Essay

Neokoloniale Verachtung

Von Pascal Bruckner
26.02.2016. Eine Gruppe von "Experten" nimmt ihren ganzen Mut zusammen, um kollektiv gegen die Meinungsäußerung eines für sich sprechenden Autors zu protestieren. Kamel Daoud wird durch ihre Petition zum Apostaten gestempelt. Er hat sich die Freiheit genommen, die eigene Sphäre zu kritisieren, ein Recht das ihrer Meinung nach nur westlichen Intellektuellen zusteht. Eine Antwort an die Adresse der Wachhunde der Fatwa.
Wie bringt man eine originäre Stimme zum Schweigen? Mit zwei Mitteln: erstens durch physische Drohungen, zweitens durch moralische Abwertung. Beides geschieht zur Zeit dem Schriftsteller Kamel Daoud: In Algerien hat ein salafistischer Imam im Jahr 2015 mit einer Fatwa die Exekution Daouds gefordert. In Paris hat ihn ein Kollektiv von Historikern und Soziologen in einer Petition in Le Monde vom 12. Februar beschuldigt, "islamfeindliche Klischees" zu verbreiten. In einem Debattenbeitrag vom 31. Januar (hier die Übersetzung der FAZ) zu den Ereignissen von Köln hatte Daoud das pathologische Verhältnis vieler islamischer Länder zu Sexualität und den Kulturschock bei jungen Maghrebinern angesichts von Frauen, die sich frei auf der Straße bewegen, beschrieben.

Er ist nicht der erste, der die Dinge so liest: Von Tahar Ben Jelloun bis Fethi Ben Slama haben viele Schriftsteller oder Psychoanalytiker aus Nordafrika einen Blick auf das sexuelle Elend, die Unterdrückung der Frauen, das Verbot der Homosexualität in der arabischen Welt geworfen. Aber Kamel Daoud hat diese Analyse als einziger auf die Ereignisse von Köln angewandt.

Es geht den Autoren der Petition nicht darum, ihre abweichende Meinung zu artikulieren oder den Standpunkt Daouds zu nuancieren, der sich übrigens in der Folge der Petition aus der öffentlichen Debatte zurückzog. Es geht darum, ihm den Mund zu verbieten, indem man ihn des Rassismus beschuldigt. Mit dieser Petition befindet man sich nicht mehr in der - absolut legitimen - intellektuellen Debatte, sondern im Feld der Dämonologie. Die Ereignisse von Köln seien so schwerwiegend, dass man nicht von ihnen sprechen soll. Die Petitionäre haben auch nichts dazu zu sagen, außer dass man nichts sagen darf, weil man sonst in die 'Banalisierung rassistischer Diskurse' verfällt. Eine Art Verbot lastet über den Interpretationen, sobald es um Menschen aus dem Nahen Osten oder Nordafrika geht.

In einer unglaublichen Volte, die für die ganze multikulturelle Linke charakteristisch ist, wird der Antirassismus über die Vergewaltigung, der Respekt für Kulturen über den Respekt der Individuen gestellt. Die deutschen Frauen hätten halt mehr als eine Armlänge Abstand halten sollen, wie es die Bürgermeisterin von Köln nach der Silvesternacht empfohlen hat.

Nun wird also erneut der Begriff der "Islamophobie", der im kolonialen Vokabular des 19. Jahrunderts geprägt und von den Mullahs aus Teheran zur ideologischen Waffe geschmiedet wurde, zum Instrument der Zensur gemacht. Was bedeutet dieser Terminus? Dass jede Kritik am Islam rassistisch ist. Denn die Religion des Propheten ist als einzige unberührbar: Man hat das Recht das Christentum, das Judentum, den Buddhismus, den Hinduismus zu kritisieren, den Papst, die Rabbiner, den Dalai Lama zu verspotten, aber nicht den Islam, der sich in den Mantel der verfolgten Unschuld hüllt. Vor allem sollen wir ihn nicht nach unseren westlichen Kriterien beurteilen, sondern ihm die Klausel der verfolgtesten aller Religionen zugute halten und all seine Exzesse übergehen.

Mit dem Fall Daoud erleben wir eine Neuauflage des Falls Rushdie aus dem Jahr 1989: die Fabrikation eines weltweit geächteten Meinungsverbrechens, das dem der "Volksfeinde" in der ehemaligen Sowjetunion gleicht. Intellektuelle, aber auch religiöse Muslime - Frauen wie Männer -, die es wagen, ihr eigenes Bekenntnis zu kritisieren, den Fundamentalismus zu attackieren, eine theologische Reform und die Gleichheit der Geschlechter zu fordern, sollen zum Schweigen gebracht werden.

Als Renegaten und Abweichler liefert man sie dem Zorn ihrer Mitgläubigen aus. Man wirft ihnen vor, der kolonialen oder imperialistischen Ideologie anheim gefallen zu sein und wehrt so jede Hoffnung auf Veränderung in der Welt des Islams ab - mit dem Segen von 'Experten', die in Medien und Institutionen bestens verankert sind. Und es wird deutlich, dass die Inquisitoren nicht nur auf Kamel Daoud zielen, sondern auf das ganze franko-maghrebinische intellektuelle Milieu, und besonders auf Rachid Boudjedra und Boualem Sansal.

Ihre Rhetorik ist nicht neu: So funktionierte schon die Erpressung der nicht-kommunistischen Linken durch die alte stalinistische Garde, wenn es etwa darum ging, eine Bilanz der Sowjetunion zu ziehen. Seinerzeit sollte man "das Spiel der Imperialisten" nicht mitspielen. Alter Hass unter neuen Bannern. Der "Islamophobie"-Vorwurf bekommt das Gewicht einer Exkommunizierung.

Das Verbrechen Kamel Daouds ist das des Apostaten und Verräters. Er ist schuldig, sein eigenes Lager verraten und gesagt zu haben, dass die europäische Kultur auch eine der Emanzipation ist. Was dem westlichen Intellektuellen erlaubt ist - sich von seinen Wurzeln zu distanzieren - ist dem maghrebinischen Intellektuellen verboten. Er muss im Einklang mit seiner Herkunftskultur leben und seine Giftpfeile für das verfluchte Europa reservieren.

Vor einigen Jahren wurde die niederländische Politikerin somalischen Ursprungs Ayaan Hirsi Ali von einigen angelsächsischen Intellektuellen des "Fundamentalismus der Aufklärung" bezichtigt (mehr hier), weil sie sich erfrechte, den muslimischen Machismo anzuprangern, was ihr ein Todesurteil einbrachte und ihr Exil in den USA erzwang. Sie hatte in den Augen der so Wohlmeinenden den unerhörten Tort mangelnder Verwurzelung begangen, weil sie ihre Religion verlassen, sich über den Koran lustig gemacht hat und nicht mehr an Gott glauben wollte. Majestätsbeleidigung!

Im gerührten Ton reicher Menschen, die den Armen erklären, dass Geld nicht glücklich macht, errichten unsere Petitionäre eine Art legaler Apartheid in der intellektuellen Arbeitsteilung: Uns europäischen Autoren und Intellektuellen im Komfort unserer Metropolen das Joch unserer Freiheit und die traurige Pflicht, Europa, das Recht auf Unglauben, Selbstverwirklichung, Geschlechtergleichheit zu geißeln, und euch die Freuden der Sitten und Gebräuche, der Zwangsheiraten, der Todesstrafe für Apostasie, des Glaubenszwangs.

Hinter diesem fadenscheinigen Antirassismus sieht man die notdürftig als Respekt für den Islam verkleidete neokoloniale Verachtung hervorlugen. Dissidenz ist dort verboten. Die einstigen Verdammten dieser Erde dürfen niemals ins Zeitalter der Selbstverantwortung eintreten. Selbstkritik, Selbstironie bleiben unser exklusives Privileg.

Was sich hier abzeichnet ist eine neue "trahison des clercs": Statt den Rebellen der arabisch-muslimischen Welt zu helfen, Fanatismus und Puritanismus zu bekämpfen und das Reich der Vernunft auszudehnen, begnügen sich europäische und nordamerikanische Intellektuelle, die domierenden Kräfte am anderen Ufer des Mittelmeers zu unterstützen und die Frömmelei zu kautionieren.

Wenn es einige als Forscher oder Soziologen verkleidete Wachhunde der Fatwa schaffen, einen großen Autor wie Kamel Daoud zum Schweigen zu bringen, dann droht die Gefahr, dass sie weitere freie Denker der muslimischen Welt entmutigen. Darum ist es für jeden, der in unseren Ländern einen gemäßigten Islam konstruieren will, so wichtig, abweichende Stimmen zu ermutigen und zu beschützen. Es gibt keine heiligere Sache im Interesse der künftigen Generationen.

Pascal Bruckner

Übersetzung: Thierry Chervel