Im Kino

Was wir Wahnsinn nennen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
13.06.2018. Raymond Depardons erstaunlicher Psychiatrie-Dokumentarfilm "12 Tage" untersucht die Konfrontation zwischen Institution und Mensch. In Ron Sheltons "Das ist erst der Anfang"  kann man sich an fröhlichen Würde- und Geschmacklosigkeiten höchstens zweitweise erfreuen.













Spätestens 12 Tage nach einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik muss, so verlangt es das französische Gesetz, via juristischem Beschluss über den Verbleib der Patienten entschieden werden. 12 Tage, die letztlich darüber richten, ob man ein Teil der Gesellschaft bleibt oder zumindest temporär aus dieser entfernt wird. 12 Tage zwischen uns und dem, was wir Wahnsinn nennen. 12 Tage wie gemacht für das Kino von Raymond Depardon.

Der institutionelle Umgang mit psychiatrischen Fällen ist seit jeher ein Thema der französischen Fotografie- und Kinogröße Depardon. In dokumentarischen Filmen wie "San Clemente" und "Urgences" hatte er in seinem rohen Direct-Cinema-Stil die direkte Konfrontation mit dem gesucht, was weggesperrt wird. Sei es auf einer umstrittenen italienischen Psychiatrieinsel oder in einer Notaufnahme - das Chaos herrscht in diesen Filmen, die auch die Gewalt sichtbar machen, in der solche Bilder entstehen. Immer wieder adressieren die Patienten die Kamera, die bewegungslos nur registrieren kann. Depardon wurde dafür kritisiert, obwohl sein Blick stets voller Zuneigung den Menschen galt.

In "12 Tage" wählt Depardon nun ein anderes, aber nicht weniger aus den Angeln hebendes Vorgehen. Er zeigt zehn Gespräche zwischen Richter und Patient samt Anwalt. Insgesamt 72 dieser Gespräche hatte Depardon im Lauf der Dreharbeiten im Hôpital Édouard-Herriot in Lyon gefilmt. Die Namen der Patienten wurden verändert, ansonsten erreicht einen jede Geste und Regung der Gesichter ungefiltert. Immer wurde mit zwei Kameras gefilmt, wobei sich eine auf die Vertretung staatlicher Gewalt fokussiert, die andere auf den Menschen vor ihr. Man könnte beinahe von einer Duell-Ästhetik sprechen, die im Schuss-Gegenschuss nach Freiheit sucht. Auf der einen Seite der fordernde Blick nach Freiheit, ihm Gegenüber das bürokratische Bedauern ihrer Entziehung.

Die Bilder sind klarer, als in anderen Depardon-Filmen, was nicht nur an der digitalen Ästhetik liegt. Auch in "Délits flagrants" hatte er sich auf die Gesprächssituation zwischen Justiz und Verdächtigen konzentriert. Doch statt in präzisen und offenlegenden Schnittfolgen das Spiel zwischen Frage und Antwort zu strapazieren, beobachtete er dort in einer Zweiereinstellung. Aus der Arbeit mit zwei Kameras hingegen entsteht eine für den Filmemacher ungewohnte Kontrolle über die Bilder, die in den Zwischenbildern mit Eindrücken aus dem Krankenhaus eine stimmungsvolle, wenn auch etwas uninspirierte Fortsetzung findet.














Man kann sich fragen, was diese ordentliche Struktur bezweckt. Zum einen betont Depardon damit die Konfrontation zwischen Institution und Mensch. Eine um Regulierung bemühte Autorität, die einem formelhaften Prozedere zu folgen hat, trifft auf fragile Menschen in Extremsituationen. Antwort folgt auf Frage, aber nicht immer in kausalem Zusammenhang. Oft durchbrechen die Patienten die Abläufe, wollen über ihre Reue sprechen, über ihr Unverständnis, wie etwa eine Frau, die nicht versteht, warum man sie nicht gehen lässt, wenn sie doch nur keine Lust mehr auf das Leben habe und sich umbringen wolle. Die Treffen finden an formlosen Tischen in einheitlich kargen und farblosen Räumen statt. Alles wirkt steril und dumpf, ein möglicher Ausbruch, eine Sehnsucht nach Freiheit versinkt in der latenten Wahrnehmung, dass die juristische Entscheidung weniger von diesem Gespräch abhängt, als von der ärztlichen Bescheinigung, die die Richter bereits in ihren Händen halten. Ab und an beschleicht einen das Gefühl, dass der vermeintlich sorgende Staat weitaus mehr einer Behandlung bedürfte, als die Zwangseingewiesenen unter seiner sogenannten Obhut. Die Gespräche wirken zu kurz und normiert für ein so wichtiges Urteil.

Zum anderen offenbart Depardon durch die strengere Struktur auch formal das Gefangensein. Bereits die unheimlich anmutenden Travellings durch die Korridore der Klinik sowie die mit Musik von Alexandre Desplat untermalten Außenaufnahmen des vom Nebel verhangenen Krankenhauses, zeigen in ihrer Unwirklichkeit eine Distanz an. Doch Depardon verklärt nichts, er zeigt die Distanz, um sie zu überbrücken. Am Ende filmt er einen Weg, man weiß nicht genau wo, aber es ist klar, dass er zum Krankenhaus führt oder aus ihm heraus. So wie letztlich alle Wege. Wenn eine Frau, die in ihrer Arbeit beim Telekommunikationsunternehmen Orange mit Gewalt am Arbeitsplatz konfrontiert wird, aufgrund eines nervlichen Zusammenbruchs eingeliefert wird, wird klar, wie schmal die Linie zwischen seelischer Gesundheit und Krankheit ist. Es ist bezeichnend, dass diese Frau als einzige im Film zustimmt, weiter stationär behandelt zu werden und somit nicht gegen ihren Willen bleiben muss. Die Freiheit in diesem "Gefängnis" scheint größer als jene im Arbeitsleben.

Auch ist "12 Tage" ein erstaunlicher Film über rhetorische Logik. Nicht umsonst wurde der Wahnsinn in philosophischen und religiösen Betrachtungen oft als eine der nüchternen Wahrnehmung verborgene Wahrheit betrachtet. Die Patienten besitzen, wenn es um ihre Freiheit geht, selbst bei schwerwiegenden Erkrankungen und wenn sie sonst eher Unzusammenhängendes von sich geben, große Klarheit. Sei es mit Pathos, Wut, Verzweiflung oder intellektueller Deutlichkeit, der Ruf nach Freiheit ist tief in ihnen verankert und vielleicht wirklich genuin menschlich. In Sekunden wirken sie frei in ihrem Plädoyer für Freiheit. Man folgt ihren gedanklichen und intuitiven Wendungen, man hört zu, sieht zu, versucht zu verstehen und tatsächlich offenbart sich durch mögliche Vorurteile und widersprüchliche Passagen hindurch eine Argumentation, der man in ihrer Verletzlichkeit mehr folgen kann, als den Regeln des Staates. Depardon zeigt, dass Logik auch aus Notwendigkeit und Empathie entstehen kann.

Wie gewohnt entzieht er sich allerdings einer wertenden Positionierung gegenüber des Verfahrens. Ganz im Gegenteil zeigt er auch die Menschlichkeit der zuständigen Richter und Richterinnen. Ihr Kampf mit der Kommunikation, ein aufkommendes Lachen ob der Absurdität einer Antwort oder das Ringen um Verständnis für die eigene Arbeit. Aus all dem entsteht ein im besten Sinne störender Film, der sich weniger mit der Entscheidung über Freiheit oder Gefangenschaft beschäftigt, als mit den institutionellen und menschlichen Zuständen, die solche Entscheidungen verlangen oder ad absurdum führen.

Patrick Holzapfel

12 Tage - Frankreich 2017 - OT: 12 jours - Regie: Raymond Depardon - Laufzeit: 87 Minuten.

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Rechtzeitig vor dem deutschen Kinostart hat der in den USA bereits letzten Dezember sang- und klanglos an den Kinokassen untergegangene und von der Kritik durchaus zurecht in der Luft zerrissene "Das ist erst der Anfang" doch einen Hauch von Relevanz erlangt. Und zwar dank der #metoo-Diskussion, die nun auch Morgan Freeman erfasst hat: Gerade war der 81-jährige noch everybody's Darling, oder zumindest der favorite elder Statesman of Cinema (und außerdem zweifacher Gott-Darsteller), aber jetzt, seit einem CNN-Bericht von Ende April, ist er plötzlich nur einer von vielen übergriffigen älteren Männer, vor denen sich Frauen, die das Pech haben, mit ihnen arbeiten zu müssen, gegenseitig warnen.

Der Witz an der Sache ist nun, dass dieses neue Image von Morgan Freeman als einem aufdringlichen dirty old man ganz gut zu seiner Rolle in "Das ist erst der Anfang" passt. Auch als alternder Playboy Duke Diver lässt er, wenn eine Frau in Hör- oder nur Sichtweite ist, keine Gelegenheit zum dummen, sexistischen Spruch aus und kommt dabei nicht auf die Idee, dass er damit vor allem deshalb durchkommt, weil er nunmal der Boss (eines Luxusressorts in Palm Springs) ist. Zugegeben: Auch der Film kommt nicht wirklich auf diese Idee. Oder auf irgendeine andere.

Nun sind ideenarme Filme nicht zwingend die schlechtesten. Und wenn es in der Welt auch weiterhin vor dummen, sexistischen Sprüchen nur so wimmelt, besteht kein Anlass, sie aus dem Kino zu verbannen. Tatsächlich hat der Film, solange er sich darauf beschränkt, ambitionslos das Treiben von Duke, seinen Kumpels und seinen Gespielinnen zu verfolgen, einen gewissen, wenn auch keineswegs weltbewegenden Charme. Das Ressort, das Duke leitet, mag aus einer Perspektive ein toxic Space sein, aus einer anderen, gleichberechtigten, kann man es als einen gemütlichen Ort beschreiben, an dem consenting Adults auch noch im fortgeschrittenen Alter ihren hauptsächlich erotischen Interessen nachgehen können und dabei eine teils durchaus sympathische Würde- und Geschmacklosigkeit an den Tag legen dürfen.

















Es geht um entspannte Menschen in etwas zu bunter Kleidung, die das Leben jenseits des Arbeitswelt, der familiären Verpflichtungen und der Monogamie genießen, die sich tagsüber gegenseitig beim Golfspielen betrügen und abends gegenseitig in der Badewanne auflauern. Wenn Tommy Lee Jones als Leo McKay im Ressort eincheckt, buhlen gleich drei Bewohnerinnen mit fröhlichem Overacting um den smoothen Neuankömmling. Und weil der sich nicht zwischen ihnen entscheiden kann, führt er, begleitet von Freemans neidischen Blicken, gleich alle drei zum Dinner vorm Taco Truck aus. Das alles spielt sich ab vor einer Kulisse der etwas zu grell ausgeleuchteten, dezent absurden Künstlichkeit. Die Handlung ist in der Weihnachtszeit situiert, in gefühlt jeder zweiten Einstellung ist irgendwo giftgrüne oder bunt glänzende Plastikdeko platziert. In einigen wenigen Momenten, vor allem dann, wenn die Gesichter der Altstars von glitzernder Weihnachtsbeleuchtung illuminiert werden, schwingt sich der Film zu so etwas Ähnlichem wie visueller Schönheit auf.

Aber hilft alles nichts, letztlich ist die Deko mitsamt der hedonistischen Rentner und Frührentner, die sich in ihr tummeln, eben doch nur das: Dekoration. Denn leider ist Regisseur Ron Shelton (einst, etwas in dieser Tonlage wäre auch hier eine deutlich schönere Option gewesen, ein Spezialist für Sportfilme) einerseits wild entschlossen, eine Geschichte zu erzählen; andererseits aber stellt er sich bei allen Versuchen in dieser Richtung schon fast spektakulär ungelenk an. Schon der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Alpha-Rentnern Freeman und Jones kommt kaum in Schwung und kulminiert in einem lahmen Lambadawettbewerb, der immerhin die mangelnde Flexibilität aller Beteiligten eindrücklich vorführt. Komplett aus der Bahn geworfen wird der Film hingegen durch einen absurd konstruierten Gangsterfilmplot. Freeman scheint da für einmal den richtigen Instinkt zu haben: Die ersten paar Anschläge, die ein Auftragskiller auf sein Leben verübt, ignoriert er einfach. Auf die Dauer hilft das leider nichts, und bald witzelt er sich durch Schießereien und Autoverfolgungsjagden, die eine Vorabendpolizeiserie im Öffentlich-Rechtlichen nicht lustloser hätte inszenieren können.

Irgendwann wird dann auch noch Rene Russo entführt. Die spielt Suzie Quinces, eine Figur, für die sich das Drehbuch andauernd neue Demütigungen ausdenkt: Zunächst ist sie eine knallharte Managerin, die Freemans lax geführtes Ressort betriebswirtschaftlich durchoptimieren soll, aber tatsächlich kann sie nicht einmal ihren winzigen Hund im Zaum halten, irgendwann wird sie dann eben entführt, muss zu allem Überfluss zwischendurch als love Interest für gleich beide männlichen Hauptdarsteller herhalten und eine der zähen Actionsequenzen in geblümten Leggins absolvieren.

Lukas Foerster

Das ist erst der Anfang - USA 2017 - OT: Just Getting Started - Regie: Ron Shelton - Darsteller: Morgan Freeman, Tommy Lee Jones, Rene Russo, Joe Pantoliano, Glenne Headly, Sheryl Lee Ralph, Elizabeth Asley - Laufzeit: 91 Minuten.