Im Kino

25 Ziegelsteine auf dem Kopf

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
29.04.2021. Reha Erdems "Seni Buldum Ya" ist eine angemessen skurrile Reaktion auf die Härten des Pandemiealltags, ein luftige Groteske über zwei Filous, die ihre Mitmenschen über Zoom als "Department 4" abzuzocken versuchen. Das Berliner Arsenal 3 zeigt ab dem 1. Mai online Dokumentarfilme der ägyptischen Regisseurin Atteyat Al Abnoudy, die sich den abgehängten Menschen in den entlegensten Regionen ihres Heimatlandes widmete.
Serkan Keskin als Felek


Corona hat die Türkei hart erwischt, auch aufgrund einer schon vorher akuten Wirtschaftskrise, die inzwischen apokalyptische Ausmaße angenommen hat und die Türkische Lira fast wöchentlich in neue historische Tiefstände treibt. Ansonsten sind die Spitäler voll, die offiziellen Zahlen vermutlich gefälscht (der Gesundheitsminister musste letzten Herbst eingestehen, dass in der Statistik nur diejenigen als infiziert aufgeführt werden, bei denen die Krankheit ausgebrochen ist), seit Monaten herrscht Lockdown, inzwischen inklusive Ausgangssperren rund um die Uhr.

Die Frage, wie das Kino auf solch eine Situation reagieren kann, ist weniger zynisch als weltfremd. Reha Erdem hat es dennoch geschafft, in Istanbul einen Film zu drehen. Einen Zoom-Film genauer gesagt. Was nun, mag man schnell einwenden, sicher nicht die originellste Idee der Welt ist. Ganz im Gegenteil steht zu vermuten, dass man das Selbstbespiegelungsgenre "Filmemacher_innen im Lockdown, die Laptopkamera adressierend" nach dem Ende von Corona mindestens genauso schnell abhaken wollen wird wie die Pandemie selbst.

Bülent Emin Yarar als Kerim


Das Schöne an Erdems "Seni Buldum Ya" ist freilich, dass es kein bisschen um Selbstbespiegelung geht, und auch kaum um Corona. Gelegentlich gibt es Kamerafahrten durch ein weitgehend menschenleeres Istanbul, auf den Straßen sind höchstens Leichenwagen unterwegs und hinter blinden Fenstern vollziehen sich unsichtbare Dramen. Der Rest des Films besteht fast komplett aus statischen Einstellungen von Wohnzimmern. Die meisten sind schick aufgeräumt und einigermaßen kulturbürgerlich ausgestattet. Das von Felek (Serkan Keskin) ist allerdings ziemlich vermüllt. Gemeinsam mit seinem ebenfalls leicht verwahrlosten Komplizen Kerim (Bülent Emin Yarar) hat er einen Plan ausgeheckt: Die beiden wollen die Situation des kollektiven Lagerkollers zu ihren Gunsten ausnutzen.

Sie gehen dabei arbeitsteilig vor. Kerim hört sich, wo er nur kann, nach Gerüchten über entfernte Bekannte, Arbeitskolleg_innen, Nachbar_innen etc um, die möglicherweise gegen das eine oder andere Gesetz verstoßen haben; ein Ferienhaus ohne Genehmigung hochgezogen, eine archäologische Ausgrabung sabotiert, eine Dissertation plagiiert (wobei Felek da erst googlen muss, was das genau bedeutet) und so weiter. Felek wiederum hat in seiner Messiewohnung eine Ecke freigeräumt, an der Wand das Fantasielogo einer Fantasiebehörde ("Department 4") aufgehängt und davor einen Schreibtisch aufgebaut. Da sitzt er nun und zoomt mit den potentiellen Übeltäter_innen.

Guten Tag, dem Department ist da etwas zu Ohren gekommen, Ermittlungen sind bereits im Gang, wollen Sie sich dazu äußern, besser gleich reinen Tisch machen, und übrigens, eine Überweisung der Strafgebühren schafft die Sache schnell aus der Welt, ich gebe Ihnen am besten gleich die Kontodaten. In der Theorie ist der Plan genial, weil er sogar da Erfolg verspricht, wo er zunächst daneben zielt. Soll heißen: Selbst wenn an den Gerüchten, die Kerim aufgeschnappt hat, nichts dran ist, hat doch fast jede_r in seinem Leben irgendetwas angestellt, von dem das Department 4 lieber nichts wissen sollte. Eben deshalb bedarf es, das merkt Felek schnell, lediglich ein paar komplett unverbindlicher Suggestivfragen, um an die kleinen, dreckigen Geheimnisse und im nächsten Schritt hoffentlich auch an die "Strafgebühren" zu gelangen.

Guten Tag, dem Department ist da etwas zu Ohren gekommen...


Nur: Zu diesem nächsten Schritt will es einfach nie so recht kommen. Weil die Gespräche stets sehr bald von dem Skript abweichen, das sich der Amateurtrickbetrüger zurechtgelegt hat. Nicht weil die Opfer das Spiel durchschauen (wobei die meisten das schon auch tun), sondern weil sie schnell das Interesse an der Sache verlieren und mit dem freundlich derangierten Behördenvertreter lieber über etwas ganz anderes reden. Zum Beispiel über einen Schönheitssalon, den sie nach Corona zu eröffnen planen. Eines der vermeintlichen Opfer findet so viel Gefallen an dem Geplänkel mit Felek, dass sie ihn darum bittet, die Verhöre in eine wöchentliche Therapiesitzung umzuwandeln. Wobei ihre Definition von Therapie auf ausgiebiges Lästern über ihre Schwester hinausläuft. Andere wiederum wollen gerne ein Lied für Felek singen. Selbst Kerim führt vor der Laptopkamera einen Tanz auf. Außerdem hat er Damenbesuch, auch wenn er das beharrlich leugnet. Aber wem gehören dann die nackten Füße, die rechts ins Bild ragen?

Auch Feleks Zoomkontakte sind mehrheitlich Frauen und die meisten Gespräche haben früher oder später etwas von einem Flirt. Das mag nicht immer komplett auf Gegenseitigkeit beruhen, aber aufdringlich wird niemand, alle sehnen sich auf die eine oder andere Art nach Nähe und haben vielleicht auch deshalb Nachsicht miteinander. Schließlich verliebt Felek sich sogar unsterblich. Das geht zwar schief und bringt ihn schließlich sogar um die Früchte seiner unredlichen Arbeit, aber das heißt noch lange nicht, dass er die kurzen Minuten seines Zoomglücks bereut.

"Seni Buldum Ya" ist oft sehr lustig und vielleicht obendrein eine angemessen skurrile Reaktion auf die Härten des Pandemiealltags. Das schönste am Film ist jedoch der auch atmosphärische Unernst der Unternehmung. Erdem ist sichtlich nicht daran interessiert, eine Konzeptkomödie durchzuexerzieren. Vielmehr ruft er ein paar Freundinnen und Freunde an - viele davon bekannte Stars im türkischen Film und Fernsehen - und dreht mit ihnen zusammen eine kleine, luftige Groteske, in der jede Menge Raum ist für Improvisation, schon auch ein wenig Leerlauf und viel Musik. Nicht die schlechteste Art, als Kulturschaffende_r auf einen Lockdown zu reagieren, möchte man dieser Tage mit Blick auf niemand Bestimmten anfügen.

Lukas Foerster

Seni Buldum Ya - Türkei 2021 - Regie: Reha Erdem - Darsteller: Serkan Keskin, Bülent Emin Yarar, Nihal Yalçın, Ezgi Mola, Taner Birsel, Tilbe Saran, Esra Bezen Bilgin - Laufzeit: 82 Minuten. "Seni Buldum Ya" auf Mubi.

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Die ägyptische Filmregisseurin Atteyat Al Abnoudy


Das Berliner Arsenal 3 widmet sich im Mai in Zusammenarbeit mit dem alternativen Filmzentrum Cimatheque in Kairo einer zentralen, bahnbrechenden Figur des ägyptischen Dokumentarfilms, Atteyat Al Abnoudy (1939-2018), die dortzulande zugleich die erste Frau in diesem Metier war. Selbst aus armen Verhältnissen, verschrieb sich Al Abnoudy den abgehängten Menschen in abgelegenen Regionen ihres Heimatlandes, besonders Frauen, Kindern und Außenseitern der Gesellschaft. Vergangenen Dezember lief im digitalen "Fußnotenkino" des Arsenal bereits ein späterer Film der Regisseurin über sudanesische politische Flüchtlinge in Kairo, den sie zusammen mit dem sudanesischen Maler und Filmemacher Hussein Shariffe realisierte (mehr dazu hier), nun präsentiert die Plattform einen Auszug aus ihrem übrigen Schaffen.

Drei frühe Kurzfilme von Al Abnoudy bilden einen Höhepunkt der Auswahl. Die sengenden Bilder von "Horse of Mud" (1971) zeigen die harte, schweißtreibende Arbeit, die mit einfachsten Mitteln in einer Ziegelmanufaktur unter offenem Himmel verrichtet wird. Drei Pferde stapfen, angetrieben von der Peitsche, durch den kniehohen Morast, um die Zutaten der Lehmziegel zu legieren, die im nächsten Arbeitsschritt von Mädchen und jungen Frauen in Formen gepresst und zum Trocknen aufgereiht werden. Ein Vorarbeiter erklärt, dass die Mädchen im Durchschnitt 20, manchmal 25 Ziegelsteine zugleich auf dem Kopf balancieren - für den Film das Signal, den jungen Frauen das Wort zu erteilen. Sie träumen vom Kinobesuch und einer besseren Ausbildung, wünschen sich fort von diesem Ort. Wiederholt schneidet Al Abnoudy zurück auf das Bild des titelgebenden Schlammpferd, wie es sich mit Scheuklappen vor den Augen durch den Matsch kämpft: ein allegorisches Leitbild, in dem sich die Verhältnisse offen einbekennen, aber auch eine analogische Montage, die das Gemeinsame von Mensch und Tier hervorkehrt. Nach getaner Arbeit sehen wir die Arbeiterinnen bei der Toilette, während die Pferde sich zur Reinigung am Boden wälzen; zuletzt tummeln sich alle Beteiligten gemeinsam im nahe gelegenen Kanal. In der Schlusseinstellung macht sich eines der Pferde aus dem Staub und das Bild friert ein: Die Herabwürdigung des Menschen zum Lasttier läuft auf beider Befreiung hinaus.

Szene aus "Sad Song of Tahoua


Für "Sad Song of Tahoua" (1972) begab sich Al Abnoudy auf einen Jahrmarkt. Der Film ist ein Porträt der Schausteller, die zugleich als Unterhalter und Außenseiter der Gesellschaft erscheinen: der Vater, der seine beiden Töchtern zu Verrenkungskünstlerinnen ausbildet; der Puppenspieler, der hinter seinem Guckkasten den Kasperl macht; der Troubadour und Feuerschlucker, der die Menschenmenge hinter sich herzieht. Al Abnoudy führt einen reflexiven, melancholischen Blick zweiter Ordnung ein, der diese Zurschaustellung von Körpern, anstatt sie einfach zu verdoppeln, gleichsam von der Seite her beobachtet und dabei auch jene Blicke einfängt, die das Spektakel auf sich zieht. Der lyrische Kommentar, wonach wir "Menschen beobachten, die Menschen beobachten", führt uns die Entfernung zwischen den nomadischen Performern und ihrem sesshaften Publikum vor Augen und trägt in die dokumentarischen Bilder des Volksfests eine Spur der Entzweiung und Entfremdung ein. Darum auch ist diese Schausteller-Moritat ein trauriges Lied.

In "The Sandwich" (1975) schmuggelt Al Abnoudy eine kleine Fiktion in ihr ansonsten dokumentarisches Werk. In einem beschaulichen Dorf 600 Kilometer südlich von Kairo, an dem der Schnellzug nach Luxor niemals halt macht, mischt sich der Film unter eine Gruppe von Kindern, die eine Herde von Ziegen und Schafen durch enge Gassen aufs offene Feld treiben und dabei so viel Staub aufwirbeln, dass sich das Bild mitunter ganz in ihm verliert. Das Brot, dessen mühsamer Herstellung durch die Frauen des Dorfs wir zu Beginn beiwohnen durften, wird später von einem der Jungen zur Mittagsjause verzehrt. Das Sandwich des Titels ist ein halbierter, ausgehöhlter Laib Brot, der die Milch aus dem Euter einer Ziege aufnimmt, während diese dem Jungen die andere Hälfte aus der Tasche stibitzt. Am Ende wird die Gesellschaft der Kinder, die etwas von der harten Brotarbeit weiß, zugleich aber eine spielerische Haltung wahrt, vom Gleissignal jäh aus der Mittagsruhe aufgeschreckt. Wenn der Zug aus der Hauptstadt an ihrer Welt vorbei rast, baumeln sie, den schemenhaften Passagieren hinter verdunkeltem Glas hinterher rufend, wie zum Geleit von der Bahnschranke.

Szene aus "The Sandwich"


Ägypten kann sich nicht verändern, verkündet eine Stimme am Anfang von "Into the Depth" (1979), wenn wir nicht ins Landesinnere vorstoßen, nach Nordägypten, wo die ländliche Bevölkerung in Armut und weitgehend abgeschnitten von den Errungenschaften der ägyptischen Moderne lebt. Der Film geht selbst in die Tiefe, auf den Spuren einer christlichen Laiengemeinschaft, die in der Region Schulunterricht und Alphabetisierungskampagnen organisiert. Al Abnoudy besucht eine Reihe von Schulen im Norden des Landes, wo Mädchen und Jungen, gleich welcher religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, eine Art nationale Volkserziehung erhalten - von Lesen, Schreiben und Rechnen bis zur Körperertüchtigung. Der Optimismus des Films verdichtet sich in einem aus dem fahrenden Auto aufgenommenen Bild, das über eine betonierte Straße durch den Landstrich gleitet, unterlegt von einem Voice-over, das überall zwischen den Lehmhütten leuchtende Schulgebäude aufkommen sieht. Auch wenn die Stimme uns warnt, dass der Weg in die Tiefe nicht immer glatt verläuft, so ist sie doch getragen von einem unerschütterlichen Glaube an Erziehung: ein Licht, in dem alles sich klärt. Text und Stimme gehören Al Abnoudys Ehemann, dem Dichter Abdelrahman Al Abnoudy.

Das übergreifendes Projekt einer subalternen, der Erfahrung und den stillen Kämpfe von Frauen gewidmeten Landesgeschichte setzt sich in Al Abnoudys späterem Schaffen fort: in Filmen über das Überleben im langen Schatten des Suez-Kanals, dessen koloniale und nachkoloniale Geschichte der Gewalt sich in den 1980er und 1990er Jahren in der Verdrängung der angestammten Bevölkerung durch Tourismusenklaven fortschreibt, oder in Porträts sudanesischer Migranten, die im Gefolge von al-Bashirs Machtergreifung ins benachbarte Ägypten flohen. Sie alle lohnen den Aufenthalt, vor allem aber das Frühwerk Al Abnoudys - dringliche, schwarzweißglühende Kleinode des engagierten Dokumentarfilms - muss man gesehen haben.

Nikolaus Perneczky

Filme von Atteyat Al Abnoudy sind zu sehen vom 1.5. bis zum 8.6. auf der Plattform Arsenal 3.