Intervention

Putins Kalkül

Von Richard Herzinger
13.01.2022. Mit seinen Drohgebärden möchte Wladimir Putin einen Keil zwischen Europa und die USA treiben. Zwar trifft es zu, dass der Kreml-Chef die Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs betreibt. Ideologisch steht er jedoch der "Reichsidee" des ethnischen Nationalismus und  der "Großraum"-Vision Carl Schmitts näher als den kommunistischen Maximen, mit denen einst der sowjetische Totalitarismus seinen Anspruch begründete.
Mit seiner ultimativen Forderung nach Sicherheitsgarantien der NATO und einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa verfolgt Wladimir Putin im Kern die Absicht, die USA zum Rückzug aus Europa zu zwingen. Ohne den US-Schutzschirm und die amerikanische "Einmischung" in europäische Angelegenheiten, so Putins Kalkül, könnte Moskau nicht nur die Dominanz über die ehemaligen Sowjetrepubliken und sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa zurückgewinnen, sondern auf Dauer auch Westeuropa unter seine Kontrolle bringen.

Der Kreml knüpft damit nahtlos an die zentrale strategische Zielsetzung der Sowjetunion im Kalten Krieg an: die USA aus Europa hinauszudrängen. Dieses Kalkül stand etwa hinter Chruschtschows 1962 betriebener Installierung von Atomraketen auf Kuba: Angesichts der nuklearen Bedrohung vor der eigenen Haustür werde Washington über den Abbau seiner Präsenz auf dem europäischen Kontinent verhandeln müssen. Auch die sowjetische Aufrüstung mit SS-20-Mittelstreckenraketen in den 1970er Jahren diente dem strategischen Zweck, zwischen Europa und die USA einen Keil zu treiben. Indem die Sowjets atomare Waffen auf Westeuropa richteten, dem die andere Seite nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten, wollten sie die Kriegsführung auf dem Kontinent begrenzbar machen. Im Falle eines sowjetischen Vormarschs sollten sich die USA vor die Wahl gestellt sehen, für die Verteidigung der europäischen Demokratien die eigene Vernichtung in einem atomaren Interkontinentalkrieg zu riskieren oder sich aus einem auf Europa begrenzten Konflikt herauszuhalten.

Doch die Sowjetführung hatte die Entschlossenheit, mit der Washington zu seinen europäischen Verbündeten stand, ebenso unterschätzt wie den inneren Zusammenhalt des transatlantischen Bündnisses. Kennedys Seeblockade 1962 und die Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen in Europa im Zuge der NATO-Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre durchkreuzten die Absichten Moskaus und zwangen es zum Nachgeben. Dieser Lehre sollte sich der Westen heute im Umgang mit Putins Russland erinnern: Nur die Geschlossenheit der westlichen Demokratien und die entschiedene Demonstration ihrer Stärke kann eine aggressive autoritäre Macht von ihren Expansionsplänen abbringen.

Amerika von Europa abzukoppeln, um dieses dann selbst beherrschen zu können, war jedoch keine exklusive Vision der Sowjetführung. Auch in den Bestrebungen der europäischen extremen Rechten spielt sie von jeher eine zentrale Rolle. Exemplarisch zeigen dies die Thesen des rechtsnationalen deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt, die er 1939 in seiner Schrift "Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte" dargelegt hat, und mit der er den Vorherrschaftsanspruch des nationalsozialistischen Deutschland über Europa legitimieren wollte.

Dem Konzept eines global gültigen Völkerrechts, das auf universalen Werten beruht, setzte Schmitt den Entwurf einer aus geopolitischen "Großräumen" zusammengesetzten Weltordnung entgegen, in denen jeweils eigene, den ethnischen und territorialen Besonderheiten dieser Räume gemäße Rechtsnormen herrschen sollten. Diese würden von dem stärksten, einen "Großraum" dominierenden Volk definiert und durchgesetzt. Das universalistische Rechtsverständnis des westlichen Liberalismus betrachtete Schmitt als einen Vorwand der angelsächsischen Mächte dafür, der ganzen Welt ihre abstrakten Werte und damit ihre Herrschaft aufzuzwingen.

Carl Schmitts Hoffnung, seine nationalistische Umdeutung des Völkerrechts werde ihm im nationalsozialistischen Deutschland zu höchsten Ehren verhelfen, erfüllte sich freilich nicht. Denn die NS-Ideologie hatte für die vom Deutschen Reich versklavten Völker überhaupt keine Rechte vorgesehen. Und es war der Kriegseintritt der von Schmitt als "raumfremde" Macht denunzierten USA, der seine Träume von einem "Interventionsverbot" zugunsten der deutschen Vorherrschaft in Europa beendete. Doch im heutigen Rechtsextremismus nimmt Schmitts Schrift den Stellenwert eines kanonischen Textes ein. Und trotz seiner Nähe zum NS-Regime gilt er auch vielen Linken als ein bedeutender Staats- und Völkerrechtstheoretiker.

Putins Vorstellungen von einer in Einflusszonen gegliederten Weltordnung gleicht der "Großraum"-Vision Carl Schmitts in auffälliger Weise. Zwar trifft es zu, dass der Kreml-Chef die Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs betreibt. Ideologisch steht er jedoch der "Reichsidee" des ethnischen Nationalismus näher als den kommunistischen Maximen, mit denen einst der sowjetische Totalitarismus seinen Weltherrschaftsanspruch begründete. Hinter der Sowjetnostalgie Putins steckt eine noch tiefere historische Sehnsucht: die nach der Wiederherstellung des alten Zarenreichs und der imperialen Weltordnung des 19. Jahrhunderts.

Das Bindeglied, das diese beiden, scheinbar gegensätzlichen ideologiegeschichtlichen Quellen der russischen Großmachtambitionen zusammenführt, ist der Antiamerikanismus. Als Erzfeind werden die USA dabei nicht nur wegen ihrer überlegenen militärischen und wirtschaftlichen Kraft betrachtet. Die Vereinigten Staaten gelten antiliberalen Strömungen jeglicher Couleur vor allem auch als Hauptträger der universalistischen Idee, auf denen die liberalen Demokratien Europas gründen. Den US-Einfluss auf dem Kontinent zu beseitigen, erscheint autoritären Mächten wie Putins Russland daher als unverzichtbare Voraussetzung für die Verwirklichung ihrer Hegemonialpläne.

Es wäre somit ein fataler Irrtum, Putins Aggression gegen die Ukraine nur als ein regionales Problem zu betrachten. Diese ist für ihn vielmehr der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung, in der "Großmächte" innerhalb ihrer "Einflusszone" unbehelligt das Recht des Stärkeren praktizieren können. Am Ende soll dann eine weltpolitische Realität stehen, in der nichts mehr ohne das Plazet des Kreml geschehen kann, und in der keine Werte, Normen und Regeln mehr gelten, die seiner verbrecherischen Willkür Grenzen setzen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.