Intervention

Mit Vorliebe instrumentalisiert

Von Richard Herzinger
26.11.2021. Für Anfang Dezember hat US-Präsident Joe Biden einen "Gipfel für Demokratie" mit über hundert Teilnehmerstaaten einberufen, an sich eine gute Initiative, da die Demokratien angesichts aggressiver Autokratien in die Defensive geraten sind. Damit er gelingt, bräuchte der Gipfel eine intensive Vor- und Nachbereitung. Um so bedrückender, dass es darüber bisher kaum eine Diskussion gibt.
Für den 9. und 10. Dezember hat US-Präsident Joe Biden den bereits vor Beginn seiner Amtszeit angekündigten "Gipfel für Demokratie" mit über hundert Teilnehmerstaaten einberufen. Ziel der Konferenz, die virtuell abgehalten werden soll, ist die Stärkung der demokratischen Nationen in der globalen Konfrontation mit autoritären Mächten und die Koordination ihrer Kräfte im Kampf gegen äußere wie innere demokratiefeindliche Tendenzen. Damit es nicht bei allgemeinen Bekenntnissen zu den Idealen der Demokratie bleibt, sollen die Teilnehmer konkrete Maßnahmen beschließen, deren Umsetzung auf einer Folgekonferenz in einem Jahr überprüft wird.

Das Signal, das die Einberufung des Gipfel aussendet, ist nicht nur grundsätzlich positiv, sondern auch überfällig. Die Demokratien sind im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte gegenüber aggressiv vordringenden Autokratien wie China und Russland zunehmend in die Defensive geraten. Zugleich nimmt auch innerhalb demokratischer Gesellschaften die Bereitschaft ab, offensiv für die sie begründenden Werte und Normen einzutreten. Für einen Weckruf zur Erneuerung demokratischen Selbstbewusstseins und  Zusammenhalts ist es daher höchste Zeit.

Doch ist das geplante Projekt von vorneherein mit einer Hypothek belastet. Denn Joe Biden, der seine Präsidentschaft mit dem Vorsatz antrat, Demokratie rund um den Globus zu schützen und fördern, tat gleich in seinem ersten Amtsjahr das Gegenteil. In Afghanistan ließen die USA und ihre Verbündeten eine - wenn auch noch sehr unvollkommene - Demokratie im Stich und lieferten die sie tragenden gesellschaftlichen Kräfte der Willkür totalitärer Extremisten aus. Überdies rechtfertigte Biden den Rückzug mit einer Begründung, die seiner ursprünglichen Doktrin diametral zuwiderläuft: Militärisches Engagement der USA solle künftig nur noch unmittelbaren amerikanischen Interessen dienen. Biden redet nun somit zwei gegensätzlichen Strängen in der US-Außenpolitik gleichzeitig das Wort: dem demokratischen Internationalismus in der Tradition Franklin D. Roosevelts und dem strikt machtpolitisch orientierten "Realismus" im Geiste Henry Kissingers.

Auch in anderen Fällen wie dem U-Boot-Deal mit Australien und Großbritannien, der Frankreich brüskierte, hat Biden eher nach der Maxime "America First" gehandelt, statt sich als Stifter einer neuen globalen Einheit der Demokratien zu profilieren. Doch nicht nur die Frage, wie glaubwürdig und moralisch fundiert Bidens globales Demokratie-Engagement tatsächlich ist, stellt für den bevorstehenden Gipfel eine Vorbelastung dar. Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Entscheidung darüber, wer eigentlich alles zur demokratischen Welt zu zählen ist. Auf der vorläufigen Einladungsliste stehen auch Staaten wie Brasilien, Indien, Pakistan, Irak und die Philippinen, die zwar formell Demokratien sind, jedoch von politischen Führern oder korrupten Cliquen mit starken autoritären Tendenzen regiert werden, und solche, die wie Polen zunehmend fragwürdige rechtstaatliche Verhältnisse aufweisen. Andere Staaten wie die Türkei und Ungarn, auf die ähnliche Merkmale zutreffen, wurden bisher offenbar nicht berücksichtigt.

Regierungen mit zweifelhafter demokratischer Reputation in den Gipfel einzubeziehen, bietet indes die Chance, sie auf das Bekenntnis zu grundlegenden Werten und Normen der Demokratie festzulegen - und damit den Druck auf sie zu erhöhen, diese einzuhalten. Werden sie jedoch nicht in diesem Sinne in die Pflicht genommen, könnte ihre Einladung wie eine Aufwertung ihrer undemokratischen Praxis wirken. Auch besteht die Gefahr, dass Regierungen mit autoritärer Schlagseite das Forum des Gipfels zur Propagierung ihrer ganz eigenen Vorstellung von Demokratie nutzen und dessen intendierte Botschaft damit ins Gegenteil verkehren.

"Demokratie" ist ein dehnbarer Begriff, der von ihren Feinden mit Vorliebe instrumentalisiert wird. Differenzen dürfen bei dem Gipfel deshalb nicht verwischt werden. Dieser muss vielmehr klare Kriterien dafür definieren, was eine freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie ausmacht. Zu dem Folgekongress in einem Jahr sollten dann nur noch solche Staaten eingeladen werden, die nachweislich diesen Kriterien entsprechen. Auch darf es mit diesem zweiten Gipfel nicht sein Bewenden haben. Es sollten daraus permanente Strukturen entstehen, in denen sich Demokratien untereinander austauschen und ihre Kräfte bündeln - politisch, ökonomisch und militärisch.

Entscheidend ist zudem, dass Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsinitiativen und Bürgerrechtsbewegungen - auch und gerade aus den Ländern, deren Regierungen zu den Teilnehmern zählen - bei dem Gipfel eine zentrale Rolle spielen. Es muss deutlich werden, dass ungehindertes zivilgesellschaftliches Engagement und bürgerschaftliche Kontrolle der Mächtigen unverzichtbare Bestandteile lebendiger moderner Demokratien sind.

Damit der Impuls des Demokratie-Gipfels nicht verpufft, muss er den Beteiligten konkrete Aufgaben stellen - so auf dem Gebiet der Korruptionsbekämpfung und Unterbindung von Geldwäsche ebenso wie zum Umgang mit Investitionen, die autoritären Mächten Einfluss auf demokratische Institutionen verschaffen könnten. Zu Recht sind in den Gipfel deshalb auch große Wirtschaftsunternehmen einbezogen. Essenziell ist überdies die Entwicklung einer Strategie zur Abwehr von Desinformationskriegsoperationen autoritärer Mächte. Demokratien müssen gemeinsame Verfahren entwickeln, wie diese unterbunden werden können, ohne die Meinungsfreiheit zu beschädigen.

Soll vom "Gipfel für Demokratie" tatsächlich ein Aufbruchssignal ausgehen, bedarf er jedenfalls intensiver Vorbereitung. Umso bedrückender ist daher, dass es in der europäischen Öffentlichkeit darüber bisher kaum eine Diskussion gibt. Dabei ist der Erhalt der Demokratie und die Abwehr der Kräfte, die sie auslöschen wollen, eine nicht geringere Menschheitsaufgabe als der Kampf gegen den Klimawandel. Viele Chancen, den Trend zu ihrem Niedergang noch einmal umzukehren, werden die demokratischen Gesellschaften jedenfalls nicht mehr bekommen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.