Michail Prischwin

Michail Prischwin: Tagebücher, Band I

1917 bis 1920
Cover: Michail Prischwin: Tagebücher, Band I
Guggolz Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783945370230
Gebunden, 460 Seiten, 34,00 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben und kommentiert von Eveline Passet. Mit Nachworten von Eveline Passet und Michaiel Schischkin. Michail Prischwin (1873-1954) schrieb seine Tagebücher unter dem Sowjetregime im Verborgenen. Mit diesem heimlichen Schreiben wollte er sichergehen, dass er nicht in politische Schwierigkeiten geriet, doch es ging ihm ebenso sehr auch um psychischen Selbstschutz: Die Tagebücher sind ein Versuch, den eigenen weltwahrnehmenden Blick, das eigene Fühlen und Denken und die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele unterlagen aus Angst, aus Glaube oder aus mangelnder Kraft, in Diskrepanz zur Umgebung zu leben.
Prischwins Tagebücher bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten wie einfachen Menschen, Betrachtungen zur Literatur und Philosophie, Träumen, Naturschilderungen, Skizzen zu literarischen Arbeiten und vielem mehr. Aber vor allem verzeichnen sie kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im einzelnen Menschen und in der Sprache. In den Tagebüchern ist "Leben gesammelt" wie in Victor Klemperers Tagebüchern, mit denen sie manches gemeinsam haben.
Eveline Passet stellt aus 18 russischen Bänden mit 13.000 Seiten eine vierbändige Auswahl zusammen, die sie übersetzt und kommentiert. Der erste Band reicht von 1917, dem Jahr der Februar- und der Oktoberrevolution, bis 1920, jenem Bürgerkriegsjahr, das den Sieg der Bolschewiki besiegelte. Darin zeigt sich ein Mensch, der das, was um ihn herum passiert, mitdenkt und zu verstehen versucht. Er leidet an den Zeiten und schafft es doch, selbst in Bedrängnis, sich zur Welt - auch der jenseits des Politischen gelegenen - mit aller Wahrnehmungskraft zu öffnen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.01.2020

Rezensent Ulrich M. Schmid freut sich über Evelin Passets Auswahl aus dem Tagebuchwerk von Michail Prischwin. Kennenzulernen ist der Autor laut Schmid hier weniger als kommunistischer Empfindsamer, wie in seinen Kurzgeschichten, sondern mehr als aufmerksamer Beobachter und scharfer Analytiker der gesellschaftlichen Gegenwart, der Revolution von 1917, wie Prischwin sie in Petrograd und als Gutsbesitzer selbst erlebte. Prischwins Beobachtungsgabe wird für Schmid nur durch die selbstkritische Betrachtung seiner eigenen ideologischen Entwicklung noch überflügelt. Dem Erlebnis von Hunger und Kälte in den steht Prischwins Durchhaltevermögen und seine Schaffenskraft gegenüber, die der Rezensent bewundert. Für ihn ein weltgeschichtliches Zeitzeugnis ersten Ranges.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 16.01.2020

Sehr angetan ist Rezensent Stephan Wackwitz von diesem ersten Band der Tagebücher Prischwins, der jahrzehntelang als anerkannter Naturschriftsteller in der russischen Literatur wahrgenommen wurde. Der Band sei nun eine gute "Einführung" in das geheime Werk des hierzulange nahezu unbekannten Schriftstellers. Wackwitz zitiert ausführlich aus diesem Tagebuchband, der sich mit den grauenhaften Geschehnissen auf dem Lande während der Russischen Revolution beschäftigt. Und er zieht eine Parallele zum "nature writing" des Deutschen Wilhelm Lehmann, der sich während der NS-Zeit in Eckernförde als Lehrer ebenso vor den Herrschenden wegduckte wie Prischwin, der ausgebildete Agronom, es während der bolschewistischen Gewaltherrschaft - und am Ende sein Leben lang tat. Dabei richteten sich beide, so Wackwitz, sprachlich und geistig an der Natur und ihrer Beobachtung auf. Prischwin zeigt sich in seinen Aufzeichnungen zusätzlich als Chronist des Risses zwischen hohler Propaganda und wirklichem Mord. Dass hier ein weiteres Beispiel der "osteuropäischen Moderne" vom Guggolz Verlag vorgelegt wird, erwähnt der hingerissene Kritiker besonders lobend.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.01.2020

Was für ein Fund!, jubelt Rezensent Alexander Cammann angesichts der auf Deutsch erscheinenden Auswahl des reichen Tagebuchwerks von Michail Prischwin. Im Kniefall vor dem Verlag und der Übersetzerin Eveline Passet spricht Cammann von einem "russischen Klemperer", einer "Selbstbefragung des Intellektuellen in der Dikatur", die die Mechanismen der Sowjetherrschaft, ihre Propaganda, die Schauprozesse und den Hitler-Stalin-Pakt hellsichtig, anschaulich und gnadenlos auseinandernimmt. Der vorliegende erste Band der Auswahl besticht für Cammann durch das Suchende und Staunende angesichts der Epoche der Grausamkeit, die der Autor, wie sich laut Rezensent nun erkennen lässt, nur scheinbar in zurückgezogener Angepasstheit erlebte. Die Maske fällt, Prischwins innere Unabhängigkeit wird sichtbar, und der Leser kann nachlesen, wie die Revolution die Menschen verändert, erläutert Cammann. Prischwins Anekdoten und Reflexionen überzeugen ihn nicht zuletzt durch ihr hohes literarisches Niveau, durch Witz und heiligen Ernst.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.01.2020

Selbstredend mussten die Tagebücher dieses brillanten, aber nicht minder kritischen Intellektuellen in der Sowjetunion unter Verschluss gehalten werden, bemerkt Rezensent Andreas Platthaus, der sich umso mehr freut, dass die umfangreichen Schriften jetzt in einer gut ausgesuchten Auswahl auf Deutsch erscheinen. Den ersten Band empfiehlt Platthaus dringend jedem, der die bewegte Zeit der Revolutionen, des Bürgerkriegs und des aufkeimenden kommunistischen Regimes mit den Augen eines scharfsinnigen und virtuosen Schriftstellers betrachten möchte: Weil in den Jahren 1917 bis 1920 die literarische Produktion immer weiter eingeschränkt wurde, rettete Prischwin sich mit seinen tiefsinnigen Notaten, Allegorien, Aphorismen und Reportagen selbst vor der geistigen Verarmung, erklärt der beeindruckte Kritiker.
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