Intervention

Wie war das in Syrien?

Von Richard Herzinger
11.09.2020. Es könnte sein, dass Wladimir Putin im Fall Belarus sein Erfolgsmodell der Repression neu erprobt: Festhalten an einem Diktator um jeden Preis, wie bei Maduro oder Assad. Indem der Kreml angeschlagenen Despoten die Haut rettet, macht er sie sich zu willfährigen Marionetten. Ein Lukaschenko, der die Fortsetzung seiner Herrschaft dem Kreml verdankt, wird damit für Putin zu einem idealen Vollstrecker seiner großrussisch-imperialen Ambitionen.
Mit bewundernswertem Mut und Beharrungswillen stellt sich die belarussische Zivilgesellschaft in immer neuen friedlichen Großdemonstrationen der Autokratie des Wahlbetrügers Alexander Lukaschenko entgegen. Doch es wächst die Gefahr, dass die Volkserhebung an verschärfter Repression durch das Regime einerseits und über kurz oder lang eintretender eigener Ermüdung andererseits scheitert.

Lukaschenko und sein Schutzherr Wladimir Putin praktizieren derzeit ein kombiniertes Vorgehen aus gezielter Repression und Abwarten, bis sich die Energien der Massenproteste erschöpfen. Führende Köpfe der Demokratiebewegung werden ins Exil getrieben, in der Erwartung, dass diese so die Orientierung verlieren und zerfallen wird.  Putin, ohne dessen Rückendeckung Lukaschenko nicht mehr an der Macht wäre, wendet in Belarus jenes Prinzip an, das sich zuletzt in Venezuela als -  im Sinne der Aufrechterhaltung der Diktatur - erfolgreich erwiesen hat: Unbeirrt  an dem Diktator festzuhalten und den Forderungen der  demokratischen Opposition keinen Zentimeter nachzugeben. In  Venezuela hatte der Kreml den Autokraten Maduro, als  er schon zur Flucht bereit war, zum Durchhalten genötigt. Und obwohl dessen Position eine Zeit lang aussichtslos schien, ist es ihm gelungen, seine Herrschaft zu festigen, während die Opposition tief demoralisiert ist.

Im Westen hatten manche Beobachter darauf spekuliert,  dass Putin es nicht riskieren werde, an einem stark geschwächten Despoten wie Lukaschenko festzuhalten, und statt dessen nach besseren Alternativen Ausschau halten würde. Zumal der belarussische Autokrat im Kreml ohnehin stets als unzuverlässiger Verbündeter galt. Doch wie war das in Syrien? Dort stand Diktator Assad bereits mit mehr als einem Bein im Abgrund, als Russland massiv eingriff und ihm die Rückeroberung seines Territoriums ermöglichte. Seitdem hoffen im Westen zahlreiche Analysten, dass Putin den von ihm im Grunde tief verachteten syrischen Autokraten demnächst fallen lassen werde. Nichts davon ist bislang eingetreten.

Gewiss ist die Lage in Syrien und in Venezuela von der in Belarus in vieler Hinsicht sehr verschieden. Doch ein Prinzip gilt für diese Länder gleichermaßen: Indem der Kreml durch sein Eingreifen angeschlagenen Despoten die Haut rettet, macht er sie sich zu willfährigen Marionetten. Ein Lukaschenko, der die Fortsetzung seiner Herrschaft ausschließlich der Macht des Kreml verdankt, wird damit für Moskau zu einem gefügigen Befehlsempfänger und idealen Vollstrecker seiner großrussisch-imperialen Ambitionen.

Zwar hat es derzeit nicht den Anschein, als könnte das Aufbegehren der Belarussen vollständig erstickt werden und Lukaschenkos Autokratie jemals wieder so funktionieren wie vor dem Aufstand. Doch gibt es für ein solches radikales Rollback mindestens zwei "klassische" historische Präzedenzfälle. In der VR China waren 1989 Millionen Bürger auf der Straße, um demokratische Reformen zu fordern, bis das Regime den Protest mit extremer Gewalt niedrschlug. Ihre totalitäre Alleinherrschaft hat die Kommunistische Partei Chinas damit auf Jahrzehnte hinaus gesichert und immer mehr perfektioniert. Mit der Gleichschaltung Hongkongs hat Peking jüngst seine ganze Entschlossenheit und Skrupellosigkeit demonstriert. Von der vor Monaten noch in voller Blüte stehenden Demokratiebewegung Hongkongs ist inzwischen fast nichts mehr übrig.

2009 gelang es dem iranischen Regime, die damalige massenhafte Erhebung gegen die Fälschung der Präsidentenwahl zu pulverisieren. Von einer ernsthaften Opposition gegen die Mullah-Herrschaft kann dort seitdem keine Rede mehr sein. Putin und die von ihm gestützten Autokraten haben sich an diesen Vorbildern offensichtlich ein Beispiel genommen - umso mehr, als die Unterdrückermächte in beiden Fällen ohne ernsthafte Gegenreaktion des Westens davongekommen sind. Zwar ist ungewiss, ob Putin und Lukaschenko bereit wären, in Belarus ein ähnliches Ausmaß an Gewalt auszuüben. Doch sollte niemand diese Möglichkeit ausschließen - zumal das Nervengift-Attentat auf Andrej Nawalny soeben gezeigt hat, dass das System Putin im Zweifelsfall zu jeder Ungeheuerlichkeit bereit ist. Es zeigt sich einmal mehr, dass der Kreml-Herrscher strategisch weit weniger erfindungsreich und flexibel ist, als es viele Politiker und Experten im Westen noch immer glauben wollen. Er ist vielmehr in höchstem Maße berechenbar: Seine einzigen ihm wirklich zur Verfügung stehenden strategischen Mittel sind Gewalt und Einschüchterung. Dagegen muss sich der Westen endlich strategisch angemessen wappnen.

So sehr zu wünschen ist, dass die belarussische Demokratiebewegung obsiegt, so wenig wahrscheinlich ist es, dass sie das auf sich allein gestellt schaffen kann. Vom Westen muss Lukaschenko und Putin daher glaubhaft klar gemacht werden, dass die Zerschlagung dieser Bewegung für sie schwerste politische und wirtschaftliche Konsequenzen haben würde. Die bisher ins Auge gefassten Gegenmaßnahmen der EU reichen jedoch nicht aus, Putin und seinen Schützling Lukaschenko abzuschrecken. Und von den USA ist in diesem Fall wenig zu erwarten: Donald Trump spielt die Rolle seines Idols Putin in Belarus und beim Nawalny-Attentat herunter.
Alle freiheitlichen Demokratien müssen begreifen, dass jede Niederlage demokratischer Bewegungen irgendwo auf dem Globus eine direkte Bedrohung für ihre eigene Existenz darstellt. Passivität vonseiten des Westen ermutigt die autoritären Mächte, ihr Herrschaftsmodell weiter auszubreiten. Und sie werden damit nicht Halt machen, bevor die pluralistische Demokratie ganz vom Erdboden getilgt ist.  Die Demokratien müssten die Verteidigung weltweiter demokratischer Bestrebungen daher dringend zu einer Priorität ihrer Außenpolitik machen. Notwendig wäre zu diesem Zweck die Gründung eines globalen Aktionsforums der Demokratien, auf dem sie ihr diesbezügliches Vorgehen koordinieren können. Denn wir befinden uns mitten in einer weltweiten Systemkonfrontation zwischen Demokratie und Autoritarismus. Nur vereint haben die demokratischen Nationen eine Chance, in ihm zu bestehen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link Zur Originalkolumne.