Essay

In der brennenden Falle

Von Peter Mathews
07.10.2022. Vor hundert Jahren wurde die Vielvölkerstadt Smyrna in Brand gesteckt.  Heute feiert die Türkei diese Tragödie als Befreiung von Izmir, ein fast vergessene Katastrophe in dem an Katastrophen so reichen 20. Jahrhundert. Giles Milton erzählt in "Das Inferno von Smyrna", wie diese Stadt, dieses Inbild der Levante, ausgelöscht wurde. Dass die Türkei diese Geschichte aufgearbeitet hätte, lässt sich nicht behaupten.
Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Die Anderen schreiben Tagebuch. Der britische Historiker und Bestsellerautor Giles Milton hat anhand von historischen Dokumenten, vor allem aber aus Aufzeichnungen und Tagebüchern von Augenzeugen, den Untergang der Hauptstadt der Levante nachgezeichnet. Sein Bericht setzt zehn Jahre vor dem Inferno ein, als das heutige Izmir eine Vielvölkerstadt war, in der Griechen, Armenier, Juden und Türken friedlich miteinander lebten, Geschäfte machten und das Leben feierten. Die Levantiner waren meist reiche Kaufleute europäischer Herkunft, denen der Sultan "Kapitulationen" gewährte: sie brauchten auf ihre Im- und Exportgeschäfte weder Zoll noch Steuern zu bezahlen. Dadurch hatten die Geschäfte in der Stadt Auslagen voll europäischer Waren, man kleidete sich nach Pariser Chic und feierte in großbürgerlichen Villen im Vorort "Paradise".

Smyrna vor dem Brand. Alte Postkarte.



Der Originaltitel des Buches - "Paradise Lost" spielt auf das gleichnamige Buch von John Milton an, der 1667 die politische Situation Englands in Blankversen die Vertreibung aus dem Paradies inszenierte. Ähnlich dramatisch zeichnet Giles Milton die Geschichte Smyrnas während des Ersten Weltkriegs und im anschließenden Bürgerkrieg nach, als Griechenland - unterstützt von Großbritannien - die Idee von einem griechischen Großreich verfolgte.

Denn als das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach, führte dies zur fatalen Einschätzung, man könne die Türkei bis Ankara erobern. Das "Komitees für Einheit und Fortschritt" der Jungtürken hingegen verfolgte seit 1913 eine pan-türkische Politik, das heißt, sie wollten die Nichtmuslime aus dem osmanischen Reich vertreiben, um die Türkei zu schaffen. Dieser Konflikt führte die Armee von Enver Pascha 1915 in eine militärische Katastrophe bei Sarikamis und zur millionenfachen Vertreibung und dem Völkermord an den Armeniern. Milton findet im Britischen Staatsarchiv den Beleg für den Plan des jungtürkischen Triumvirats unter Talat Pascha für den Genozid an den Armeniern. Die Idee einer ethnisch reinen Türkei war letztlich auch der Geist, der in der Vernichtung von Smyrna endete.

Ab 1919 setzte die griechische Armee mit Unterstützung Großbritanniens und den "neutralen" USA zur Eroberung Anatoliens an. Man wollte die Rest des osmanischen Reichs unter den Griechen und den Großmächten aufteilen. 1919 verübten griechische Soldaten Hetzjagden auf die türkischen Bewohner Smyrnas, die in einem Massaker mit vermutlich 400 Toten endeten und letztlich das Ende der gegenseitigen Toleranz und Achtung bedeuteten, die diese Stadt über Jahrhunderte ausgezeichnet hatte. Die Rache sollte folgen.

Die griechischen Invasoren wurden 1922 von der inzwischen von Atatürk organisierten Befreiungsarmee geschlagen. Nach ihrer Niederlage in der Wüste Anatoliens flüchtete die griechische Armee nach Smyrna als rettenden Hafen, um mit Schiffen das Land zu verlassen. Die türkische Armee rückte schnell nach und besetzte die Stadt am 6. September 1922 ohne Gegenwehr. Die Stadtverwaltung hatte sich aufgelöst und die meisten Levantiner waren auf die Schiffe der Alliierten oder ihre Sommerhäuser auf den Inseln der Ägäis geflohen. Mit der Armee kamen Tausende von sogenannte "Tschetten" in die Stadt, bewaffnete Räuberbanden, die nichts anderes als Rache und Beute im Sinn hatten.

Milton schildert in einer wahrlich erschütternden Chronik die Geschehnisse jedes einzelnen Tages vom 6. bis 30. September 1922. Wenige Tage nach der Eroberung begannen die Soldaten und Räuber die Stadt zu plündern und die nichtmuslimischen Bewohner zu ermorden und zu vertreiben. Der Hafen und die Kais waren voller Leichen. Türkische Soldaten kippten unter Anleitung ihrer Offiziere Fässer mit Benzin und Diesel in die Häuser, die sie anschließend in Brand setzten.

Smyrna, so der Befund von Milton, wurde von der türkischen Armee  - und nicht wie in der türkischen Geschichtschreibung behauptet von Griechen und Armeniern - angezündet. Die Bewohner und in die Stadt Geflüchteten saßen in der brennenden Falle. Zehntausende drängten sich am Kai, versuchten die im Hafen liegenden Schiffe zu erreichen. Doch die mit den Griechen alliierten Briten und die zum Schutz der US-Bürger in der Bucht liegenden Kriegsschiffe nahmen nur die eigenen Landsleute auf. Der in der Stadt anwesende Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte Kemal Atatürk ließ seine Soldaten gewähren und ordnete die Deportation der wehrfähigen männlichen Einwohner der Stadt nach Anatolien an. Er unternahm nichts, der Anarchie, der Brandschatzung und dem Massenmord Einhalt zu gebieten.

Die Augenzeugenberichte der Greuel, die sich im September 1922 abspielten, sind auch nach hundert Jahren verstörend. Einzig ein amerikanischer Methodistenpfarrer, der Leiter des CVJM-Heims in Smyrna Asa Jennings ergriff eine humantäre Initiative. Unerschrocken überzeugte er einen italienischen Kapitän, mit seinem Schiff "Constanopoli" am 20. September 2000 Flüchtlinge nach Lesbos  zu bringen. In Lesbos gelang es ihm mit Tricks und Geschick, eine Armada von 17 Schiffen zu organisieren. Er wurde von der griechischen Marine zum "Vizeadmiral" ernannt und brachte in den folgenden Tagen die Evakuierung von 300.000 Menschen zustande. Sie wären sonst dem Brand schutzlos ausgeliefert gewesen.

Am 30. September 1922 hat die Vielvölkerstadt Smyrna aufgehört zu existieren. Die türkischen Streitkräfte hatten den Bürgerkrieg gewonnen. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Smyrna 100.000 Menschen - vor allem Griechen, Armenier und Juden - getötet und 160.000 ins Landesinnere deportiert wurden. Die Überlebenden wurden im Rahmen des Völkeraustauschs nach Griechenland vertrieben. Die aus den Trümmern der antiken Vielvölkerstadt Smyrna  neu entstandene Stadt, die die Türken Izmir nannten, hat heute über 4,4 Millionen Einwohner. "Wikipedia" erzählt den Untergang als Folge der Invasion der Griechen und eines "Brands im Armenviertel". Von einer Aufarbeitung der Geschichte des Infernos in der Türkei ist nichts bekannt, wie auch  der Völkermord an den Armeniern noch immer kein Thema ist.

Am hundertsten Jahrestag des Untergangs fand in Izmir ein von fast zwei Millionen bejubeltes  Konzert des Pop-Sängers Tarkan im Rahmen der Feiern zur "Befreiung von Izmir von den Besatzern " statt. Die Menge sang die republikanische Hymne  "In den Bergen von Izmir blühen die Blumen. Es lebe Mustafa Kemal Pascha." Es erschien wie die trotzige Feier einer von Islamisten bedrohten Republik. Atatürk als Retter. Izmir ist heute die Hochburg der säkularen Bewegung in der Türkei. Viele Einwohner Izmirs wünschen sich Freundschaft mit den Griechen. Wer es sich leisten kann, kauft sich ein Haus auf einer der griechischen Inseln in der Nähe, für den Fall, dass die republikanischen Freiheiten durch die AKP weiter eingeschränkt werden.

Staatspräsident Erdogan droht aktuell den Griechen wieder mit Krieg  wie 1922. Er sagte mit Blick auf die griechischen Inseln in der Ägäis: "Wir kommen plötzlich in der  Nacht."

Tarkan stimmte auf dem Konzert  sein "Es vergeht, es vergeht, nur Geduld." an, das in der Türkei gern als Prophezeiung der Niederlage Erdogans bei den nächsten Wahlen im Juni 23 gehört wird.

Auch das Buch der Geschichte ist inzwischen interaktiv.

Peter Mathews

Giles Milton: Das Inferno von Smyrna - Wie der Traum einer Vielvölkerstadt in Flammen aufging. Aus dem Englischen von Tobias Gabel. Wbg Theiss, Darmstadt 2022, 464 Seiten, 38 Euro. (Bestellen bei eichendorff21.)