Hans-Christian Schmid 2003 seinen Film "Lichter" drehte, war die Grenze zwischen Polen und Deutschland noch zu, doch mit seinen Geschichten aus dem Niemandsland zwischen Frankfurt an der Oder und Slubice zeigte Schmid sehr schön, dass die Trennlinie zum guten Leben nicht durch die Oder verläuft: Durch wie viele Flüsse hindurch und über wie viele Zäune hinweg man auch stieg, immer blieb das Glück nur zum Greifen nah - für die ukrainischen Flüchtlinge, den polnischen Taxifahrer, den Frankfurter Matratzenhändler oder die jugendlichem Zigarettenschmuggler. Nicht Zäune und Grenzer, stellte sich heraus, waren das Problem, sondern die Trickster der bulgarischen Mafia, die ausgekochten Konkurrenten oder die Bank, die den Kredit nicht gewährte.


Mittlerweile sind die Schlagbäume gefallen, die Menschen können reisen, wie sie lustig sind, in Deutschland arbeiten dürfen Polen aber nicht. Frei flottieren dürfen natürlich Kapital und Waren. Und so zeigt auch Schmids neuer, mit einem deutsch-polnischen Team gedrehter Dokumentarfilm "Die wundersame Welt der Waschkraft", dass das gute Leben nicht näher rückt, auch wenn Aufträge über die Grenze in die eigene Stadt schwappen. Zum Beispiel ins polnische Gryfino, in Westpommern, zwischen Schwedt und Stettin. Hier lässt die Textil-Firma Fliegel die Wäsche der Berliner Nobelhotels reinigen. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden lang, in drei Schichten. 1.500 Tonnen 5-Sterne-Dreckwäsche werden hier im Monat gereinigt, geplättet, gefaltet. Das rentiert sich gleich doppelt, denn die Wäscherei zahlt den Arbeiterinnen nur einen Bruchteil der deutschen Löhne und lässt sich zugleich vom städtischen Heizkraftwerk umsonst mit Wasserdampf versorgen. In dem Betrieb arbeiten nur Frauen, eine einzige von ihnen ist in der Gewerkschaft. Fliegel-Chef Franz-Josef Wiesemann denkt sich das so: "Einer ist mit 2.000 oder 1.500 Zloty glücklich, ein anderer nicht mit 5.000 Euro." So spült man sich Ausbeutung weich.


Denn auch wenn die Menschen noch so froh sein können, in der grauen, halb verlassenen Grenzregion überhaupt Arbeit zu finden, ist es noch kein Spaß, sich mit umgerechnet 500 Euro im Monat durchschlagen zu müssen. Ausführlich erzählt der Film von der Arbeiterin Monika, Mutter zweier Kinder, die am Tag oder in der Nacht in der Wäscherei im Akkord schuftet und ihre erwachsene Tochter Marta einfach nicht in die Spur bekommt. Diese träumt von einem eigenen Kosmetiksalon und liegt solange ihrem Freund auf der Tasche. Eine andere Arbeiterin, Beata, muss allein drei Kinder durchbringen, ihr Freund Andrzej bekommt seine Ex-Frau nicht aus der Wohnung, und zu allem Ärger will Beatas Mutter auch noch für sechs Monate zum Blumeneintopfen nach England, mit dem Geld will sie Beatas Bruder helfen. Das alles erzählt der Film ganz unspektakulär, eher gemächlich. Wir sehen Beata und Monika mit beneidenswertem Gleichmut Bettwäsche stapeln (Leider gibt es noch keine Maschine, die Bettlaken von Kopfkissen unterscheiden kann, erfahren wir vom Firmenchef). Mal gehen wir mit zu Oma, mal schlachten wir mit Andrzej ein Schwein. Und auch wenn gerade nichts passiert, bleibt der Film bei den Leuten, und wir drehen solange Zigaretten. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Kamera es sich ein bisschen zu gemütlich hat auf den Sofas von Beata und Monika, als hätte sie den richtigen Zeitpunkt zu gehen verpasst.

Besonders skandalös oder außergewöhnlich ist das Waschprogramm der Firma Fliegel wohl nicht, vielleicht nicht einmal unsauber. Aber, und das zeigt der Film sehr sympathisch, verdammt schizophren. Man muss schon gehörige Selbstverleugnungskräfte aufbringen, um sich eine Wirtschaftslogik schönzureden, die auf solch tristen Lebensbedingungen gründet. Um um nicht den Grauschleier zu sehen, der auf den Bettlaken Berliner Nobelhotels liegt.
Thekla Dannenberg
Hans-Christian Schmid: "Die wundersame Welt der Waschkraft". Dokumentarfilm. Deutschland 2009, 93 Minuten (Alle Vorführtermine)


Ganz und gar betörend: Rudolf Thomes "Pink" (Berlinale Special)

Der eine singt, die anderen nicht. Pink, die Punk-Dichterin, die zum Vortrag der Punk-Gedichte eine schwarze Perücke trägt, hat die Wahl. Drei Männer werben, in aller Bescheidenheit, um ihr Herz. Nach dem Vortrag stehen sie da, ihren Blumenstrauß in der Hand, und harren und hoffen, dass Pink sie erhört. Ich muss mich entscheiden, sagt sie beim Essen, ich war in der Kirche und bekam den Befehl. Einfach ist es nicht, also rechnet sie zusammen, was für den einen spricht und für die anderen nicht.


Der erste Mann ist ein Missgriff. Er hat Geld und ist viel unterwegs in der Welt. Also ist Pink allein zu Haus. Vergeht nicht viel Zeit und Pink schreibt in pink "Tschau" auf den Hängeschrank in der Küche. Das war's, der Film macht mit dieser ersten Ehe recht kurzen Prozess und hängt den Mann in seinem Büro über den Dächern Berlins an den Strick. Er wird noch schnell beerdigt am Wasser, dann ist er vergessen. Kein Drama, Schwamm drüber; man merkt gleich: dieser Film hat einen für Thome wirklich ungewöhnlichen Ton, gelegentlich böse und immer charmant und er ist sich nirgends zu lang aufzuhalten gestimmt und der Rhythmus, der stimmt durchgehend auch.

Es kommt der zweite Mann dran. Für ihn nimmt sich der Film schon mehr Zeit. Nach der Hochzeit soll er Pink schwören, dass er sich nicht umbringt, falls und wenn sie ihn irgendwann einmal verlässt. Sie macht einen Ausflug mit ihm in die Staaten. Sie fahren mit dem Auto zwischen Palmen, die Kamera fährt hinterher, offensichtlich auf einem Auto, so dass das Bild, was sehr schön ist, mitvibriert. Radhe Schiff ist da, die man aus Thomes "Sonnengöttin" kennt. Sie ist Schriftstellerin und heißt Silver und am Strand vor der Villa am Meer sitzt Pink mit dem Laptop und schreibt ihre Punk-Gedichte. (Von denen hören und sehen wir nicht allzu viel und das ist ziemlich sicher auch gut so.) Thome filmt das leichthin. Er zeigt Szenen, die nicht sonderlich bedeutungsvoll tun, dann macht er einen Schnitt und es kommt wieder eine Szene, die nicht sonderlich bedeutungsvoll tut. Ungewöhnlich für Thome ist, dass dazwischen auch nichts gesprochen wird, das besonders bedeutungsvoll tut. Es ist und klingt vielmehr alles sehr leicht. Wozu auch die Musik viel beiträgt, die sich den Bildern nur anschmiegt. "Pink" ist, das merkt man bald, wirklich ein wundersamer Film.


Der zweite Mann treibt es mit Prostituierten und verschafft Pink so den Tripper. Mit vorgehaltener Waffe schmeißt sie ihn raus. Weiter erzähle ich nicht, denn es macht den ungeheuren Charme von "Pink" aus, dass meist nicht das Erwartbare geschieht. Nicht, weil die Geschichte auf Teufel komm raus Kapriolen schlägt. Der Film ist vielmehr ein Märchen, das immer nur mit und dann weitergeht. Und dann und dann. Er funktioniert auch nur deshalb, weil Thome seinen Film so ganz und gar Hannah Herzsprung anvertraut und dies blinde Vertrauen zahlt sich tausendfach aus. Pink ist, bei Lichte besehen, ein problematischer Charakter und sie war einmal, das lässt sich nicht leugnen, nicht viel mehr als eine Thomesche Kopfgeburt. Am Ende aber wird Hannah Herzsprung als Kindfrau mit Poesie und Kanone ganze Arbeit geleistet haben und ihre Pink steht eindrucksvoll da. Obwohl sie über Leichen geht, schlechte Gedichte schreibt, oft schrecklich naiv ist - und die Männer sind, mal ganz ehrlich, alle drei nicht die Offenbarung.

Darum versucht es Pink zwischendrin auch einmal mit einer Frau. Die ist Psychotherapeutin und spezialisiert auf Liebeskummer, Burn-Out, Weltschmerz und etwas Viertes. (Hab ich vergessen.) Pink geht zur Therapie, die ist erfolgreich oder jedenfalls klappt das mit der Übertragung. Sie küssen sich, sie lieben sich, bis Pink dann am Frühstückstisch sagt, im Bett hätte sie doch lieber einen Mann.

"Pink" - eine Komödie, wenn Thome je eine gedreht hat - hält lang seinen Märchenton und tut unverfroren und gleichbleibend heiter unmögliche Dinge. Vieles ist gar nicht sehr lustig, aber auch das ist ja ganz wie im Märchen. Alles endet dann im Idyll. Schwer zu sagen, ob Pink das Paradies, in dem sie landet, verdient hat. (Das Paradies sieht übrigens dem Bauernhof, auf dem Thome selbst lebt, verteufelt ähnlich. Jedenfalls soweit man das von seinem Internet-Tagebuch her beurteilen kann.) Und das Ende wäre in jedem anderen Fall genau das, was Diedrich Diederichsen bei Ozons "Ricky" so treffend "zauberhaft reaktionär" genannt hat. Nur dass die kommende Kleinfamilie hier ein Glück ist, das man den Figuren sehr gönnt. Und zwar, weil Thomes Komödie alle Regeln, die sonst gelten, einfach aufhebt. "Pink" ist, wie man längst gemerkt hat, ein ganz und gar betörender Film.
Ekkehard Knörer
Rudolf Thome: "Pink". Mit Hannah Herzsprung, Florian Panzner, Guntram Brattia, Cornelius Schwalm. Deutschland 2008, 82 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Nur grundgute Kerle in George Tillman Jr.s Biopic "Notorious" (Wettbewerb)

Der New Yorker Christopher George Latore Wallace aka Biggie Smalls aka The Notorious B.I.G. wurde Anfang der neunziger Jahre von Sean Combs entdeckt, dem Mann, der sich damals Puff Daddy nannte und heute P. Diddy heißen möchte. Smalls veröffentlichte zu Lebzeiten nur ein Album, dennoch hat er in den USA auch mehr als ein Jahrzehnt nach seinem gewaltsamen Tod 1997 noch eine beachtliche Fanbasis. Hierzulande ist Biggie weit weniger populär als sein Kontrahent Tupac Shakur. Man darf davon ausgehen, dass daran auch die Filmbiografie "Notorious" nichts ändern wird.

"Notorious" ist ein Biopic von der Stange, das das gesamte obligatorische Programm abhandelt: Jugend und Adoleszenz. Auf dem Schulhof wird der kleine Christopher gehänselt. "You're fat, black and ugly" rufen ihm die Mädchen zu. Das muss als tiefenpsychologische Motivierung für alles, was folgt, genügen. Oder nein - eine Szene später trennen sich Christophers Eltern. Der Vater war kein Guter. Das kann nur schlimme Folgen haben. Aber die Mutter ist gut. Und wird immerhin von Angela Bassett verkörpert. Weiter geht's im Schnelldurchlauf: Crackverkauf bringt mehr Geld als ehrliche Arbeit, infolgedessen wird die Schule geschmissen, dann wird die Freundin schwanger. Und wo beginnt Biggie ernsthaft zu rappen? Richtig: im Knast.


All das dauert keine 20 Minuten. Mit ihrem Tempo und ihrem fast schon ausgestellten Desinteresse an einer auch nur irgendwie komplexen Modellierung der Hauptfigur ist diese Anfangsphase noch fast das Interessanteste am Film. Was danach folgt, kann sich jeder denken: Drugs, Sex & Gangster Rap. Der Aufsteig an der Seite Puff Daddys, der im Film ein grundguter Kerl ist. Die Ehe mit der Soulsängerin Faith Evans. Die ist auch ein grundguter Kerl. Der Dauerstress mit seiner Geliebten und künstlerischen Ziehtochter Lil' Kim. Lil' Kim ist ein bisschen verrückt, aber im Grunde auch ein guter Kerl. Schließlich der über die Medien ausgefochtene Streit mit Tupac. Und am Ende kommt es so, wie es gekommen ist, damals, am 9.3.1997 in Los Angeles.

Newcomer und Hauptdarsteller Jamal Woolard macht eine gute Figur. Ansonsten ist mit dem Film nicht viel los. Biggie ist tot und kann sich gegen sein laues Biopic nicht mehr wehren. Auch nicht dagegen, dass selbst in der eigenen Filmbiografie der ewige Kontrahent Tupac, der als einziger im Film ein bisschen mehr ist als ein grundguter Kerl, als die interessantere Figur erscheint.
Lukas Foerster
George Tillman Jr.: "Notorious". Mit Angela Bassett, Derek Luke, Jamal Woolard, Anthony Mackie. USA 2008, 122 Minuten. (Alle Vorführtermine)