Sophie Calle

Das Adressbuch

Cover: Das Adressbuch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783518225103
Gebunden, 105 Seiten, 22,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Sophie Calle findet ein Adressbuch und kopiert die Seiten daraus, bevor sie es anonym an den Besitzer, einen gewissen Pierre D., zurückgibt. Dann beginnt sie, zu denen, die in dem Buch verzeichnet sind, Kontakt aufzunehmen, sie trifft sich mit D.s Familie, Freunden, Bekannten, Affären. Mit jeder Begegnung wird Pierre D. plastischer und zugleich undurchdringlicher, Calles Recherche verkompliziert sich zusehends, während sie versucht, die schiere Vielzahl von Details - scheinbar Triviales wie potentiell Aufschlussreiches - zu dem bündigen Porträt eines Unbekannten zu fügen. Und im Lauf ihrer Nachforschungen hat Sophie Calle auch die eigenen Motive, Obsessionen und Ängste zu hinterfragen. Sophie Calle hat diese Begegnungen mit den Menschen aus D.s Adressbuch in Text und Bild dokumentiert, 1983 erschienen diese Dokumentationen einen Monat lang als Serie in der französischen Tageszeitung Libération. Und lösten einen handfesten Skandal aus, der bis heute nachhallt. Was interessiert uns an anderen? Und was verbirgt sich hinter unserem Interesse? Charakterstudie, Bekenntnis, Essay, Konzeptkunst - Sophie Calle unternimmt eine voyeuristische Abenteuerreise durch das Adressbuch eines Fremden und erfindet eine Form, in der Leben und Kunst, Rolle und Identität, Vertrautes und Unbekanntes ineinander zu oszillieren beginnen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2020

Rezensentin Rose-Maria Gropp bewundert Sophie Calles Arbeit von 1983. Als Angriff auf das Subjekt versteht sie Calles' inszenierte "Übergriffigkeit", von der sie noch immer nicht mit Sicherheit sagen kann, dass es sich nicht um ein "abgekartetes Spiel" gehandelt hat, in das das vermeintliche Opfer Pierre Baudry eingeweiht war. Ob Calles' Kolumnen, das Dokument einer Observation, Kunst sind oder nicht? Für Gropp sprechen ihre literarische und fotografische Qualität und das "intellektuelle Konzept einer Dekonstruktion" jedenfalls dafür.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 08.01.2020

Rezensentin Eva Hepper liest fasziniert dieses "Adressbuch", mit dem Sophie Calle auf einen Schlag berühmt beziehungsweise berüchtigt wurde. Calle nutzte diesen angeblich spontanen Fund, um seinem Besitzer Pierre D. bei dessen im Adressbuch verzeichneten Freunden, Bekannten und Familienangehörigen hinterherzuforschen und dessen Leben - ohne dass D. davon wusste - in einer Kolumne bei Libération auszubreiten. Hepper fühlt sich noch heute beim Lesen der "geschliffen formulierten Texte als Voyeurin, ein Erlebnis, das sie sowohl reizvoll wie erschreckend findet und deshalb gerade als Kunstaktion so "bestechend".

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 06.01.2020

Die Veröffentlichung von Sophie Calles "Adressbuch" verursachte Rezensentin Katharina Grazin zufolge 1982 nicht nur einen Skandal, sondern stellte gleichzeitig spannende moralische Fragen an die Kunst: Calle, die das Adressbuch eines Mannes namens Pierre D. in Paris gefunden haben will, stürzte sich in eine umfangreiche Recherche und dokumentierte sämtliche Treffen mit darin aufgeführten Personen, die schließlich seriell in der Libération veröffentlicht wurden. Grazin stellt die Zufälligkeit der Entstehung von Calles Konzept in Frage - die Künstlerin gab später zu, in Pierre D. verliebt gewesen zu sein - und nennt die Veröffentlichung Calles eine "sublimierte Form von Stalking". Die Frage, ob eine erklärte Kunstabsicht auch verwerfliches oder strafbares Handeln legitimiere, stellt Grazin in den Raum, ebenso wie die Frage, warum D.s wütende Antwort auf diese Kunstaktion nicht ebenfalls veröffentlicht wurde.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 18.12.2019

Marie Luise Knott lernt aus der nun in Buchform veröffentlichten Zeitungsarbeit von Sophie Calle, dass das Problem des Datenmissbrauchs kein neues ist. Wie die Künstlerin sich in ihrer Arbeit von 1983 durch das Adressbuch eines Fremden "frisst" und sein Wissen in seine Welt eindringt, seine Freunde und Bekannten über ihn ausfragt, das berührt Knott mitunter in der Tat unangenehm. Die laut Rezensentin detektivisch arrangierten Gesprächsprotokolle machen die Leserin zur Komplizin der Künstlerin, zum "Mitvoyeur", so Knott. Das inzwischen verstorbene Opfer erhält im Buch keine Stimme, erklärt Knott, die Kunst triumphiert.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 26.11.2019

Im Jahr 1983 fand die französische Konzeptkünstlerin Sophie Calle ein Adressbuch in einem Pariser Bistro, kopierte es, gab es dem Besitzer, einem gewissen Pierre D. zurück, um danach alle im Buch enthaltenen Freunde, Verwandte, Bekannte und Affären von Pierre D. zu kontaktieren. Für die französische Tageszeitung Liberation verfasste sie in Folge 29 Kolumnen über all das, was sie über Pierre D. herausgefunden hatte - und das war nicht nur schmeichelhaft, wie Rezensent Alex Rühle zitiert: Eine "Wolke in Hosen" sei er, sagte eine Freundin, er leide unter Paranoia und Manien, deutete ein anderer Freund an. Pierre D. ging gegen Calle und die Zeitung vor, zu seinen Lebzeiten durften die Texte nicht mehr gedruckt werden. 14 Jahre nach seinem Tod liegen die Texte nun aber in "eleganter" Übersetzung von Sabine Ebitsch auf Deutsch vor, freut sich Rühle, der während der "ästhetisch aparten" Lektüre fast ein wenig wehmütig auf Zeiten zurückblickt, als die Verletzung von Privatsphäre noch einen Skandal auslöste.
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