Karl Heinz Bohrer

Ekstasen der Zeit

Augenblick, Gegenwart, Erinnerung
Cover: Ekstasen der Zeit
Carl Hanser Verlag, München 2003
ISBN 9783446203204
Broschiert, 136 Seiten, 14,90 EUR

Klappentext

In seinen "Gadamer-Vorlesungen" in Heidelberg hat Karl Heinz Bohrer in einer weiten Perspektive unser Verhältnis zur Zeit und zur Geschichte analysiert. Seine Überlegungen zur Zukunft der Geisteswissenschaften, zur historischen und poetischen Trauer und zur Intensität der Jetzt-Erfahrung berühren zentrale Fragen der aktuellen Auseinandersetzung: bundesrepublikanisches Bewusstsein, kollektives Gedächtnis, Nation und Geschichte. Provakante Thesen, die ein nachhaltiges Echo gefunden haben.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 07.07.2003

Durchaus anerkennend nimmt Martin Bauer die Essays auf, in denen sich Karl Heinz Bohrer anschickt, eine "Kritik der gegenästhetischen Vernunft" zu entwerfen. Es gelte ihm, so der Rezensent in seiner recht akademischen Kritik, "die literarische Subjektivität vor ihrer Erlösung durch die verwandelnde Macht des Begriffes in Schutz zu nehmen". Dabei treibe Bohrer keine Zärtlichkeit für sensible Dichterseelen, sondern ein "akzentuiertes Wahrheitspathos", wie Bauer glaubt. Durchaus subtil findet unser Rezensent Bohrers Polemik, doch mag er den "himmelstürzenden Konsequenzen" nicht beipflichten, die sich aus der literarischen Darstellung absoluter Gegenwartslosigkeit ziehen ließen.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.05.2003

"Nicht einfach zu verstehen" sind nach Ansicht Ludger Heidbrinks die Ausführungen Karl Heinz Bohrers zur "poetischen Trauer" und zur "epiphanischen Struktur" des ästhetischen Augenblicks. Nicht einfach zu verstehen ist allerdings auch Heidbrinks Besprechung des Bandes, etwa wenn er feststellt, die Paradoxie von Bohrers poetischem Nihilismus liege darin, dass er die Idee der eschatologischen Erwartung brauche, um sie mit der Geste des radikalen Skeptikers durchzustreichen. Im Mittelpunkt von Bohrers Überlegungen steht indes die Erfahrung der Zeit, die durch ihr permanente Vergehen Sinnzusammenhänge auflöst: die "Intensität der Jetzt-Erfahrung", die Bohrer gegen den intellektuellen Alltagsverstand anführe, erklärt Heidbrink, trage Züge einer mystischen Offenbarung, die uns mit der Unerlösbarkeit geschichtlichen Daseins konfrontiere und in einen ekstatischen Ereigniszusammenhang einrücken lasse, der sich in der "heißen Zone inkompatibler Subjektivität" entzünde. Bohrer betreibe so etwas wie "historische Thanatologie": Vergangenheit und Zukunft seien Teil unseres Lebens, weil wir in jeder Minute sterben und als Sterbende im Jetzt über es hinaus seien. "Im Schwinden der Zeit", schließt Heidbrink, "so die apokryphe Botschaft, erwacht die Erinnerung an sie."

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.04.2003

Der Philosoph Martin Seel empfiehlt diese Sammlung von Essays und Vorträgen als eine gute Einführung in die zentralen Motive, um die Karl Heinz Bohrers Denken kreist. Dessen Leidenschaft, so Seel, gilt vor allem dem Augenblick, denn in der "Erfahrung des Plötzlichen" erkenne Bohrer einen Prüfstein persönlicher Freiheit und politischer Souveränität. Dafür, erklärt Seel, nimmt Bohrer einige Korrekturen an Heideggers innerer Verbindung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vor und setzt anstelle des Seins das Subjekt wieder ins Recht. Und mit Hilfe von Baudelaire, Virginia Woolf und Cioran entwickele Bohrer so etwas wie einen "poetischen Nihilismus", der mit Heideggers, aber auch Adornos Beschönigungen des Todes und des Lebens aufräumen möchte. Martin Seel findet dies insgesamt ziemlich überzeugend, bedauert aber, dass Bohrer nicht alle Gedanken konsequent zu Ende gedacht hat, so dass einige Widersprüche bleiben. Problematisch findet der Rezensent allein Bohrers weithin beachtete Gadamer-Vorlesung aus dem Jahr 2001, in der er der deutschen Intelligenz erhebliche Defizite vorwarf, da sie derart von ihrer "Naherinnerung" an den Nationalsozialismus und den Holocaust traumatisiert sei, dass sie ihre Fähigkeit zur Fernerinnerung verloren habe.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.03.2003

"Neues kann man nicht lesen." In diesem Satz Friedrich Wilhelm Grafs ist die wichtigste Kritik wohl zusammengefasst, die er in seiner Besprechung an dem neuen Buch des "kämpferischen Geistesaristokraten" und "einsamen Ritters der langen Erinnerung" Bohrer übt. Wer Bohrers Arbeiten über "Das absolute Präsens", "Theorie der Trauer" und "Ästhetische Negativität" kenne, erleide hier nun "den Temporalmodus einer Langeweile, die sich bei Wiederlektüre von Altbekanntem" einstelle. Wieder empfehle Bohrer sich als "Therapeut", der die Deutschen durch "Arbeit am Begriff der historischen Zeit" von "kollektiver Amnesie befreit". Und wieder auch führe Bohrer, in "immer neuen Scharmützeln", seinen "Stellungskrieg" gegen Jürgen Habermas, Hans-Ulrich-Wehler, Hans Mommsen, M. Rainer Lepsius sowie alle Kulturwissenschaftler fort, die mit ihrem "Gedächtnis"-Kult, die deutsche Geschichte auf den Nationalsozialismus reduziert hätten, wie Graf Bohrer paraphrasiert. Die Möglichkeit eines anderen Verhältnisses zur Geschichte destilliert Bohrer diesmal aus Proust, Joyce, Basani und Virginia Woolf.
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