9punkt - Die Debattenrundschau

Nun ja, der Staat ist schon da

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2018. In der Welt kommt Christoph Nehring vom Spionagemuseum Berlin zum Ergebnis, dass Julia Kristeva wohl doch als IM arbeitete. Just in dem Moment, wo das skandalöse Verhalten des Saarländischen Rundfunks im Fall Dieter Wedel durch einen Untersuchungsbericht dokumentiert wird, weitet sich auch der Missbrauchsskandal beim WDR aus, berichten verschiedene Medien. In Zeit online nimmt Jens Jessen ein probates Mittel gegen "totalitären Feminismus" vor "hasserfüllten Atheisten" in Schutz: das Kopftuch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.04.2018 finden Sie hier

Ideen

Für die Welt hat Christoph Nehring, Leiter der Forschungsabteilung im Deutschen Spionagemuseum Berlin, die Akte Sabina nochmal genau inspiziert und kommt zu dem Schluss: Rechtlich gesehen existieren genug Beweise, um Julia Kristeva eine Tätigkeit für den bulgarischen Geheimdienst nachzuweisen - auch wenn die Akte nicht vollständig ist. Es gab auch nie eine Erpressung, allerdings wurden zahlreiche Gespräche über Belanglosigkeiten geführt. Geringfügige Manipulationen mögen ebenfalls stattgefunden haben, brisanter aber findet Nehring den Zusammenhang mit der Komdos-Kommission: "Just in die Zeit der Veröffentlichung von Kristevas Akte fiel eine der zahlreichen bürokratischen Entscheidungsschlachten um das Erbe der kommunistischen Diktatur. Wieder einmal sollte die Kommission auf administrativem Wege geschlossen, ihre Arbeit beendet werden. Die Veröffentlichung von Kristevas Überprüfung kam nur wenige Tage vor der Entscheidung. Das mediale Interesse unterstrich die Bedeutung ihrer Arbeit, Komdos überlebte auch diesen Angriff."
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Medien

Seit einigen Tagen gehen Missbrauchsvorwürfe beim WDR durch die Presse. Zunächst wurde ein nie genannter Korrespondent beschuldigt. Nun weiten sich die Vorwürfe aus. turi2 setzt Links, unter anderem zu einer Recherche im Stern und einem Artikel Kai-Hinrich Renners in der Morgenpost. Demnach hätten "mehrere hochrangige Mitarbeiter .. 'frühzeitig' Bescheid gewusst. Sowohl Tina Hassel, damals die Vorgesetzte des Beschuldigten, als auch der damalige Chefredakteur Jörg Schönenborn und die Fernsehdirektorin Verena Kulenkampff seien informiert gewesen, schreibt Renner." Und im Tagesspiegel weiß Markus Ehrenberg: "Mehrere Frauen hätten vertrauliche Gespräche mit einer Personalrätin geführt. In der Folge sei aber nicht etwa derjenige abgemahnt worden, gegen den die Vorwürfe erhoben wurden, sondern der Kollege, der den entscheidenden Hinweis gegeben habe, habe eine Ermahnung bekommen. Ihm sei verboten worden, von sexueller Belästigung in der Programmgruppe zu sprechen."

Der SR hat den vorläufigen Abschlussbericht zum Fall Dieter Wedel vorgelegt: Der besonderen Verantwortung seien die damaligen Funktionsträger nicht nachgekommen, so der Leiter der Taskforce, Bernd Radeck. Kathleen Hillebrand wundert sich in der SZ, dass damals scheinbar niemand bei der Telefilm Saar an den Aussagen der Frauen zweifelte - man bot dem Saarländischen Rundfunk an, Wedel zu kippen. Aber es war der Sender, der an Wedel festhielt.

Wenig thematisiert wurde bisher in Deutschland der Einfluss von Apple News auf Nutzerzahlen. Er ist beträchtlich, aber die Auswahl der Quellen bei Apple News ist willkürlich, schreiben Étienne Girard und Alexandra Saviana bei Marianne. Die Online-Seiten dieser Zeitschrift wurden jüngst von Apple News entfernt - und haben 35 Prozent Nutzer verloren. "Das Tool ist im Iphone bereits vorinstalliert. Der Nutzer muss nur einmal klicken, um zu den Artikeln zu kommen. Resultat: Der im September 2015 eingeführte Dienst zieht jeden Monat Millionen von Besuchern an. 'Für die größten Medien kann das 30 bis 40 Prozent des Publikums bedeuten...', schätzt Paul Guyot von Semiocast, einem Institut, das Nutzerzahlen misst."
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Gesellschaft

In einem interessanten taz-Interview mit Martin Kaul erklärt Experte Daniel Trepsdorf, warum sich der Rechtsextremismus gerade in Mecklenburg-Vorpommern so ausbreitet: die Institutionen ziehen sich zurück, etwa durch Kreisreformen, die zu riesigen Landkreisen führen. "Der Kreis Mecklenburgische Seenplatte ist doppelt so groß wie das Saarland. Es mag aus Kostengründen vielleicht Sinn gemacht haben, diesen gigantischen Landkreis zu schaffen, aber wir sehen nun, was die Folgen davon sind... Das Prinzip, dass Probleme von den Menschen vor Ort gelöst werden sollen, ist nicht mehr durchführbar. Die Ansprechpartner fehlen vielerorts. Also ist die Frage: An wen wende ich mich dann? Völkische Siedler, die Prepperszene, Reichsbürger oder autonome Nationalisten vermitteln dann oft ein Gefühl von Zugehörigkeit, das einhergeht mit geteiltem Misstrauen in den Staat. Diese Gruppen nutzen natürlich ihre Monopolstellung in diesen Räumen."

Gerade noch hat Jens Jessen gegen #MeToo ("totalitärer Feminismus"!) und die Demontage jedes anständigen Männerbilds gewütet (unser Resümee), schon spricht er sich für das Kopftuch aus (und bezieht damit die gleiche Position wie die meisten seiner Diskursgegner zu #MeToo). Wenn aus dem Neutralitätsgebot ein Verbot wird, steht es schlecht um die Freiheit des Bürgers, schreibt er auf Zeit Online mit Blick auf die in NRW geführte Diskussion um ein Kopftuchverbot in Kindergärten. Er fordert eine "Haltung gleichgültigen Wohlwollens" gegenüber spiritueller Selbstverwirklichung: "Im Fall Deutschlands hieße das für den Staat: nicht die antiislamischen Reflexe fanatisch-konservativer Katholiken oder hasserfüllter Atheisten zu bedienen, aber auch nicht die eigene christliche Tradition zu verleugnen." Ebenfalls in der Zeit haben Hasan Gökkaya und Parvin Sadigh verschiedene Standpunkte zum Kopftuchverbot zusammengetragen.
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Internet

Zerschlagt Facebook nicht, antwortet Olaf Gerstermann seinem Welt-Kollegen Ansgar Graw ebenda (unser Resümee), denn das ist nicht nur ein tiefer Eingriff in das Eigentumsrecht - und sollte in einem marktwirtschaftlichen Rechtsstaat nur im äußersten Fall geschehen - es macht auch wenig Sinn, meint Gerstermann und bemüht den Strudelwurm: "Aus einem halbwegs mittig zerschlagenen Strudelwurm werden zwei, die beide weiterleben. In ähnlicher Weise hätte man es mit zwei (oder noch mehr) Facebooks zu tun. Dem einen Monster hätte man per staatlicher Intervention ein weiteres hinzugefügt, Frankenstein lässt grüßen. Ob in einer wettbewerblichen Auslese abermals nur ein Monopolist übrig bleibt, hängt nicht zuletzt vom dann existierenden regulatorischen Umfeld ab. Durchaus denkbar ist auch ein Duopol aus zwei Playern, die friedlich koexistieren und die Nutzerdaten noch zügelloser ausschlachten, als es ein schnöder Monopolist je tun könnte."

Im FR-Gespräch mit Melanie Reinsch denkt der Ökonom Hans-Jörg Naumer indes über Alternativen zu Facebook nach - ein "Fairbook", in dem jeder Nutzer des Netzwerks Eigentümer wie bei einer Genossenschaft ist und der Gewinn nach Datenvolumen, das der einzelne geriert, untereinander aufgeteilt wird, schwebt ihm vor: "Jeder 'Genosse' ist Herr seiner Daten und kann über die Privatsphäre-Einstellungen mitbestimmen. Zum zweiten kann sich jeder am Ertrag beteiligen und hat daher ein Einkommen. Der Dienstleister wird von den Eigentümern bezahlt. Dieser stellt nur noch die technischen Möglichkeiten wie zum Beispiel Programmierung bereit oder kümmert sich um die Vermarktung. Dafür gibt es aber keinen Konflikt mehr zwischen Privatsphäre und Nutzungsrechten. Den Nutzern gehört diese Datengenossenschaft. Wer am meisten Informationen bereitstellt und die Erlöse der Genossenschaft steigert, bekommt auch mehr Ertrag aus den Daten durch das Eigentumsrecht."
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Geschichte

Für die FR hat sich der Historiker Wolfgang Kraushaar die Umstände um das Attentat auf Rudi Dutschke noch einmal genauer angeschaut. Die Annahme, dass die Berichterstattung der Bild zum Mord beigetragen habe, entkräftet er: Der 24jährige Neonazi Josef Bachmann habe ein Exemplar der "Deutschen Nationalzeitung und Soldatenzeitung" dabei gehabt. Die Brandstiftung im Rahmen der Ausschreitungen gegen den Springer-Verlag sei hingegen von einem V-Mann des Verfassungsschutzes vorangetrieben worden, so Kraushaar: "In seinen Armen trug er ein Körbchen mit sich, in dem sich Brandflaschen - sogenannte Molotow-Cocktails - befanden, die er freigiebig unter den Demonstranten verteilte. Da die Aktivisten anfangs Probleme hatten, die Fahrzeuge überhaupt anzuzünden, zeigte er ihnen, wie man das am besten macht. Sie sollten erst einmal umgestürzt werden, empfahl er ihnen, damit die unten liegenden Tanks besser zu erreichen seien und von dort am besten angezündet werden könnten. Der Fahrzeugpark verwandelte sich nun in ein regelrechtes Flammenmeer."
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Europa

Italien ist viel stärker regional organisiert, als man sich das im übrigen Europa vorstellen kann, sagt der Philosoph Roberto Esposito im Gespräch mit Klaus Georg Koch in der FAZ: Der Zentralstaat dagegen... "Nun ja, der Staat ist schon da, in vielerlei Hinsicht, aber nicht in positiver Form. So ist der Staat in Italien stark bürokratisiert. Auch in symbolischer Hinsicht ist da nicht viel Staat, wenn wir Italien etwa mit Frankreich vergleichen, wo das eine große Rolle spielt. In Italien verzichtet der Staat auf eine großartige Repräsentation, weil das durch den Faschismus diskreditiert worden ist. Auch Ideen wie 'Vaterland' oder 'Nation' blieben ziemlich am Rand."
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