Essay

Von Feinden umstellt

Von Thierry Chervel
16.05.2018. Statt es den Populisten gleichzutun und immer nur andere - mit Vorliebe das Internet - für die Krise der demokratischen Öffentlichkeit verantwortlich zu machen, sollte die Mitte auf sich selber blicken. Der Populismus ist älter als das Internet. Auszug aus einer Festschrift zum 70. Geburtstag Winfried Kretschmanns.

Dieser Essay ist ein Auszug aus der Festschrift "Gegenverkehr", die heute dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zum 70. Geburtstag überreicht wird (alle Angaben Artikelende). Herausgeber sind Ralf Fücks und Thomas Schmid. Aus dem gleichen Anlass findet im Staatsministerium Stuttgart heute ein Symposion statt (mehr hier): "Gegenverkehr - Demokratische Öffentlichkeit neu denken." (D.Red)

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In erstaunlicher Parallelität sind die Öffentlichkeiten weltweit durch das Gift des Populismus zugleich aufgestört und gelähmt worden. Das Phänomen der Konjunkturen kannte die Geschichte ja schon lange zuvor - eine der Fragen des Jahres 2018 lautet sicher: Warum gab es überall ein 1968, obwohl die Voraussetzungen in den einzelnen Ländern doch denkbar unterschiedlich waren? Was verband Mexiko und die ČSSR , China und Frankreich, Japan und die USA außer der Tatsache, dass die Jugend gegen die Alten rebellierte? Was verbindet heute die Philippinen mit Polen, Venezuela mit Ungarn, die USA mit der Türkei?

Überall Populisten und Autokraten, gleichgeschaltete Staatsmedien, willfährige Privatmedien, vereinzelte Mutige im Gefängnis oder Exil und die Entfesselung im Netz. Selbst die größten und traditionsreichsten Demokratien schweben in Gefahr, vom Populismus gekapert zu werden. Man kämpft mit dem Bild der Pandemie, sieht morphogenetische Felder oder erahnt ein unterirdisches Rhizom, das an weit auseinanderliegenden Orten eine "illiberale Wende" auslöst, wie Jacques Rupnik das in der Zeitschrift Transit genannt hat. Vielleicht hilft, wie bei einem klassischen Horrorfilm, ein Schnitt vom beunruhigenden, aber nicht leicht zu entschlüsselnden Panorama hin zum Einzelnen, um zu studieren, wie das Gift in die Diskurse dringt. Nehmen wir die belgische Politologin Chantal Mouffe, eine höchst respektable Intellektuelle, die vor Jahrzehnten zusammen mit ihrem Mann Ernesto Laclau den theoretischen Klassiker "Hegemonie und radikale Demokratie - Zur Dekonstruktion des Marxismus" geschrieben hat. In dreifacher Hinsicht ist sie interessant: Sie ist eine klassische Linke, sie ist eine intellektuelle und einflussreiche Verfechterin des Populismus und sie ist mit 74 Jahren nicht gerade die Jüngste.

In Deutschland leidet die Debatte über den Populismus allein schon daran, dass ihr Blick ausschließlich nach rechts geht. Ob man "mit Rechten reden" solle, fragt eines der erfolgreichsten intellektuell-politischen Bücher, die 2017 in Deutschland erschienen sind. Da ist der Fehler schon passiert. Denn wer nur in eine Richtung blickt, übersieht die Feinde im eigenen Rücken. Die Demokratie ist von vielen Feinden umstellt. Sie kommen von links, von rechts und von oben - wenn man religiöse Fundamentalisten so verorten will.

Der Populismus ist auch nicht einfach eine "rechte" Ideologie. Mouffe ist die erste, die das offen ausspricht: Immer wieder verteidigt sie - wie auch der in deutschen Feuilletons gefeierte Didier Eribon - die Klientel des Front National und sogar die Partei selbst, die für sie zum "agonistischen" Spiel der Demokratie gehört, also zum harten Wettbewerb unterschiedlicher politischer Konzeptionen, die die Demokratie überschreiten oder zumindest radikalisieren wollen: "Ich glaube nicht, dass der Front National die fundamentalen Institutionen der Demokratie gefährdet", sagte sie im Interview mit dem Figaro. "Wer behauptet, der Front National sei keine republikanische Partei, ist nicht kohärent. Denn wenn dies der Fall wäre, müsste man ihn verbieten. Der Front National teilt nicht meine Interpretation der Werte und der Gleichheit. Aber seine Vision hat einen Platz in der agonistischen Debatte."

Man könnte die Linke Chantal Mouffe die Pasionaria der spanischen Podemos-Bewegung nennen. Mouffe ist zudem eine Inspiratorin des linken französischen Politikers Jean-Luc Mélenchon, der 2017 in der ersten Runde der französischen Präsidentenwahl auf knapp 20 Prozent der Stimmen kam - und damit knapp hinter Emmanuel Macron oder Marine Le Pen lag. Wer Populismus nur "rechts" ausmachen will, verkennt nicht nur, dass viele populistische Bewegungen "linke" Programme der sozialen Umverteilung ins Werk setzen wollen, aus denen sie nur bestimmte Kategorien der Bevölkerung als "Fremde" ausschließen wollen. Wer so denkt, übersieht auch die oft gemeinsamen theoretischen Ursprünge aller Populismen. Beide Seiten waren schon immer wechselseitig voneinander fasziniert, nicht selten haben Diskurse der Linken die Aktionen der Rechten befruchtet. Stephen Bannon, der geschasste Ideologe Donald Trumps, sagte in einem programmatischen Statement, Trump habe nichts Anderes vor als die "Dekonstruktion des Verwaltungsstaats", und nahm damit eine Vokabel in Anspruch, die im Poststrukturalismus entwickelt wurde und die darauf zielte, die "großen Erzählungen" abzuwickeln. So hatte es der arme Jacques Derrida sicher nicht gemeint!


Die Linke lernt von der Rechten

Die Vorstellung, dass Realität eine Konstruktion sei, die sich auch dekonstruieren lasse, sieht Kurt Andersen in seinem Buch "Fantasyland - How America Went Haywire" (Fantasyland - Wie Amerika durchdrehte) als eine der Triebkräfte einer amerikanischen Rechten, die seit den sechziger Jahren völlig gaga wurde und an die absurdesten Verschwörungstheorien glaubte. Intelligentere Autoren der Rechten machten sich zumindest Teile poststrukturalistischer Theorien, die nach und nach den Konnex zur Vernunft verloren, zu eigen. Sie teilten ganz gewiss nicht den Relativismus der Linken. Aber sie nutzten die Idee des Anything goes um ihren eigenen Ideen zur Geltung zu verhelfen. Andersen: "Konservative kritisierten zurecht, dass der Relativismus auf dem College-Campus nicht gestoppt wurde. Als er sich aber über ganz Amerika verbreitete, trug er dazu bei, auch die Herausbildung extremer christlicher und anderer Ideologien zu ermöglichen, inklusive Waffenhysterie, Black-Helicopter-Wahn, Klimaleugnung und anderes mehr."

Eine historische Erfahrung mag den Relativismus zusätzlich bestärkt haben: Der Mauerfall hatte gezeigt, dass ein real existierendes Gesellschaftsmodell einfach kollabieren kann. Die korrosiven postmodernen Diskurse hatten daran durchaus ihren Anteil. Zwar hatte Vaclav Havel die Realität der sozialistischen Länder immer als die Lüge bezeichnet, in der man nicht leben könne. Aber diese Lüge hatte es doch geschafft, über die Gesellschaften eines ganzen Blocks von Staaten jahrzehntelang faktische Macht auszuüben. Und so kam die Frage auf: Wenn die eine Realität - mit der die westliche Linke überdies immer eine "friedliche Koexistenz" gesucht hatte - fallen kann, warum nicht auch die andere?

Der Verlust des Kriteriums für Lüge und Wahrheit, der ein Hauptmerkmal populistischer Öffentlichkeiten ist, hat also eine längere Vorgeschichte, gerade in den totalitären Regimes der linken Geschichte. Die Fake News haben eine Vorform in der sozialistischen Kunst der Fotoretusche. Sie sind nicht erst ein Phänomen des Internetzeitalters. An die Stelle der Unterscheidung von Wahr und Falsch trat auch in der akademischen Linken des Westen schon seit den sechziger Jahren - unter anderem durch die Identifikation mit den Befreiungsbewegungen - die uralte konservative Idee der Kulturen und der Identitäten. Den gleichen Bannkreis des Respekts, den die Ideologen der akademischen Linken um Gendertheorien, Antirassismus, den "Dialog der Religionen" und den Postkolonialismus zogen, ziehen nun auch die Rechten um ihre Ideen etwa des Intelligent Design oder der Impfgegnerschaft. Die Inhalte sind verschieden, die Methode ist die gleiche.

Doch wie die Rechte von der Linken gelernt hat, so möchte Chantal Mouffe, dass auch die Linke von der Rechten lernt. Der Populismus, erklärt sie ganz ungeniert, kommt nicht ohne die Definition eines Feindes aus. "Es gibt keine von vornherein festgelegte politische Identität", sagte sie dem Figaro, "das 'wir' existierte in der Politik nicht, bevor es konstruiert wurde. Ein 'wir' definiert sich stets durch ein 'sie'. Diese 'Anderen' sind nicht unbedingt die Immigranten. Sie können auch als die Kräfte des Neoliberalismus definiert werden." Da versteht es sich von selbst, dass sich Mouffe im selben Atemzug von Jürgen Habermas' Idee einer in freiem Deliberieren sich verfertigenden Demokratie distanziert. Ihr Schema ist das von Freund und Feind, ihr Anti-Habermas ist der klassische Autor der extremen Rechten, Carl Schmitt. "Ich verlange von einem Theoretiker keine moralischen Qualitäten", erklärte sie der Zeitschrift Les Inrockuptibles, "sondern intellektuelle Kraft. Und Carl Schmitt hat nun einmal die beste Kritik der liberalen Theorie geliefert."

Die Vorstellung, der gegenwärtige Populismus sei ein gänzlich neues Phänomen und vor allem ein Phänomen des Internets und der sozialen Netze, ist eine bequeme Ausrede all jener, die von den Populisten selbst zum "System" und zum "Establishment" gerechnet werden. Da wird ganz einfach auf den jüngsten Gast im Raum gezeigt. Und übersehen, dass auch die alte Öffentlichkeit ein Hallraum der Lügen wie der Wahrheit sein konnte. Wer meint, das Netz fördere nur die Hysterisierung von Debatten, übersieht, dass das Netz auch Wikipedia hervorgebracht hat, eine formidable Wahrheitsmaschine, die bei allen Mängeln doch beweist, dass eine hierarchiefreie Organisation des Wissens möglich ist.

Nicht zu vergessen ist zugleich, dass die traditionellen Medien genau so begabt zur Aufstachelung sind wie die neuen. Hitler ist ohne Facebook an die Macht gekommen. Amerika ist das Land des Talk Radio und der Fox News. Noch der Brexit wurde ganz wesentlich von Boulevard-Zeitungen betrieben. Donald Trump ist durchs Fernsehen groß geworden. Und Silvio Berlusconi hat die gesamte Medienlandschaft Italiens umgebaut, lange bevor er beschloss, Politiker zu werden.

Auch die Vordenker des neuesten Populismus sind nicht von den neuen Medien geprägt - dafür sind sie in der Regel viel zu alt! Chantal Mouffe ist eine klassische Linke, die mit dem Marxismus nur gebrochen hat, um ein neues "wir" zu konstruieren. Jenseits des steril gewordenen Klassengegensatzes sucht sie neue Bündnisse, definiert neue Feinde und will "den Affekten einen neuen Raum geben". Die Linke, sagt sie, "kann sich der Demokratie nur bemächtigen, wenn sie einen eigenen Populismus entwickelt".

Populismus ist also nichts Neues. Neu ist dagegen, dass sich Populisten in zum Teil virtuoser Weise des Netzes bedienen. Bannon ist Blogger. Beppe Grillo und Mélenchon haben sich im Netz äußerst populäre Bastionen geschaffen und können ihre Botschaften jenseits der klassischen Medien verbreiten. Auch in Deutschland haben sich Webseiten wie Politically Incorrect, Ken FM des linken Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen oder die NachDenkSeiten als Plattformen linken oder rechten Populismus entwickelt.

Aber so aktiv sich diese Männer (Frauen kommen kaum vor) des neuen Mediums Internet bedienen - es fällt auf, dass die meisten Protagonisten des Populismus alt sind. Trump ist 71, Beppe Grillo 69, Jean-Luc Mélenchon 66, von Berlusconi zu schweigen. Auch in Mittel- und Osteuropa haben fast alle Hauptfiguren des Populismus - Viktor Orbán, Jaroslaw Kaczynski, Andrej Babiš - eine Vergangenheit, die weit in die Zeit vor den Mauerfall zurückreicht. Fast alle derzeit aufploppenden Volkstribunen blicken auf Jahrzehnte des politischen Kampfes zurück. Und nur einer von ihnen, Gianroberto Casaleggio, der inzwischen verstorbene theoretische Guru von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung, machte aus dem Internet auch eine Ideologie. Alle anderen gehen ganz funktional mit ihm um.

Das hohe Alter der Protagonisten, aber auch vieler Anhänger wird erstaunlich selten thematisiert. Meistens wird der Erfolg der populistischen Bewegungen damit erklärt, dass die Parteien der Mitte breite Bevölkerungsschichten vernachlässigten. So denkt auch Chantal Mouffe, die jener Partei die Schuld dafür zuschiebt, die für Extremisten seit eh und je die übliche Verdächtige ist: die Sozialdemokratie. Aber man muss sich nur die geifernden Pegida-Pensionäre und die Anhänger der Manif-pour-tous-Bewegung, die in Frankreich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe auf die Straße gehen, vergegenwärtigen, um zu der Einsicht zu kommen, dass es sich hierbei vor allem um eine Revolte der Alten handelt.

Sie zündeln am Bestehenden, weil sie nicht verkraften, dass ihnen die Teilhabe an der Zukunft verwehrt ist, eine Ungerechtigkeit, die durch keine soziale Wohltat zu beheben ist. Aber sie haben eine große Macht, denn sie sind viele, sie haben Zeit, und sie gehen häufiger zur Wahl als Jüngere, wie etwa das Brexit-Votum gezeigt hat. Es gehört zu den Paradoxien populistischer Revolten, dass es sich bei ihnen nicht immer, aber doch ziemlich oft um Revolten von Alten gegen Alte handelt.

Trotzdem wäre zu fragen, was die Mitte, die von allen Seiten drangsaliert wird wie ein Primus auf dem Pausenhof, zum gegenwärtigen Zustand der Debatte beigetragen hat. Hier hilft ein Blick auf Deutschland, das sich seiner Stabilität so rühmt und nicht wahrnehmen will, dass eben diese Stabilität eine der Ursachen des anschwellenden Bocksgesangs sein könnte. "In Deutschland haben wir eine Parteienlandschaft, die nach vielen guten Jahrzehnten des entspannten Wechselns zwischen Halbrechts und Halblinks nicht mehr der gesellschaftlichen Lage entspricht", schrieb Peter Unfried in der taz. Wie ist das zu erklären?

Statt es den Populisten gleichzutun und ebenfalls die Globalisierung, die Flüchtlingskrise, das Internet, das Finanzkapital, die Gottlosigkeit, den westlichen Hedonismus oder den "Neoliberalismus" als Ursache allen Übels zu bezeichnen, sollte die Mitte lieber auf sich selber blicken. Ja, es ist gerade die Stabilität, die Widerstandskraft der Strukturen gegen den Wandel, die die Probleme mit verursacht. Es gibt nicht nur ein Altern der Bevölkerung, es gibt auch ein Altern der Strukturen. Die bröckelnden Autobahnbrücken aus einer zuversichtlicheren Zeit sind dafür nur ein besonders augenfälliges Beispiel.

Die von Peter Unfried benannte Diskrepanz betrifft in Deutschland jedoch nicht nur die Parteien. Überall hat man den Eindruck, dass die Macht der Apparate in einem Missverhältnis zur Identifikation der Bürger mit ihnen steht. Ein Beispiel ist der in Deutschland exorbitante Einfluss der Kirchen. Obwohl ihnen kaum mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung angehört, schwimmen die Kirchen im Geld. Denn die Einnahmen durch die Kirchensteuer, die der Staat für sie einzieht, wachsen trotz der vielen Austritte stetig weiter, sind sie doch an die - dank der blendenden Konjunktur - steigenden Einkommen gebunden.

Ein ähnliches Missverhältnis besteht bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Sie bekommen acht Milliarden Euro im Jahr - genauso so viel wie sämtliche von Ländern und Gemeinden finanzierte Kulturinstitutionen. Aber das Durchschnittsalter des Publikums der Öffentlich-Rechtlichen liegt weit höher als der ohnehin schon recht hohe Bevölkerungsdurchschnitt. Obwohl Jugendliche das Fernsehen immer weniger nutzen, muss auch der 18-jährige Lehrling zahlen. Kann man ernsthaft behaupten, eine solche Institution repräsentiere die Bevölkerung?

Doch obwohl diese Strukturen offensichtlich nicht mehr passen, ist es zur Zeit kaum vorstellbar, dass sie verändert werden. Denn die großen Apparate sind ja zum Teil mit der Gesellschaft identisch. An ihnen hängen riesige Interessen und damit große Macht. Allein die Öffentlich-Rechtlichen haben 25.000 Festangestellte und eben so viele freie Mitarbeiter. Caritas und Diakonie, die christlichen Wohlfahrtsorganisationen - betrieben von den Kirchen, bezahlt von der Allgemeinheit, aber dennoch mit eigenen Arbeitsrecht ausgestattet - sind mit mehr als einer Million Beschäftigten die größten Arbeitgeber Deutschlands. Wie viele Menschen in Deutschland sind wohl nur deswegen in der Kirche, weil sie für eine ihrer Institutionen arbeiten?

Die Repräsentanten der Apparate reagieren, wie sie müssen: Sie rechtfertigen sich, teils mit guten Argumenten (never change a winning team), teils mit Arroganz.

Es geht nicht darum, die Institutionen der Mitte grundsätzlich in Frage zu stellen, aber sie sollten sich nicht mit der Gesellschaft verwechseln. Die Frage ist, wie präzise die Wahrnehmung aus dem Inneren der Festungen auf das Volk da draußen noch ist. Natürlich bilden diese Institutionen einen Großteil der Öffentlichkeit - genau das ist aber auch ein Teil des Problems: Keine "Hart aber fair"-Debatte über Sinn und Zweck der Öffentlich-Rechtlichen.

Woran liegt's? Am langen Frieden, wie vor 1914? Auch in anderen Ländern treiben die Populisten ihren Keil zwischen Institutionen und Gesellschaft. Teilweise haben sie die Institutionen schon ausgehebelt: In den USA konnte Donald Trump Präsident werden, obwohl Hillary Clinton eine beträchtliche Mehrheit von drei Millionen Stimmen hatte. Die Amerikaner haben Trump sozusagen gar nicht gewählt. Schuld ist ein Wahlsystem aus dem 19. Jahrhundert, das offenbar nicht reformierbar ist und das den Fly-Over-Staaten ein nicht zu rechtfertigendes Übergewicht gibt. Über den Riss zwischen Institutionen und Gesellschaft in Frankreich muss man kaum mehr reden: So übermächtig sind der Staatsapparat und die eine Hälfte der Bevölkerung, die an ihm hängt, während die andere Hälfte - die Jugendlichen in den Banlieues, die kleinen Unternehmer und die zornigen katholischen Provinzler - von der Pariser Elite gesnobbt wird. Von Emmanuel Macrons Antworten wird eine Menge abhängen.


Ein Populismus der Mitte?

Macron ist der interessante Fall eines Populisten der Mitte - eine Vokabel, die man beiseite wischen will, kaum hat sie sich aufgedrängt. Denn Populisten sind Kräfte der Zerstörung, sie sind durch ihren Hass auf die Mitte getrieben und haben noch nie irgendeine plausible Alternative formuliert. So einer ist Macron natürlich nicht, er betreibt kein Sündenbock-Politik. Aber einige Elemente des Populismus hat er adaptiert, etwa die Organisation seiner Partei als Bewegung, das "Ni-Ni" (weder links noch rechts), sein Verhältnis zu den Medien und vor allem - am bedenklichsten - den Narzissmus seiner Selbstinszenierungen. Und doch verkörpert er die Hoffnung, dass die Apparate die Kraft haben können, den Riss zu schließen.

Was heißt das alles für die Zukunft von Öffentlichkeit? Ihr wichtigstes Kriterium muss sein, dass sie zwischen Wahr und Falsch unterscheidet - nicht zwischen Freund und Feind. Streit muss zugelassen werden, mit Sprechverboten darf nicht hantiert werden. Die Mitte ist ein Grat, von dem man nach beiden Seiten abrutschen kann: in "rechten" und in "linken" Populismus. Dass sich mit dem Internet ein neuer Experimentier- und Hallraum für Öffentlichkeit öffnet, ist nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Es gilt, das Internet gegen übergriffige Plattformkonzerne wie Google und Facebook als einen solchen Raum der Öffentlichkeit zu verteidigen.

Thierry Chervel

Auszug aus:
"Gegenverkehr. Demokratische Öffentlichkeit neu denken", herausgegeben von Ralf Fücks und Thomas Schmid, 236 Seiten gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Tübingen 2018, ISBN 978-3-86351-467-9 (Bestellen bei buecher.de). Das Debattenbuch anlässlich des 70. Geburtstages von Winfried Kretschmann. Mit Beiträgen von Thierry Chervel, Gisela Erler, Gebhard Fürst, Robert Habeck, Jeanette Hofmann, Norbert Lammert, Sibylle Lewitscharoff, Willfried Maier, Angela Merkel, Armin Nassehi, Bernhard Pörksen, Tabea Rößner, Dieter Salomon, Erwin Teufel, Peter Unfried, Alexander Van der Bellen und Andreas Voßkuhle.